FRANKFURT AM MAIN. Die Bildungsstätte Anne Frank schlägt angesichts einer Flut von antisemitischen und rassistischen Inhalten, die über die Plattform TikTok ungebremst auf Kinder und Jugendliche einströmt, Alarm. „Lehrkräfte berichten, wie Schüler*innen plötzlich mit terrorverharmlosenden, israelfeindlichen, antisemitischen und unverrückbaren Positionen zum Nahostkonflikt in die Schule kommen – als hätten sie sich über Nacht radikalisiert. Dies hängt unserer Beobachtung zufolge stark mit dem Social Media-Konsum der jungen Generation zusammen – besonders die Videoplattform TikTok trägt zu einer Speed-Radikalisierung junger Menschen bei“, so heißt es.
„Seit dem Terrorangriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 ist die Welt nicht mehr wie zuvor. In unserer Bildungsarbeit sehen wir tagtäglich, wie in allen Teilen der Gesellschaft Israelhass und Hetze gegen Jüdinnen und Juden verbreitet werden. Mit wachsender Sorge beobachten wir die Verbreitung des Problems insbesondere unter jungen Menschen“, sagt Deborah Schnabel, Direktorin der Bildungsstätte Anne Frank. Verteilstation für Desinformation und Hetze sei vor allem die Plattform TikTok. Schnabel: „Hier tummeln sich Hassprediger*innen unterschiedlicher Couleur – von extremen Rechten bis Islamisten – und verbreiten Antisemitismus und Rassismus unter sehr jungen Menschen. Kein anderes Soziales Medium versorgt eine so vulnerable Zielgruppe mit derart verstörendem Content – weitgehend ohne Aufsicht.“
Zum internationalen Safer Internet Day am 6. Februar hat die Bildungsstätte Anne Frank ihren Report „Die TikTok-Intifada – Der 7. Oktober & die Folgen im Netz“ veröffentlich. Die Autorinnen Deborah Schnabel und Eva Berendsen analysieren darin das seit dem Terrorangriff der Hamas auf Israel besorgniserregend hohe Ausmaß an (antisemitischer) Hetze und Desinformation auf der Kurzvideoplattform, die zum Leitmedium von Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen geworden ist. Der Report schließt mit Best Practice-Beispielen aus der politischen Bildungsarbeit und dem Appell an Entscheider*innen aus Politik, Medien und gesellschaftlich relevanten Institutionen, TikTok endlich als Plattform der politischen Meinungsbildung ernst zu nehmen.
Um das Problem sichtbar und anschaulich zu machen, analysiert der Report aktuelle Beispiele aus den Sozialen Medien mit einem Fokus auf TikTok. „In den Wochen nach dem 7. Oktober sind Beiträge viral gegangen, in denen in Zweifel gezogen wurde, ob das Hamas-Massaker auf das Supernova-Festival stattgefunden hat oder in denen die gesamten Terrorakte gegen die Zivilbevölkerung als ‚Inside-Job‘ der israelischen Regierung dargestellt wurden. KI-generierte Bilder vermeintlich getöteter palästinensischer Kinder werden millionenfach geteilt, um das antisemitische Motiv des ‚Kindermörders Israel‘ zu bedienen.
„Die Politik muss deshalb dringend die Tech-Konzerne in die Pflicht nehmen, wirkungsvoll und konsequent gegen antisemitische und rassistische Hatespeech, Desinformation und Verschwörungserzählungen vorzugehen“
Hinzu kommt eine Flut an offen die Shoah relativierenden Memes und Clips, die Israel mit dem NS-Regime gleichsetzen oder Gaza mit Auschwitz“, berichtet Eva Berendsen, Leitung Kommunikation/Politische Bildung im Netz, von dem analysierten Social-Media-Material. „Reichweitenstarke Influencer*innen, die sonst Lifestyle-Inhalte oder Schminktipps teilen, verbreiten plötzlich einseitig verkürzte und klar tendenziöse Darstellungen des Nahostkonflikts und emotionalisieren so ihre überwiegend sehr junge und wenig vorinformierte Follower*innenschaft. Es ist ein Krieg der Bilder und Behauptungen, in dem sich Einzelpersonen kaum zurechtfinden können. Zwischen Fake News und Desinformationen entfalten antisemitische Verschwörungstheorien und rassistische Narrative ihre Wirkung – und tragen zur Radikalisierung ihrer Konsument*innen bei.“
Der Algorithmus der Plattformen belohne das Nutzungsverhalten, so Berendsen, indem er immer weiteren tendenziösen Content in den Feed spiele. „Die Politik muss deshalb dringend die Tech-Konzerne in die Pflicht nehmen, wirkungsvoll und konsequent gegen antisemitische und rassistische Hatespeech, Desinformation und Verschwörungserzählungen vorzugehen“, betont Berendsen. Daneben müssten aber auch die User*innen und Content-Creator*innen selbst gestärkt und begleitet werden durch einen massiven Ausbau von digital Streetwork: „Sozialarbeit und Streetwork finden nicht mehr nur auf der Straße statt, sondern auch im Netz. TikTok-Kommentarbereiche ersetzen vielfach den Jugendclub, öffentlich ausgetragene Auseinandersetzungen politisieren Jugendliche schneller und emotionaler als die klassische Radikalisierungsversuche auf dem Pausenhof. Politik und Zivilgesellschaft müssen in diesen Bereich massiv investieren –Jugendsozialarbeiter*innen müssen auf TikTok eine mindestens gleichrangige Präsenz wie im realen Leben aufbauen, müssen ansprechbar sein, aber auch aufsuchend tätig werden.“
Die Folgen dessen, das junge Menschen dem toxischen Online-Content unbegleitet ausgesetzt sind, illustrieren Aussagen von Schüler*innen zum Nahostkonflikt, von denen Lehrkräfte in Fortbildungen der Bildungsstätte Anne Frank berichtet haben und die beispielhaft mit in den Report eingeflossen sind. „Die Israelis töten die Kinder in Gaza. Sie halten die Palästinenser gefangen und haben ihnen das Land geklaut.“ – Diese Haltung äußert ein Drittklässler an einer Frankfurter Schule. Der Schüler fragt sich außerdem: „Was haben Juden eigentlich gemacht, dass alle sie nicht mögen?“ Und eine 14-Jährige meint: „Es ist ok israelische Kinder zu töten, was meinen Sie, wie viele palästinensische Kinder schon gestorben sind?!“
Drastische Erfahrungen wie diese aus der Bildungsarbeit mit Schulen zeigen: „Medien- und Demokratiebildung müssen zwingend zusammen gedacht werden. Und der Bildungsauftrag richtet sich nicht nur an Schulen, sondern an die gesamte Gesellschaft: Wir adressieren damit ausdrücklich auch Entscheider*innen aus Politik, Medien und gesellschaftlich relevanten Institutionen, TikTok endlich als Plattform der politischen Meinungsbildung ernst zu nehmen. Es bedarf einer gesamtgesellschaftlichen Kraftanstrengung, will die Demokratie ihre Grundlagen nicht verspielen. Wir müssen konsequent in digitale Bildung investieren, soll die politische Information im Netz nicht komplett den Demagog*innen überlassen werden“, so Deborah Schnabel abschließend. News4teachers
Der gesamte digitale Report kann kostenfrei heruntergeladen werden auf der Website der Bildungsstätte Anne Frank – hier.
Der Safer Internet Day (Tag für mehr Internetsicherheit) ist ein internationaler Aktionstag, der seit 2008 jährlich im Februar (am zweiten Tag der zweiten Wochen des zweiten Monats) stattfindet. Unter dem Motto „together for a better Internet“ setzen sich Institutionen und Einzelpersonen auf der ganzen Welt dafür ein, die Sicherheit und das digitale Miteinander im Internet zu verbessern und insbesondere Kinder und Jugendliche im verantwortungsvollen und selbstbestimmten Umgang mit digitalen Medien zu unterstützen.
Der Aktionstag geht zurück auf das 1999 von der Europäischen Kommission gestartete Safer Internet Programm und wird weltweit vom europäischen Insafe-Netzwerk im Rahmen des Digital-Programms der Europäischen Kommission organisiert. In Deutschland koordiniert die bei der Landesmedienanstalt Rheinland-Pfalz angesiedelte Initiative Klicksafe das Aktionstagsprogramm. Weitere Informationen finden sich auf der deutschsprachigen Seite des Safer Internet Day unter www.klicksafe.de/sid und auf der internationalen Seite unter www.saferinternetday.org/