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Screening vor der Einschulung im Modellversuch: „Können damit erkennen, ob die Grundvoraussetzungen fürs Lernen gegeben sind“

HAGEN. Mehr als ein Drittel der Neuntklässlerinnen und Neuntklässler in Deutschland (34,4 Prozent) erreichen im Bereich „Zuhören“ den Mindeststandard nicht, wie die jüngste IQB-Studie ergab. Heißt: Grundfertigkeiten (wie die, aus gehörten Texten Informationen zu entnehmen) können bei immer weniger Schülerinnen und Schülern vorausgesetzt werden. Die Politik will mit einer besseren Frühförderung in Kitas und Grundschulen gegensteuern – die Stadt Hagen hat nun eigens einen bundesweit einmaligen Modellversuch gestartet, um individuelle Förderbedarfe frühzeitig zu erkennen (News4teachers berichtete). Dabei kommen zwei Screeningverfahren des Unternehmens LOGmedia aus dem westfälischen Fröndenberg zum Einsatz. Die Bildungsforscherin Prof. Dr. Monika Kil hat die Instrumente namens piccoLOG (für Kinder im Vorschulalter) und eduLOG (zum Schuleintritt) geprüft – wir sprachen mit ihr über ihre Erkenntnisse.

„Wir stellen mit Sorge fest, dass sich Figur-Grund-Leistungen bei den Einschulungsjahrgängen kontinuierlich verschlechtern.“ (Symbolfoto) Foto: Shutterstock

News4teachers: Frau Professorin Kil, was tun Sie an Ihrer Hochschule konkret? In welchem Forschungsbereich sind Sie tätig und wie arbeiten Sie in diesem Kontext mit den Screeningverfahren, die nun in Hagen zum Einsatz kommen?

Kil: Die Universität für Weiterbildung in Krems ist eine der führenden Volluniversitäten für wissenschaftliche Weiterbildung in Europa. Unser Forschungszentrum, genannt Weiterbildungsforschung und Bildungstechnologien, befasst sich mit den Fragen, warum Menschen lernen oder auch nicht lernen und inwiefern sie an Weiterbildung beteiligt sind. Dabei verwenden wir qualitative und quantitative Forschungsmethoden, wie die LOGmedia-Abklärungsverfahren eduLOG und piccoLOG, um tiefgehende Einblicke zu gewinnen. Unter anderem untersuchen wir, wie Menschen, die eher schlechte Prognosen haben, dennoch erfolgreich Bildungsabschlüsse erreichen können. In der Weiterbildungsforschung haben wir erkannt, dass das Lernen Sprünge machen kann, wenn der Kontakt zum Bildungssystem (wieder-)hergestellt wird und die Interessen und das Potenzial einer Person erkannt werden. Weiterbildungsforschung ist Grundlagenforschung und eine Betrachtung des Lernens entlang der Lebensspanne.

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“Leider schaut man dann in der Regel zu spät darauf, und versucht, diese Kinder irgendwie durchzureichen und normal zu beschulen”

News4teachers: Manchen Kindern fehlen allerdings die Grundlagen für das Lernen…

Kil: Richtig. Es können beispielsweise Defizite vorliegen, die durch Sozialisation entstehen – oder unerkannte Hirnschädigungen und ähnliches. Manche Degenerationen der Hirnstrukturen, also auch die für die Lernvoraussetzungen zuständigen, können bereits in der Schwangerschaft entstehen, oder später aufgrund von Unfällen, Flucht- oder Krisenerfahrungen etc. Manche Kinder kommen mit Drogen in Kontakt, andere driften über lange Zeit in die Welt der Computerspiele ab und haben deswegen ungünstige schulische Voraussetzungen – zum Teil Ausfälle. Leider schaut man dann in der Regel zu spät darauf, und versucht, diese Kinder irgendwie durchzureichen und normal zu beschulen. Dabei müssten wir immer wieder mittels Verfahren wie piccoLOG und eduLOG darauf schauen, ob eigentlich die Grundvoraussetzung zum Lernen von früher Kindheit an wirklich sicher angelegt sind bzw. wie sich diese entwickeln. Dazu gehören z. B. Fähigkeiten wie das Figur-Grund-Hören, Figur-Grund-Sehen, Raumlagewahrnehmung, Visuomotrik etc. Diese sogenannten „basalen Kompetenzen“ müssen nun mal für eine gelingende Lehrer- und Gruppeninteraktion im Klassenzimmer als Grundlage für das gemeinsame Lernen gegeben sein.

News4teachers: Was müssen die Kinder denn können, um in einem normalen Schulsetting bestehen zu können?

Kil: Das sind zum einen die motorischen Fähigkeiten, die eine sehr große Rolle spielen, wie zum Beispiel Hüpfen, Springen, Feinmotorik und so weiter. Man geht davon aus, dass Kinder selbstverständlich einen Stift halten können … es gibt aber zunehmend junge Menschen, die selbst mit 12 Jahren feinmotorisch noch Vieles aufzuholen haben. Wir haben jetzt den vierten Einschulungsjahrgang seit der Covid-Pandemie. Viele Kinder sind dadurch noch bewegungsärmer als sowieso schon aufgewachsen … und das hat natürlich Auswirkungen.

Zum anderen sind das Sehen, das Hören, das Verständnis für Mengen, das Sprachverständnis auf Wort- und Satzebene und dergleichen elementar. Kognitive Beeinträchtigungen, die Sprache erschweren, müssen festgestellt werden. Das Hören und das Gehörte zu reproduzieren, ist die Grundvoraussetzung, um in einer Kita oder einer Schule, wo ja auch oft Lärm herrscht, zu bestehen. Deswegen ist die flächendeckende Diagnostik in diesen Bereichen so wichtig.

Dies alles können die LOGmedia-Verfahren ohne den Einsatz von zusätzlichem Fachpersonal leisten. Darüber hinaus können hier sprachliche Potentiale und Defizite sogar in den jeweiligen Muttersprachen festgestellt werden.

“Die unkontrollierte Nutzung von Tablets und Handys hat quasi eine neue Wegwisch-Generation herangebildet”

News4teachers: Könnten Sie kurz erklären, was unter Figur-Grund-Hören zu verstehen ist? 

Kil: Dabei geht es darum, dass ein Kind akustische Reize, zum Beispiel Sprachgemenge, Lärm von anderen Kindern und so weiter, als Nebengeräusche in den Hintergrund schieben kann, um sich auf z.B. wichtiges zu fokussieren. Nur so können Nutzsignale, – zum Beispiel etwas, was die Erzieherin oder die Lehrerin sagt – von Störsignalen unterschieden und getrennt werden. U.a. Konzentrationsleistungen basieren auf dieser Fähigkeit.

Entlang der Lebensspanne ist dies eine durchgehend in den Blick zu nehmende Fähigkeit, da Hörstörungen auch bei Demenzentwicklung im mittleren Erwachsenenalter eine signifikante Rolle spielen. Hörverlust kann ganze Hirnareale brachlegen und sozusagen verklumpen lassen. Man kann sich das vorstellen wie Autobahnkreuze, die im Nebel verschwinden und zielführende Abzweigungen so nicht mehr genommen werden können.

News4teachers: Betrifft das denn viele Kinder?

Kil: Wir stellen mit Sorge fest, dass sich Figur-Grund-Leistungen bei den Einschulungsjahrgängen kontinuierlich verschlechtern. Die unkontrollierte Nutzung von Tablets und Handys hat quasi eine neue Wegwisch-Generation herangebildet. Können Inhalte nicht innerhalb kürzester Zeit von den Kindern erfasst werden, so werden diese einfach weggewischt. Eine längere Auseinandersetzung mit Dingen, wie zum Beispiel dem Lösen eines Puzzlespiels, scheint aus der Mode gekommen zu sein mit dem Endresultat, dass die Fähigkeiten zur Fokussierung beziehungsweise Konzentration nur noch schwach ausgebildet sind. Das Grundschulpersonal beklagt in Folge immer unaufmerksamere Klassenverbände.

Die Erfahrungen, die wir mit piccoLOG und eduLOG gesammelt haben, machen klar: Eigentlich müssten wir die gesamten Lehrwerke der Entwicklungspsychologie neu schreiben. Denn durch Aufwachsen in der digitalisierten Welt, hat sich in den letzten 10 bis 15 Jahren viel verändert. Das heißt aber nicht, dass alles negativ ist. Kognitiv passiert bei vielen kleinen Kindern heutzutage sehr viel mehr als früher und Nervenzellen der Hirnrinde können so besser wachsen und die Effizienz des Gehirns steigern. Da ist auch viel Potential.

News4teachers: Mit Blick auf Kinder mit Migrationshintergrund erscheint es schwierig, den Entwicklungsstand zu erfassen, wenn Kinder überhaupt kein Deutsch sprechen.

Kil: War es bisher auch. Wir wollen doch herausfinden, ob das Kind alle Lernvoraussetzungen mitbringt oder eben nicht. Um zu unterscheiden, ob das Kind nur ein Problem mit dem Erwerb der deutschen Sprache hat oder bereits in seiner Muttersprache, bieten die LOGmedia-Verfahren die Option, die herkunftssprachlichen Fähigkeiten zu betrachten –  allerdings nur dann, wenn sich zuvor herausgestellt hat, dass die Lernvoraussetzungen auf Deutsch für die Einschulung nicht ausreichend sind. Dies gefällt mir besonders gut, da es ermöglicht, ein Problem eben nur dann weitergehend diagnostisch und therapeutisch anzugehen, wenn es tatsächlich auch eines ist. Es geht hier nicht um das bloße Herausarbeiten von Defiziten, sondern eben auch um das Bergen von Potentialen. Beschämung und Abwertung werden innerhalb der Verfahren grundsätzlich vermieden. Die Chancengleichheit ist immer gewährleistet.

Stellt sich heraus, dass das Kind tatsächlich bereits in der Herkunftssprache eine Problematik in der Sprachentwicklung hat, dann ist Gefahr in Verzug. Denn dann ist diesem Kind nicht mit Deutschförderunterricht geholfen. Die Echtzeitauswertungen innerhalb von piccoLOG und eduLOG geben exakt Aufschluss darüber, welche weiterführenden Maßnahmen jetzt zu ergreifen sind.

News4teachers: Wie testen Sie konkret das Instrumentarium?

Kil: Wir haben diese Software-Werkzeuge evaluiert, begleiten den praktischen Einsatz im Rahmen von Pilotprojekten in Schulen, KiTAs etc. und beraten Einrichtungen. Als empirische Bildungsforscherin geht es mir immer darum, innovative Instrumente auch in der Praxis auszuprobieren.

Ich bin schrittweise vorgegangen und habe zunächst ein sogenanntes Funktionsaudit durchgeführt, bei dem ich mir die Instrumente selbst erarbeitet und sie gewissermaßen in ihre Einzelteile zerlegt habe. Dann habe ich andere Personenkreise diese eigenständig ausprobieren lassen und im Anschluss entsprechende Befragungen durchgeführt.

In der empirischen Bildungsforschung untersuchen wir, ob ein Tool auf der mechanistischen, der pädagogisch-psychologischen, der organisatorischen und der systemischen Ebene funktioniert. Ein solches Audit ist wichtig, denn wir tragen ja Verantwortung gegenüber Eltern, Kindern und dem pädagogischen Personal. Das Ergebnis fiel äußerst positiv aus: Die LOGmedia-Verfahrensweisen sind erwiesenermaßen hilfreich und haben keinerlei Nebenwirkungen. Das bedeutet, wenn wir diese bei Kindern anwenden, kann nichts schiefgehen. Es kann nur besser werden. Und es wird dadurch besser! Es gab keine Verweigerung bei den Kindern oder sonstiges Negatives … auch nicht bei den Eltern.

“Es hat sich erfreulicherweise herausgestellt, dass die Schulleitung durch den Einsatz in Bezug auf das Bildungsmanagement entlastet wird und sich die Interaktion zwischen Lehrkräften und Eltern verbessert”

News4teachers: Das heißt, niemand muss fürchten, dass es Fehldiagnosen gibt?

Kil: Richtig. Um genau das auszuschließen zu können, war es wichtig, dass die Verfahren nicht nur theoretisch evaluiert, sondern eben in der Praxis erprobt wurden. Dazu haben wir eduLOG unter anderem mit Einschulungsjahrgängen während der Covid-Pandemie getestet, als die üblichen Einschulungsuntersuchungen weggefallen waren. Expertenteams unterschiedlicher Fachrichtungen haben die Daten dann später aus medizinischer, logopädischer, soziologischer, pädagogischer etc. Sicht gegengeprüft.

Es hat sich erfreulicherweise dabei ebenfalls herausgestellt, dass die Schulleitung durch den Einsatz in Bezug auf das Bildungsmanagement entlastet wird und sich die Interaktion zwischen Lehrkräften und Eltern verbessert, dadurch, dass eduLOG konkrete Unterstützungsmöglichkeiten aufzeigt, aber auch Hinweise auf mögliche Erkrankungen und Empfehlungen zur Weiterdiagnostik automatisiert ausgibt.

LOGmedia-Verfahren ermöglichen, die Kinder zu jeder Zeit optimal zu unterstützen und gewährleisten, diese maximal früh „anzugucken“, um rechtzeitig agieren zu können.

Die Implementations-Projekte begleiten wir weiterhin, um zu sehen, wie sich die teilnehmenden Kinder entwickelt haben und was auf den Ebenen Bildungsorganisation und Quartiersarbeit passiert ist. Ab April werden wir in KiTas frühzeitig mittels piccoLOG den Transfer zur Grundschule hin systematisch etablieren und auch die LOGmedia-Förder-Apps erproben.

News4teachers: Kennen Sie irgendein anderes Screeningverfahren, das leistet, was eduLOG und piccoLOG leisten?

Kil: Nein. Ich kenne gute Instrumente zur Kompetenzerfassung und -entwicklung. Aber dieser erste, grundlegende Blick auf die Voraussetzungen für das Lernen, der fällt in der Regel eher lückenhaft aus. Auch der Bezug zu den Herkunftssprachen fehlt bei anderen Verfahren in der von LOGmedia bereitgestellten Dimension gänzlich.

Zudem überfordern viele Instrumente das anwendende Personal, deshalb war für mich ein wichtiges Beurteilungskriterium,  dass die Anwendbarkeit in der täglichen Praxis auch wirklich gegeben ist. Denn es ist wichtig, dass alle Beteiligten in den Einrichtungen ständig motiviert bleiben und zusammen mit den Kindern wie den Eltern eine Allianz bilden. Und das innerhalb meiner Beforschung eindeutig funktioniert – sowohl bei piccoLOG als auch bei eduLOG. Die Instrumente sind intuitiv zu bedienen und trotzdem so valide, dass es uns möglich ist, Lernvoraussetzungen eindeutig zu erkennen und nötige Maßnahmen in Bezug auf Förderung oder Therapie ohne großen Zeit- und Personalaufwand direkt abzulesen. Wir können Kinder also jetzt vor Ort systematisch begleiten, beraten und gezielt fördern. Und dieses Fachgebiet umfangreich weiterbeforschen. Das war alles bislang so nicht möglich. Andrej Priboschek, Agentur für Bildungsjournalismus, führte das Interview.

Gezieltere Frühförderung durch Screening aller Kinder vor der Einschulung: Bundesweit einmaliges Modellprojekt gestartet

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