MÜNCHEN. Der Aktionsrat Bildung (ein mit renommierten Bildungsforscher*innen besetztes wissenschaftliches Gremium) sieht den sozialen Zusammenhalt in Deutschland gefährdet – und nimmt das Schulsystem in die Pflicht, die Grundlagen für ein besseres Miteinander zu legen. Dabei spielt allerdings nicht nur soziales Lernen eine Rolle, sondern auch die Sprachförderung. Denn ohne gemeinsame Sprache gebe es nun mal keine Gemeinsamkeit.
„Wir leben in bewegten Zeiten. In den vergangenen Jahren sind zahlreiche neue Krisenherde entbrannt, die unsere Gesellschaft und unser Selbstverständnis als Demokratie auf eine harte Probe stellen. Sozialer Zusammenhalt war noch nie so wichtig wie jetzt. Er ist unverzichtbar für dauerhaften Frieden, eine stabile demokratische Ordnung und schließlich den wirtschaftlichen Wohlstand“, so heißt es im Vorwort der Studie des Aktionsrats Bildung, dem – unter Leitung des ehemaligen Präsidenten der Universität Hamburg Prof. Dieter Lenzen – insgesamt neun renommierte Bildungsforscherinnen und -forscher verschiedener Universitäten und wissenschaftlicher Institute angehören; finanziert wird das Gremium von der Vereinigung der bayerischen Wirtschaft.
Aber: „Momentan erleben wir immer häufiger, dass sich der eine oder die andere von der Gesellschaft nicht mehr verstanden fühlt und entfremdet. Krisen und Herausforderungen von außen führen nicht selten dazu, dass Betroffene sich absondern, mit Frust und Ablehnung reagieren. So entsteht ein Nährboden für Extremismus, der eine Gefahr für unser Miteinander ist.“
Weiter: „Ein Schlüssel für ein dergestalt funktionierendes Miteinander liegt in unserem Bildungssystem. Über alle Bildungsphasen hinweg erproben wir den Austausch und die Kommunikation. Wir üben Diskussion und Kompromiss genauso wie die Vereinbarkeit verschiedener Interessen. Blicken wir auf Ergebnisse von Bildungsbarometern und Lernstandserhebungen wie die vergangene PISA-Studie, erkennen wir Handlungsbedarf. Denn in einer bunt zusammengewürfelten Gemeinschaft, wie es eine Schulklasse heute viel stärker ist als vor 20 oder 30 Jahren, fehlt es oft offenbar schon am kleinsten Nenner für ein funktionierendes Miteinander: der gemeinsamen Sprache, die alle verstehen.“
Ohnehin spiele Bildung im gesellschaftlichen Gefüge eine wichtige Rolle für die Entwicklung von sozialem Zusammenhalt. „Das Bildungssystem kann entscheidend dazu beitragen, die erforderliche Integrationskraft unserer mehr und mehr individualisierten Gesellschaft zu fördern, damit der Zusammenhalt von Gruppen mit unterschiedlichen Identitäten gelingen und Vertrauen ineinander und in die gesellschaftlichen Institutionen aufgebaut werden kann.“
„Die Grundlagen sozialer Beziehungen – dazu gehören Vertrauen, wechselseitige Toleranz, Partizipation am öffentlichen Leben, Erleben von Zugehörigkeit – können und müssen in der Grundschulzeit angelegt werden“
Wie soll das konkret aussehen? Prof. Nele McElvany, Direktorin des Instituts für Schulentwicklungsforschung (IFS) der TU Dortmund und Mitautorin der Studie, fokussiert dabei auf die Grundschulen. „Der Grundschule kommt als erste formale Bildungsphase und einzigem nicht gegliederten Teil des Bildungssystems eine herausragende Rolle dabei zu, die gesellschaftliche Integrationskraft zu unterstützen, Gemeinsinn aufzubauen und vertrauensvollen Austausch zwischen Menschen verschiedener sozialer Gruppen zu ermöglichen“, erklärt sie. „Die Grundlagen sozialer Beziehungen – dazu gehören Vertrauen, wechselseitige Toleranz, Partizipation am öffentlichen Leben, Erleben von Zugehörigkeit – können und müssen in der Grundschulzeit angelegt werden.“
Im Gutachten fordern die Bildungsexpertinnen und Bildungsexperten, die Stärkung personaler Identitäten statt der Betonung inkompatibler sozialer Identitäten von Kindern und Gemeinwohlorientierung stärker in den Blick zu nehmen. „Das ist dringend notwendig“, so Nele McElvany, „eine an unserem Institut durchgeführte Studie hat beispielsweise gezeigt, dass bereits im Grundschulalter negative implizite Einstellungen gegenüber Kindern mit türkischem Migrationshintergrund bestehen“.
Das Gutachten schlägt mit Blick auf die Sicherstellung des sozialen Zusammenhalts in einer heterogenen Gesellschaft vor, Lerninhalte fest in die Curricula der Grundschulen zu integrieren, die explizit das tolerante Zusammenleben mit unterschiedlichen Gesellschaftsgruppen – beispielweise nach nationaler Herkunft, Religion, Geschlecht oder geschlechtlicher Orientierung – thematisieren und fördern. Gemeinwohlorientierung und soziales Engagement soll im Schulprogramm als konkretes Steuerungselement integriert werden.
Wichtig sei es zudem, Identifikation und Ausrichtung auf das Gemeinwohl in den Rahmen- und Lehrplänen der Länder der Bundesrepublik zu verankern. Darüber hinaus fordern sie eine einheitliche Erfassung von für die soziale Kohäsion relevanten Daten auf Landes- und Bundesebene sowie eine Anpassung der Ressourcenzuweisung, damit Schulen in herausfordernden Lagen Maßnahmen umsetzen können, um für alle Schülergruppen attraktiv bleiben.
„Eine Sonderauswertung der IGLU 2021-Daten hat gezeigt, dass fast die Hälfte der Viertklässlerinnen und Viertklässler Erfahrungen mit physischer Gewalt und über 10 Prozent mit Online-Mobbing gemacht haben (News4teachers berichtete). Zudem haben wir einen robusten Zusammenhang festgestellt: je stärker die Erfahrungen mit dissozialem Verhalten ausgeprägt sind, desto niedriger ist die Lesekompetenz. Handlungsbedarf ist also angezeigt“, betont McElvany, die IGLU („Internationale Grundschule-Lese-Untersuchung“) leitet. Das Gutachten sieht hier die Grundschulen in der Verantwortung, konsequent gegen Mobbing und Gewaltvorfälle vorzugehen und im Rahmen der Schulentwicklungsarbeit verbindliche Ansätze und feste Abläufe bei Vorkommnissen zu entwickeln sowie bei Bedarf externe Fachkräfte mit einzubeziehen.
„Wir benötigen ein flächendeckendes System der Verknüpfung von Screenings und regelmäßiger individueller Diagnostik mit sich anschließender verbindlicher, gezielter Förderung“
Last but not least: Sprache hat dem Gutachten zufolge als Kernelement von Bildung, Integration und gesellschaftlicher Teilhabe eines Individuums eine herausragende Bedeutung, zugleich setzt sozialer Zusammenhalt eine gemeinsame Sprache voraus. McElvany erkennt gerade hier dringenden Handlungsbedarf: „Die Befunde der IGLU 2021-Studie zeigen, dass ein Viertel der Grundschulkinder am Ende der vierten Klasse nicht die Mindestkompetenzen im Lesen erreichen. Veränderungen sind dringend notwendig, um allen Kindern gesellschaftliche Teilhabe und sozialen Zusammenhalt in Deutschland auf der Basis einer gemeinsamen Sprache zu ermöglichen.“
Zudem bestehe der enge Zusammenhang zwischen familiärer Herkunft und Bildungserfolg nach wie vor. „Um dem begegnen zu können, benötigen wir ein flächendeckendes System der Verknüpfung von Screenings und regelmäßiger individueller Diagnostik mit sich anschließender verbindlicher, gezielter Förderung. Andere Länder haben das bereits umgesetzt und sind damit erfolgreich – das deutsche Schulsystem muss sich hier dringend weiterentwickeln“, erläutert die Bildungsforscherin.
„Besonders wichtig ist“, so McElvany, „dass im Rahmen der Förderung empirisch als wirksam belegte Förderkonzepte eingesetzt werden, was bisher nicht immer der Fall ist. Eine gezielte Aus- und Weiterbildung der Grundschullehrkräfte in den Bereichen der Lese- und Sprachförderung ist hier unabdinglich, die IGLU 2021-Befunde zeigen, dass nur rund die Hälfte der Viertklässlerinnen und Viertklässler in Deutschland von Deutschlehrkräften unterrichtet werden, bei denen die Didaktik des Lesens ein Schwerpunkt im Studium war.“ Zudem birgt den Gutachtenden des Aktionsrats Bildung zufolge auch die Einbeziehung der Familien auf organisatorischer, konzeptioneller und lernbezogener Ebene der Grundschule ein besonders hohes Potential, den sozialen Zusammenhalt zu stärken.
Grundsätzlich sehen die Forscherinnen und Forscher allerdings alle Schulformen und -stufen in der Pflicht, demokratische Regeln zu verankern und sicherzustellen. „Phasenübergreifend müssen in den Bildungsinstitutionen wechselseitige Toleranz, Solidarität, Vertrauen, gemeinsame Werte, Verantwortungsübernahme, Zugehörigkeitsgefühl etc. nicht nur verankert sein, sondern auch gelebt werden. Mobbing, psychische und physische Gewalt dürfen unter keinen Umständen toleriert werden. In konkreten Fällen muss, wenn nötig, auch unmittelbar mit Sanktionen reagiert werden; nur so kann sich ein demokratisch orientierter sozialer Zusammenhalt positiv entwickeln. Die Lehrenden tragen dabei Mitverantwortung, die
Grundlagen für einen professionellen Umgang in der jeweiligen Klasse, der Jahrgangsstufe und der ganzen Bildungseinrichtung zu legen.“ News4teachers
Hier geht es zum vollständigen Gutachten des Aktionsrats Bildung.
Studie: Viele Grundschüler erfahren Ausgrenzung und Gewalt – VBE: Personal fehlt