OLDENBURG. Sven Winkler ist Schulleiter (der Oberschule Osternburg in Oldenburg) – und seit Anfang des Jahres Vorsitzender des Allgemeinen Schulleitungsverbands Deutschland (ASD). Was sind die besonderen Herausforderungen für Schullleitungen in der aktuellen Bildungskrise? Wie sehen aus ihrer Sicht mögliche Lösungen aus? In einem großen, dreiteiligen Interview sprach News4teachers-Redakteurin Laura Millmann mit dem engagierten Pädagogen.
Hier geht es zurück zum ersten Teil des Interviews.

News4teachers: Wie stellen Sie sich so ein lebenslanges Fortbildungssystem vor?
Winkler: Es könnte durchaus hilfreich sein, so etwas wie eine Führungskräfteakademie zu schaffen, wo regelmäßig Schulungen, Weiter- und Fortbildungen für Schulleitungen stattfinden können. Unbedingt unter wissenschaftlicher Leitung und abgekoppelt von politischen Partikularinteressen, könnten dort neue Impulse erarbeitet, erlernt und trainiert aber auch Best-Practice-Modelle betrachtet werden. Dort könnte ein Ort zur kritischen Analyse von Systemen und zur Erarbeitung von neuen Lösungen entstehen. Auch, weil dort vielleicht internationaler Austausch möglich würde.
Für andere Institutionen von zentraler Bedeutung für unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung, wie den Zoll, die Bundeswehr, das THW, Feuerwehren oder auch die Polizei bestehen solche Einrichtungen schon. Bildung und das Bildungswesen sind Querschnittsaufgabe der gesamten Gesellschaft und von extrem hoher Priorität für unsere Zukunft. In einer solchen Einrichtung könnten bestimmte Trends zentral aufgenommen und unabhängig von Länderinteressen bearbeitet werden.
News4teachers: Sie sagten gerade, als Schulleiter hat man immer eine Art Zwitterposition zwischen der Schule und den Behörden. Würden Sie sich insgesamt mehr Verantwortung und mehr Freiheiten vor Ort wünschen?
Winkler: Ja, das ist grundsätzlich wünschenswert. Es ist wichtig, dass Entscheidungen vor Ort, also auf regionaler und lokaler Ebene getroffen werden können. Natürlich auf Basis der bekannten Vorgaben und Vereinbarungen. Es ist dazu aber unabdingbar, dass den Schulleitungen das dafür notwendige Maß an freier Leitungszeit zur Verfügung steht. Das ist an den größeren Systemen in der Regel so – nicht aber immer auch zum Beispiel in Grundschulen, wo Schulleitungen ein relativ hohes Stundendeputat unterrichten müssen, so dass sie diese Möglichkeiten nicht unbedingt haben.
Deswegen beantworte ich die Frage mal so: Ja, es hätte riesige Vorteile für uns, vor Ort lokal und regional aufgrund der jeweils bestehenden Gegebenheiten entscheiden zu können – es geht aber nur dann, wenn wir die dafür notwendigen Ressourcen auch zur Verfügung gestellt bekommen. Das heißt, wir brauchen beispielsweise Geld, um gegebenenfalls Personal anstellen oder uns zur Unterstützung holen zu können. Wir brauchen dort Funktionsstellen wie beispielsweise Verwaltungsleitungen, um uns von Aufgaben der Verwaltungsroutine zu entlasten. Ausgestattet mit den nötigen Ressourcen wäre mehr Verantwortung und Entscheidungsfreiheit vor Ort sinnvoll, damit wir unsere Schulen so weit wie möglich individuell entwickeln könnten.
News4teachers: Haben Sie als Vorsitzender des ASD eine Agenda, die Sie in den kommenden Jahren angehen möchten?
Winkler: Die Herausforderungen sind tatsächlich sehr vielfältig. Aber es gibt mehrere Themen, die im Moment auf Ebene des Bundes eine besonders hohe Aktualität haben. Zum einen glaube ich, dass der Zustand der psychischen Gesundheit zu denken gibt und dies in den nächsten Jahren noch wichtiger werden wird, weil es letztlich auch eine volkswirtschaftliche Fragestellung ist, mit der wir uns beschäftigen müssen.
Die Zahl der Schülerinnen und Schüler, die psychisch nicht gesund sind, ist in den letzten Jahren stark gestiegen, verstärkt natürlich auch durch die Nachfolgen der Corona-Pandemie. Zahlen zeigen eine Steigerung von mehr als 25 Prozent an Erkrankungen innerhalb von wenigen Jahren. Hier müssen wir uns die Frage stellen, was wir tun können, müssen wir z.B. unser System anpassen?
Ein weiteres wichtiges Thema, bei dem wir unbedingt mit im Boot sein sollten, ist das Thema Lehrkräftemangel. Wir müssen Sorge dafür tragen, dass nicht etwa kurzfristige Lösungen langfristig zu Problemen werden. Konkret: Wir müssen dringend auf die Auswahl geeigneter Interessenten und deren Qualifikation achten. Die Aus- und Weiterbildung von Lehrerinnen und Lehrern hat ebenso wie die bereits angesprochene Qualifikation von Schulleiterinnen und Schulleitern eine besonders hohe Priorität, weil hier schlicht die Zeit drängt.
Ein weiteres wichtiges Thema besteht im geforderten Abbau von Bürokratie in den Schulen. Wir beobachten hier gerade gegenläufige Prozesse, z.B. bei der Umsatzsteuergesetzgebung, die sich vermutlich extrem negativ auf z.B. die Arbeit in Schülerfirmen auswirken wird. Das ist auch so bei der Umsetzung der gesetzlich verankerten Vergabe- und Ausschreibungspraxis, die z.B. für Klassen- und besonders Auslandsfahrten weitreichende nachteilige Wirkungen entfalten wird.
Darüber hinaus scheinen die Länder hier teilweise völlig unterschiedliche Wege zu gehen, um Vorgaben aus Brüssel oder Berlin umsetzen. Meiner Meinung nach müssen hier das BMBF und das BMF sehr schnell bundeseinheitliche Lösungen erarbeiten. Ich befürchte, dass ohne Solches viele Schulen zahlreichen beschriebenen pädagogischen Aufgaben nicht mehr nachkommen werden können. Grundsätzlich möchte ich an dieser Stelle in Richtung Politik appellieren und gerne die Bitte äußern, rechtzeitig Kontakt mit uns aufzunehmen. Schulleitungen können sehr gut erkennen, welche Auswirkungen Veränderungen haben und wie sie ggf. umzusetzen sein können. Ein wesentlicher Punkt meiner Agenda besteht darin, bereit für Gespräche zu sein und mitzugestalten.
News4teachers: Was würden Sie sich noch von der Politik wünschen für die nächsten Jahre? Was müsste angestoßen werden, damit Bildung in Deutschland besser funktioniert?
Winkler: Die Themen Digitalisierung und Technologieintegration werden uns in Zukunft weiter stark beschäftigen. Es ist unbedingt notwendig, dass hier deutliche Aussagen getätigt werden und Zusagen eingehalten werden. Länder und Kommunen und letztlich Schulen brauchen klare Verhältnisse, damit sie planen und sich vorbereiten können.
Teil dieser Diskussion muss auch unbedingt werden, wie Wartung und Neubeschaffung der Technik in den Schulen in Zukunft aussehen soll. Wird es dafür besondere Ressourcen geben und wenn ja, wer stellt diese bereit? Es kann nicht länger angehen, dass sich die Kommunen, die Schulträger, die Länder und der Bund die Verantwortung gegenseitig zu schieben. Wenn wir in Schule nicht Digitalität erreichen, dann geraten wir in Deutschland auf Dauer im internationalen Wettbewerb ins Hintertreffen. Politik muss sich dafür verantwortlich erklären und Rahmenbedingungen schaffen, innerhalb derer wir tätig werden können. Ohne wird es nicht gehen.
News4teachers: Macht es Sie manchmal wütend, dass Schulen finanziell oft übergangen werden und es so viele marode Schulen gibt?
Winkler: Alle Schulleiterinnen und Schulleiter stört es natürlich genauso wie alle Lehrerinnen und Lehrer, wenn deren Arbeits- und Einsatzorte nicht adäquat ausgestattet sind. Können Sie sich solche Verhältnisse in Unternehmen in der Wirtschaft vorstellen? Undenkbar, dass Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter dort ihre eigenen Arbeitsgeräte ohne finanziellen Ausgleich mitbringen, um überhaupt arbeitsfähig zu sein. Undenkbar, dass Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter dort eine unzureichende Möblierung, defekte Einrichtungen vorfinden. Ich kenne Schulleitungen, die ihren Arbeitsplatz unter der Treppe oder in einer Besenkammer haben, weil keine anderen Räumlichkeiten zur Verfügung gestellt werden. Ebenso sind mir viele Fälle bekannt, wo Schulleitungen keinerlei administrative Unterstützung durch Schulsekretariate erhalten.
Ich bin über solche Fälle eher entsetzt als wütend, denn es zeigt sehr deutlich, welchen Stellenwert Bildung bei manchen Verantwortlichen zum Beispiel im Vergleich zur lokalen Wirtschaftsförderung hat. Solche Ignoranz der wichtigen gesellschaftlichen Aufgabe von Bildung muss enden. Der aktuelle und zukünftige Fachkräftemangel macht doch gerade sehr deutlich, welche herausragende Bedeutung Bildung und Schule hat, um wirklich möglichst jeden jungen Menschen adäquat auszubilden. Konkret: Sind die Schulen schlecht ausgestattet, können sie ihren Job nicht gut machen, was negative Auswirkungen auf Schülerinnen und Schüler hat, was negative Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt hat.
Im Übrigen ist schlechte oder mangelnde Ausstattung einfach Ausdruck fehlender Wertschätzung und das spüren Schülerinnen und Schüler genauso wie Lehrerinnen und Lehrer: Es fühlt sich so an, als hätte Bildung nur wenig Wert. Das betrifft im besonderen Maße Systeme in prekären Lagen. Hier kommt meines Erachtens den Schulträgern eine besondere Verantwortung zu, allerdings fehlt manchen schlicht und ergreifend das Geld.
Trotzdem: Jeder in Bildung investierte Euro sollte als Investition in den Wirtschaftsstandort Deutschland angesehen werden. Alle Schülerinnen und Schüler, die ihre individuellen Wege erfolgreich umsetzen, tragen zu dessen Entwicklung positiv bei. Daher würde ich mir zum einen wünschen, dass die ein- oder andere Kommune vielleicht auf für Politik prestigebringende Bauten zugunsten von dringend notwendigen Ausgaben für Schulen und Bildung verzichtet. Und zum anderen wäre gut, wenn es weitere Möglichkeiten für den Bund gäbe, gezielt zu unterstützen.
News4teachers: Wir haben schon kurz über das Thema des lebenslangen Lernens gesprochen. Es hört sich so an, als hätten Sie sich das selbst auch so ein bisschen auf die Fahnen geschrieben.
Winkler: Das ist, glaube ich, ein Teil meiner Persönlichkeit. Ich bin immer ein bisschen ungeduldig und frage mich: Wie geht es denn jetzt weiter, was kommt denn noch? Das ist sicherlich mein persönliches Ding, aber ich glaube, dass es in unserem Beruf als Schulleiterin als Schulleiter von großer Bedeutung ist, dass wir uns immer auf einem aktuellen Stand halten. Dazu ist es nötig, meine ich, dass wir unser Handeln stets hinterfragen und zu ergründen versuchen, ob dieses gerade zur Erreichung der Ziele ausreicht. Zumeist kommt man dann wohl zu der Erkenntnis, dass hier noch Entwicklungsbedarf bestehen könnte.
Lebenslanges Lernen ist für unseren Beruf von herausragender Bedeutung, weil Trends und Rahmenbedingungen aber eben auch Gesellschaft sich so massiv ändern. Was nicht gehen wird, ist, dass wir uns entspannt zurücklehnen und abwarten, dass andere unsere Aufgaben lösen. Im Gegenteil: meines Erachtens müssen Schulleiterinnen und Schulleiter proaktiv und ihrer Zeit eigentlich immer ein Stückchen voraus sein. Sie sollten schon ein Stück weit antizipieren können, was in den nächsten fünf bis zehn Jahren auf sie zukommen wird. Schulleiterinnen und Schulleiter müssen selbst gestalten wollen. Dazu muss jede und jeder die individuelle Grundlage schaffen, sich relativ breit aufstellen und fachlich fit halten.
News4teachers: Wenn Sie sagen, man muss als Schulleitung der Zeit immer ein bisschen voraus sein: Auf was stellen Sie sich denn in den nächsten Jahren ein? Was sind so Themen, von denen Sie glauben, dass sie die Schulen in den nächsten Jahren prägen werden?
Hier geht es zu Teil drei des Interviews mit Sven Winkler.
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