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Lassen sich Schülern die Werte des Grundgesetzes in einer wöchentlichen “Verfassungs-Viertelstunde” vermitteln? GEW: “Feigenblatt”

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MÜNCHEN. Das Grundgesetz wird in diesen Tagen 75 Jahre alt. Im Koalitionsvertrag hatten sich CSU und Freie Wähler auf neues Format geeinigt, um den Schülern in Bayern die Werte der Demokratie näher zu bringen. Nun wird das Konzept konkreter. Besser ist es nicht geworden. Noch immer gilt: Demokratiebildung darf nichts kosten. Die Lehrkräfteverbände lehnten den Vorstoß bereits im vergangenen Herbst unisono ab.

Lassen sich die Werte des Grundgesetzes in einer Viertelstunde pro Woche vermitteln? Foto: Shutterstock

Die sogenannte Verfassungsviertelstunde in bayerischen Schulen startet nach Informationen der Deutschen Presse-Agentur im kommenden Schuljahr zunächst nur in ausgewählten Jahrgangsstufen. Dem Vernehmen nach befindet sich das Konzept zwar noch in der Abstimmung, das Verfahren soll aber vor dem Abschluss stehen. Das Kultusministerium wollte sich zunächst auf Anfrage nicht zu den Plänen äußern.

Nach Angaben aus Regierungskreisen ist die verpflichtende Einführung nach den Sommerferien zum Schuljahr 2024/25 an allen öffentlichen und privaten Grundschulen, Mittelschulen, Förderschulen, Realschulen, Wirtschaftsschulen, Gymnasien, den Fach- und Berufsoberschulen (FOS/BOS) sowie allen weiteren beruflichen Schularten vorgesehen. Ziel sei ein „dauerhaftes Format der politischen Bildung an Bayerns Schulen“. Zum Schulhalbjahr 2024/25 soll es eine Evaluation geben.

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In den Grundschulen soll es die Verfassungsviertelstunde zunächst nur in zwei Jahrgangsstufen geben, in den weiterführenden Schulen in je einer Jahrgangsstufe der Unter-, Mittel- und Oberstufe. An der BOS sei der Beginn in der Vorklasse, an der FOS in der Vorklasse sowie in Jahrgangsstufe 11 und an den weiteren beruflichen Schulen in den Jahrgangsstufen der Sekundarstufe 2 vorgesehen. Eine freiwillige Ausweitung auf weitere Jahrgangsstufen bereits im Schuljahr 2024/2025 sei möglich. Zum Schuljahr 2025/26 soll das Konzept dann entsprechend ausgeweitet werden.

„Wir brauchen dringend mehr politische Bildung in Bayern. In allen Schularten, fest verankert in den Stundentafeln und unterrichtet von voll ausgebildeten Sozialkundelehrkräften“

In ihrem Koalitionsvertrag hatten sich die CSU und Freie Wähler darauf verständigt, im Schulunterricht einen neuen Fokus auf die Verfassungswerte zu richten. Sie reagierten damit auf den wachsenden Druck für die Demokratie durch Populisten und Extremisten. „Hierzu führen wir eine «Verfassungsviertelstunde» als wöchentliches Format ein, in der anhand von praktischen Beispielen über die Bayerische Verfassung und das Grundgesetz sowie die dort verankerten Grundsätze diskutiert wird“, heißt es konkret im Koalitionsvertrag.

Eine Verkürzung des Unterrichts soll es nicht geben, dies hatte Kultusministerin Anna Stolz (Freie Wähler) bereits im vergangenen November klargestellt. Die Verfassungsviertelstunde soll innerhalb des regulären Unterrichts stattfinden und Inhalte der Verfassung – etwa die Gleichberechtigung von Frauen und Männern – mit Unterrichtsinhalten verknüpfen. In der Praxis kann ein Thema statt in einem 15-minütigen Block pro Woche auch gebündelt etwa in 45 Minuten erfolgen.

Das Konzept stößt bei den Lehrergewerkschaften nicht auf Gegenliebe, wie sie bereits im Herbst – als die Idee vorgestellt wurde – klar machten. Martina Borgendale, Landesvorsitzende der Gewerkschaft für Erziehung und Wissenschaft (GEW) in Bayern, meinte zwar, dass politische Bildung in Bayern zu kurz kommt, die „Verfassungsviertelstunde“ ist ihrer Meinung nach aber der falsche Ansatz.

„Laut dem ‚Ranking Politische Bildung 2022‘ ist Bayern bei der politischen Bildung in Deutschland Schlusslicht“, sagte Borgendale dem Redaktionsnetzwerk Deutschland.

Hintergrund: Die Studie der Universität Bielefeld vergleicht regelmäßig die Stundentafelquote für den Politikunterricht in den Bundesländern. Ergebnis der jüngsten Erhebung: „Ein Rückblick auf die vergangenen fünf Jahre ergibt allerdings einen bemerkenswerten Befund. Die drei Bundesländer, die beim Gymnasium und bei den nichtgymnasialen Schulformen am wenigsten politische Bildung vorsehen, bleiben immer dieselben: Bayern, Thüringen und Rheinland-Pfalz. Bayern belegt kontinuierlich mit Abstand den letzten Platz.“

Borgendale schlussfolgerte daraus: „Wir brauchen dringend mehr politische Bildung in Bayern. In allen Schularten, fest verankert in den Stundentafeln und unterrichtet von voll ausgebildeten Sozialkundelehrkräften.“ Und: „Eine Verfassungsviertelstunde hat höchstens Symbolcharakter und dient als Feigenblatt.“ Sie plädierte dagegen für grundsätzlichere Ansätze.

Auch der Deutsche Lehrerverband zeigte sich kritisch. „Die Absicht, die mit der sogenannten Verfassungsviertelstunde verfolgt wird, ist absolut nachvollziehbar“, sagte Präsident Stefan laut Bericht. „Aber wieder soll Schule richten, wo Politik und Gesellschaft versagen.“ Zu viele Fragen bleiben seiner Meinung nach unbeantwortet: „Hat man sich überlegt, wie man vermeidet, dass es eine bloße Pflichtübung wird? Was ist, wenn man alle Grundgesetz- und Verfassungsartikel ‚durch‘ hat?“ Schule und Lehrkräfte müssten Inhalte selbst entwickeln und es sei unklar, wie die Mehrarbeit ausgeglichen werden könne. „Das steht im Gegensatz zu der von der Koalition versprochenen Entlastung. Arbeit zum Wohle unserer Demokratie, ja, ohne ernsthafte Entlastung, nein“, kritisiert Düll.

„Neben den Basiskompetenzen – lesen, rechnen, schreiben – brauchen wir Zukunftskompetenzen“

Der Bayerische Lehrerinnen- und Lehrerverband (BLLV) hält die Einführung einer „Verfassungsviertelstunde“ für zu kurz gesprungen. „Es liegt doch auf der Hand, dass wir Lehrkräfte die großen gesellschaftlichen Spaltungen, die Radikalisierung und den Antisemitismus in die Mitte des Unterrichts stellen. Das tun wir so oder so – egal, ob mit Verfassungsviertelstunde oder nicht“, sagte Präsidentin Simone Fleischmann dem Redaktionsnetzwerk Deutschland.

Ihr fehlen stattdessen die „großen Ziele der Schule von morgen“. Wenn politische Ränder zunähmen, brauche es eine ganz andere politische Bildung, erklärte Fleischmann. „Neben den Basiskompetenzen – lesen, rechnen, schreiben – brauchen wir Zukunftskompetenzen. Für mich sind das: Agilität, Resilienz, Umgang mit Krisen, Kreativität und Kommunikationsfähigkeit.“ News4teachers / mit Material der dpa

Die wöchentliche „Verfassungs-Viertelstunde“ ist ein (schlechter) Witz – ein Kommentar

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