OLDENBURG. Klimakrise, Demokratiekrise, Bildungskrise – die Generation der heutigen Schülerinnen und Schülern steht vor gewaltigen Herausforderungen. Sven Winkler, Schulleiter (der Oberschule Osternburg in Oldenburg) und seit Anfang des Jahres Vorsitzender des Allgemeinen Schulleitungsverbands Deutschland (ASD), sieht die Schule in der Pflicht, die Kinder und Jugendlichen auf ihre künftige Verantwortung hin vorzubereiten. Teil drei des großen Interviews, das News4teachers-Redakteurin Laura Millmann mit Sven Winkler führte.
Hier geht es zurück zu Teil eins des Interviews.

News4teachers: Wenn Sie sagen, man muss als Schulleitung der Zeit immer ein bisschen voraus sein: Auf was stellen Sie sich denn in den nächsten Jahren ein? Was sind so Themen, von denen Sie glauben, dass sie die Schulen in den nächsten Jahren prägen werden?
Winkler: Bildung für nachhaltige Entwicklung, BNE, ist ein solches Thema. Nach meiner Beobachtung sind wir da noch nicht ausreichend aufgestellt. Viele haben die dringende Notwendigkeit dazu mittlerweile erkannt, gleichwohl wird es noch ein wenig stiefmütterlich behandelt. Dabei werden hier die großen Fragestellungen wie Klimawandel, Ressourcenschonung, soziale Gerechtigkeit, Armutsminderung und kulturelle Vielfalt und ganz aktuell auch Bildung für eine demokratische Gesellschaft, für die nächsten Generationen gestellt.
Menschen müssen die Fähigkeiten, Perspektiven, Werte und Kenntnisse erlangen, die notwendig sind, um verantwortungsvolle Entscheidungen für die Umwelt und die Zukunft unserer Gesellschaft zu treffen. Es sollte selbstverständliche Aufgabe aller sein, das Verständnis für nachhaltige Entwicklungsprozesse zu entwickeln, so dass Bürgerinnen und Bürger aktiv zu einer nachhaltigen Welt beitragen können. Schulleitungen sollten die Herausforderung annehmen, dass BNE integraler Bestandteil aller Bildungsstufen und -formen sein muss. Denn wer, wenn nicht wir, soll mit der Umsetzung beginnen? In Schulen können die passenden Impulse gesetzt werden, damit die nachfolgende Generation lernt, entsprechend verantwortlich zu handeln und vernünftige Entscheidungen zu treffen.
“Schulen und Schulleiterinnen und Schulleiter tragen meines Erachtens eine besondere Verantwortung für die Entwicklung demokratischen Denkens”
Ein weiteres großes Thema der nächsten Jahre wird die Frage nach Bildungsgerechtigkeit sein. Ich glaube sagen zu können, dass bestimmte aktuell zu beobachtende politische Ausprägungen sicherlich auch die Folge von zumindest empfundener Ungerechtigkeit und damit von mangelnder Teilhabe von Teilen der Bevölkerung sind. Viele Menschen verstehen nicht, welche Möglichkeiten sie haben, sich an der Entwicklung unserer Gesellschaft zu beteiligen. Sie erkennen auch nicht, dass sie Teil und mitverantwortlich sind. Dies mag an einer als zu gering empfundenen Selbstwirksamkeit liegen, ist aber sicherlich auch Folge davon, dass wir unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung auf allen gesellschaftlichen Ebenen über zu lange Zeit als gegeben und quasi selbstverständlich angesehen haben.
Schulen und Schulleiterinnen und Schulleiter tragen hier meines Erachtens eine besondere Verantwortung für die Entwicklung demokratischen Denkens. Wir müssen uns mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln gegen antidemokratische, extremistische und zerstörerische Bestrebungen zur Wehr setzen.
News4teachers: Das ist dann aber ja nicht nur eine Frage der Bildungsgerechtigkeit, sondern auch der demokratischen Bildung.
Winkler: Das ist es auf jeden Fall. Ich bin der festen Überzeugung, dass wir unsere Schulen in Zukunft so aufstellen müssen, dass es uns gelingen kann, unsere Schülerinnen und Schüler auch jenseits von fachlichen Inhalten stark gegen negative und antidemokratische Einflüsse zu machen. Wir müssen Eltern- aber besonders Schülervertretungen wieder verstärkt in den Blick nehmen und hier explizit auf deren Partizipation hinwirken. Erst wenn die eigene Wirksamkeit erkannt wird, das eigene Tun einen Sinn ergibt, werden wir Beteiligung und Übernahme von Verantwortung erreichen.
Es wird in naher Zukunft notwendig sein, dass wir uns von der Fokussierung auf einzelne Fächer verabschieden und in größeren Zusammenhängen denken. Erziehung und Bildung stehen gleichberechtigt nebeneinander, es wird nicht mehr möglich sein, sich auf ein tayloristisch anmutendes Bildungsmodell und damit auf ein Fachlehrerprinzip zu beschränken. Darauf zu spekulieren, dass Schülerinnen und Schüler sich mit dem irgendwann angehäuften Fachwissen eine eigene demokratische Haltung bilden, ist nicht realistisch. Lehrerinnen und Lehrer aller Schulformen müssen schnellstmöglich Verantwortung über ihre eigene Fachexpertise hinaus übernehmen.
Dazu wird meiner Meinung nach auch nötig werden, die bisherige Praxis der Ausbildung von neuen Lehrerinnen und Lehrern zu reformieren. Sinnvoll wäre zum Beispiel die Einführung von Stufenlehrämtern, die schulformunabhängig ausgebildet werden. Es wird ebenfalls unabdingbar, dass in allen Lehrämtern verpflichtende sonderpädagogische Ausbildungsanteile, und solche für eine durchgängige Sprachbildung sowie viel mehr Praxisanteile bereits während des Studiums verpflichtend werden.
News4teachers: Es wirkt so, als hätten Sie Lust auf diese Veränderung.
Winkler: Ja, es macht auf jeden Fall Spaß, solche Dinge mitzugestalten. Besonders vor dem Hintergrund, dass wir ja eigentlich alle die Notwendigkeit zur Veränderung erkennen, aber in Teilen immer noch mit Mitteln von gestern auf Menschen von heute für Herausforderungen von morgen einwirken wollen. Es ist höchste Zeit für Veränderungen.
News4teachers: Allerdings ist man als Schulleitung ja nicht allein. Man kann zwar die Richtung vorgeben, aber um eine Schule mit Leben zu füllen und Ideen umzusetzen, braucht es das gesamte Kollegium.
Winkler: Das ist absolut zutreffend. Deshalb müssen wir immer versuchen, das ganze Team so zu motivieren, dass möglichst alle Lust haben, die eigene Schule gemeinsam zu gestalten und voranzubringen. Leider ist der Wille zur Veränderung und zur Gestaltung nicht allen per se innewohnend; der Gedanke, dass der Beruf der Lehrerin oder Lehrers immer auch einen hohen Anteil zur Innovation mit sich bringt, ist nicht allen bewusst. Es gibt Kolleginnen und Kollegen, die in bestimmten Lebensphasen auch schlicht und ergreifend andere Schwerpunkte, wie Work-Life-Balance und Familie setzen. Das ist auch grundsätzlich gut – aber trotzdem muss Schule kontinuierlich weiterentwickelt werden.
“Studien wie PISA oder IQB geben schon deutliche Hinweise darauf, dass in vielen Bereichen schlicht und ergreifend ein Versagen des Bildungssystems feststellbar ist”
Schulleiterinnen und Schulleitern kommt dabei die besondere Aufgabe zu, neben der eigenen Entwicklung möglichst viele Kolleginnen und Kollegen mit an Bord zu holen und für die Schulentwicklung zu begeistern. Darüber hinaus kann ich nur dringend empfehlen, sich auf lokaler oder regionaler Eben mit anderen Schulleitungen zu vernetzen, um einen Erfahrungsaustausch zu ermöglichen. Auch auf Länderebene ist dies von großer Bedeutung – Schulleitung ist ein eigener Beruf, jedoch haben wir nach wie vor keine eigene personalrechtliche Interessenvertretung. Landesverbände können hier zumindest manchmal bei Schwierigkeiten helfen.
News4teachers: Sie hatten vorhin schon den Begriff der Vision eingebracht. Wie schafft man es ganz konkret, erstens eine Vision zu entwickeln und zweitens dann auch alle davon zu begeistern oder zumindest zu überzeugen?
Winkler: Es ist wichtig einerseits zu beobachten, was auch gesellschaftlich gut gelingt. Und andererseits genau auf Missstände zu achten. Hieraus können alle Schulleiterinnen und Schulleiter schon recht schnell Visionen oder auch daraus folgend konkrete Ziel für das eigene Handeln ableiten, gilt es doch, positives weiter auszubauen und Verbesserungswürdiges zu ändern. Es ist wichtig, die für die eigene Schule wesentlichen Punkte sowohl vor einem gesamtgesellschaftlichen Hintergrund wie BNE, Demokratiebildung etc. zu betrachten, als auch dann lokal z.B. in geeigneten Netzwerken umzusetzen.
Das, was an einer Schule gültig ist und funktioniert, gilt an einer anderen Schule vielleicht nicht unbedingt. Studien wie PISA oder IQB geben schon deutliche Hinweise darauf, dass in vielen Bereichen schlicht und ergreifend ein Versagen des Bildungssystems feststellbar ist. Konkret bedeutet dies in meinen Auggen, dass wir schauen müssen, wie die Schülerinnen und Schüler der jeweiligen Schule dastehen und in welche Richtung die Bildungsprozesse für genau diese Klientel bestmöglich in Zusammenarbeit mit der Schulgemeinschaft gestaltet werden können.
News4teachers: Leider gibt es ja derzeit einen Mangel an Leuten, die Schulleiterinnen und Schulleiter werden wollen. Woran liegt das Ihrer Meinung und wie könnte man mehr Lehrerinnen und Lehrer motivieren, diesen Schritt zu gehen?
Winkler: Es scheint, dass vor allem sehr viele Leitungsstellen an Grundschulen nicht besetzt sind. Ich glaube, dass das an zwei Faktoren liegen könnte. Zum einen sind die Möglichkeiten, Schule zu gestalten wegen des hohen Anteils an Unterrichtsverpflichtungen weniger gegeben, einfach, weil die Zeit dafür fehlt. Wer eine Führungsaufgabe übernimmt – das ist in Schule nicht anders als in der Wirtschaft –, dem geht es zumeist darum, sich ein Stück weit selbst verwirklichen oder im System etwas entwickeln und verändern zu können. Anderseits aber war bisher die Besoldungsstruktur besonders in kleineren Systemen im Vergleich mit anderen Schulformen nicht unbedingt als fair anzusehen, denn die grundlegenden Aufgaben sind im Wesentlichen vergleichbar.
Auch beobachten Lehrerinnen und Lehrer natürlich ihre Schulleiterinnen und Schulleiter sehr genau. Zu erkennen ist für die Kolleginnen und Kollegen wohl immer ein sehr hoher Arbeitsaufwand mit sehr vielen unterschiedlichen Anspruchstellern immer verbunden mit einem sehr hohen Maß an Verantwortung gegenüber allen an Schule Beteiligten verbunden. Das kann durchaus abschreckend wirken. Besonders dann, wenn die Arbeitserfolge kaum als von Schulleitungen verantwortet erkannt werden.
News4teachers: Aber wenn es diese Möglichkeiten gibt, etwas zu verändern und zu gestalten, dann ist es aus Ihrer Sicht ein lohnender Beruf?
Winkler: Natürlich hat alles positive und negative Seiten. Führungsaufgaben und Übernahme von Verantwortung sind meist auch mit Unbequemlichkeit und mitunter auch Stress verbunden. Da es nicht möglich ist, immer alle Parteien gleichermaßen zufriedenzustellen, ist Führung auch immer ein Aushandlungsprozess für dessen Erfolg die eigene Vision, die eigene Handlungsmaxime grundlegend ist. So ist für mich persönlich stets handlungsleitend, dass das jeweils Beste für die mir anvertrauten Schülerinnen und Schüler zu erreichen, insgesamt einen höheren Stellenwert hat, als individuelles Wohlbefinden. Auch meines eigenen.
Diesen Gedanken teilen möglicherweise zunächst einmal nicht alle und deshalb entsteht bereits aus diesem Ansatz heraus Dissens. Denken und Haltung in dem skizzierten Sinne zu beeinflussen, ist aber für mich persönlich sehr zufriedenstellend. Sobald es gelingt, etwas im jeweils intendierten Sinne positiv zu beeinflussen, zu verändern und wirksam zu sein, stellt sich trotz aller Belastung ein hohes Maß an Zufriedenheit ein. Für diejenigen Lehrerinnen und Lehrer, die eine besondere Verantwortung übernehmen und gestalten wollen, gleichzeitig vor Arbeit nicht zurückschrecken und bereit sind, sich fortwährend weiterzuentwickeln und häufig in der Öffentlichkeit stehen, ist Schulleiterin oder Schulleiter ein toller Beruf. Laura Millmann, Agentur für Bildungsjournalismus, führte das Interview.
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