NEUSS. Was genau geschah am 8. März in einer Jugendschutzeinrichtung für unbegleitete minderjährige Geflüchtete in Neuss? Gesicherte Information: Es gab dort einen Polizeieinsatz – und zwar einen robusten. Kräfte der Landeskriminalämter Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen stürmten die Schutzstelle auf der (vergeblichen) Suche nach einem Terrorverdächtigen. Der Vorwurf: Dabei wurden die Rechte der Jugendlichen in der Einrichtung grob missachtet.
„Die Durchsuchungsmaßnahmen richteten sich gegen eine Person, bei welcher der Verdacht der Mitgliedschaft in einer ausländischen terroristischen Vereinigung besteht und die sich zumindest zeitweilig in der Einrichtung aufgehalten hat. Die Maßnahmen erfolgten im Rahmen eines hier gegen diese Person geführten Ermittlungsverfahrens. Ihnen lag ein von der Bundesanwaltschaft beim Ermittlungsrichter des Bundesgerichtshofs erwirkter Durchsuchungsbeschluss zugrunde“, so bestätigte eine Sprecherin des BGH der „Rheinischen Post“.
Zivilgesellschaftliche Organisationen, die sich um die Betreuung der Kinder und Jugendlichen kümmern, erheben allerdings schwere Vorwürfe. Bei dem Einsatz seien „mehrere rechtsstaatliche Vorgaben“ missachtet worden. Laut einer Pressemitteilung seien „teils vermummte Polizisten“ in die Schutzstelle eingedrungen und hätten einzelne Jugendliche gefesselt. „Sie suchten eine Person, die keinen Bezug zu der Jugendeinrichtung hat und nie dort wohnte. Die Jugendlichen wurden nicht über ihre Rechte oder das Vorgehen aufgeklärt. Die Polizei hielt sich alleine in der Wohngruppe auf, ohne dass die Jugendlichen Betreuer*innen oder rechtlichen Beistand hinzuziehen durften. Es wurden auch keine Dolmetscher*innen einbezogen.“
Die Kölner Psychologin und Traumapädagogin Larissa Nägler kritisiert die Unverhältnismäßigkeit des Polizeieinsatzes: „Polizeiliches Handeln darf nicht billigend die Unversehrtheit von traumatisierten Minderjährigen aufs Spiel setzen – insbesondere dann nicht, wenn diese bereits von staatlicher Seite aus als besonders vulnerabel bewertet wurden. Dies ist jedoch, in meinen Augen, bei dem Einsatz in der Jugendhilfeeinrichtung in Neuss geschehen.“
Dies meint auch Thomas Klein, der Vormund von zwei der betroffenen Jugendlichen. „Ich bin entsetzt, dass meine Jugendlichen dieser Situation ausgeliefert wurden, ohne dass Sorgeberechtigte, Betreuerinnen oder sonstige Personen, die ihnen hätten beistehen können, informiert wurden. Spätestens als einer der Betroffenen klar zum Ausdruck brachte, minderjährig zu sein und seine Betreuer anrufen zu wollen, wäre eine andere Reaktion seitens des Staatsorgans zwingend erforderlich gewesen.”
Aufgrund des möglichen terroristischen Hintergrunds der gesuchten Person sei es üblich, bei solchen Einsätzen – zum Schutz der Einsatzkräfte – vermummt und auch mit gezückter Waffe vorzugehen. „Wir wissen schließlich nicht, was uns erwartet und wie gefährlich die gesuchte Person ist“, erklärt ein Sprecher des LKA-Baden-Württemberg gegenüber der „Rheinischen Post“. Damit verdächtige Personen zum Beispiel keine Zeit haben, sich zu bewaffnen, sei es wichtig, möglichst schnell vorzugehen.
Vor Ort werde dann eine sogenannte statische Lage erzeugt, bei der es wichtig sei, dass sich Verdächtige nicht mehr innerhalb des Raumes bewegen. Im Zuge dessen könne es durchaus vorkommen, dass vereinzelt Personen mit Handfesseln fixiert werden. „Um die Beamten, aber auch andere Personen im Raum zu schützen“, so der Sprecher. Anders als in der Pressemitteilung beschrieben, seien allerdings Dolmetscher involviert gewesen – hätten telefonisch „auf Abruf“ gestanden. Aufgrund der möglichen Verständigung auf Deutsch hätte man davon allerdings keinen Gebrauch machen müssen. Zudem habe man durchaus versucht, Betreuer hinzuzuziehen, allerdings hätte man diese nicht erreicht.
„Dass eine gezogene Waffe und polizeiliche Gewalt gegenüber Kindern die Mittel der Wahl sind, macht schlicht fassungslos“
Michèle Winkler vom Komitee für Grundrechte und Demokratie überzeugt das nicht: „Eine Demokratie bemisst sich immer daran, wie sie mit besonders Schutzbedürftigen umgeht und inwiefern sie Minderheitenrechte ernst nimmt. Dass eine gezogene Waffe und polizeiliche Gewalt gegenüber Kindern die Mittel der Wahl sind, macht schlicht fassungslos.“ Die Polizeigewalt müsse vollständig aufgeklärt werden. Im Fall der Wohngruppe geht es explizit um Grund- und Menschenrechte.
Menschenrechtsorganisationen und zivilgesellschaftliche Initiativen – darunter die Kampagne für Opfer rassistischer Polizeigewalt, Berlin, und die Opferberatung Rheinland – verurteilen „dieses gewaltsame Vorgehen und fordern Aufarbeitung und Konsequenzen“, wie es in der gemeinsamen Pressemitteilung heißt. Auch die rechtlichen Vormünder der Jugendlichen erwarteten primär von den beteiligten Strafverfolgungsbehörden eine Erklärung. „Insgesamt stellt sich die Frage danach, warum Gewaltanwendungen bei nicht-weißen Kindern und Jugendlichen häufig als einzige Einsatzstrategie erkannt werden. Dies sollte dringend auch anhand der Folgen für Individuen und Gesellschaft diskutiert werden.“
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