FRANKFURT/MAIN. Jo Boaler, Professorin für Mathematikdidaktik an der renommierten US-Universität Stanford, hat eine klare Botschaft: Jeder kann Mathe lernen. Ihre Überzeugung basiert auf jahrzehntelanger Forschung und neurowissenschaftlichen Erkenntnissen. Dabei geht es nicht um angeborenes Talent, sondern um die richtige Herangehensweise und die Überwindung festgefahrener Denkmuster. Boaler kritisiert die traditionelle Lehrmethode, bei der mathematische Fähigkeiten oft auf schnelles Auswendiglernen und Faktenabfrage reduziert werden. Diese Ansätze, so Boaler, würden vielen Schülerinnen und Schülern das Gefühl vermitteln, dass sie kein Talent für Mathematik hätten – was letztlich zu Angst und Ablehnung des Fachs führe.
„Der Mathematikunterricht an deutschen Schulen ist oftmals wenig kognitiv aktivierend und ermöglicht den Schülerinnen und Schülern wenig Transfer des erlernten Wissens in ihren Lebensalltag.“ Zu diesem Ergebnis war unlängst das „MINT Nachwuchsbarometer“ gekommen, ein Forschungsbericht unter Federführung von Prof. Olaf Köller, Direktor des Leibniz-Instituts für die Pädagogik der Naturwissenschaften und Mathematik (News4teachers berichtete).
„Wir müssen uns mehr um die Mathematik kümmern“, fordert Köller, der als Vorsitzender der Ständigen Wissenschaftlichen Kommission der KMK die Kultusministerinnen und Kultusminister in Deutschland berät – und meint damit „einen stärkeren Lebensweltbezug, eine bessere Verknüpfung der Lerninhalte über die Jahrgangsstufen hinweg und eine größere Orientierung des Unterrichts an den Lernständen der jeweiligen Schülerinnen und Schüler.“
Köllers US-amerikanische Kollegin Jo Boaler schlägt nun in die gleiche Kerbe. Boaler argumentiert in einem aktuellen Interview mit der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“, dass mathematisches Wissen besser durch das Verständnis grundlegender Konzepte und visueller Darstellungen vermittelt werden kann. „Mathematische Fakten sind nützlich“, sagt sie, „aber es gibt viel bessere Wege, sie sich anzueignen, als durch blindes Auswendiglernen.“ Das sei besonders wichtig, weil in einer digitalen Welt, in der Computer und künstliche Intelligenz die reinen Rechenaufgaben übernehmen, ein flexibles und vernetztes Denken entscheidend sei. Schülerinnen und Schüler sollten lernen, die Ergebnisse dieser Technologien kritisch zu hinterfragen und Verbindungen zwischen verschiedenen mathematischen Ansätzen zu erkennen.
„Es ist wirklich eine schlechte Praxis, Schülern so früh zu vermitteln: Du bist kein Mathe-Typ, du bist eher ein Literatur-Typ“
Eine weitere Schwachstelle des herkömmlichen Bildungssystems sieht Boaler in der frühzeitigen Etikettierung von Schülern. Lehrkräfte teilen oft schon in der Grundschule Kinder in „Mathe-Typen“ und „Nicht-Mathe-Typen“ ein, was verheerende Folgen für das Selbstbild haben kann. „Es ist wirklich eine schlechte Praxis, Schülern so früh zu vermitteln: Du bist kein Mathe-Typ, du bist eher ein Literatur-Typ“, betont sie. Vor allem Mädchen seien von diesen Stereotypen betroffen, was ihnen langfristig den Zugang zu mathematisch-technischen Berufen erschwere. Dabei sei es eine erwiesene Tatsache, dass jeder mit der richtigen Methode und harter Arbeit ein hohes Niveau in Mathematik erreichen könne.
Eine weit verbreitete Annahme ist, dass herausragende Mathematiker wie Albert Einstein mit einem besonderen Talent gesegnet waren. Boaler widerspricht dieser Vorstellung. Einstein selbst habe stets betont, wie oft er Fehler mache und wie hart er an seinen Ideen arbeiten musste. „Er hatte etwas, das man heute wohl das ultimative ‚Growth Mindset‘ nennen würde“, erklärt sie. Dieses Wachstums-Mindset, die Überzeugung, dass Fähigkeiten durch Anstrengung und Lernen aus Fehlern entwickelt werden können, ist zentral für Boalers Ansatz. Die Vorstellung, dass der Intelligenzquotient (IQ) ein stabiles Maß für das mathematische Potenzial einer Person sei, lehnt sie ab. Der IQ-Test habe eine problematische Geschichte, die auf eugenischen Theorien basiere, und beruhe auf einer veralteten, starren Vorstellung von menschlichen Fähigkeiten.
Der traditionelle Mathematik-Unterricht, der stark auf schnelle Berechnungen und zeitbasierte Tests setzt, ist laut Boaler ein Relikt aus einer Zeit, in der solche Fertigkeiten für das tägliche Leben in einer analogen Welt notwendig waren. Heute hingegen brauche man Menschen, die komplexe Probleme lösen und über den Tellerrand hinaus denken können. Boaler fordert deshalb eine grundlegende Überarbeitung des Lehrplans. „Wir wollen, dass Schüler in Algebra Ausdrücke und Funktionen verstehen, darüber nachdenken, warum man sie verwendet und was die Ergebnisse aussagen“, sagt sie. Die händische Durchführung aufwändiger Rechenverfahren wie der Polynomdivision sei in vielen Fällen überflüssig, da diese Aufgaben heute von Computern übernommen werden können. Stattdessen sollten Schülerinnen und Schüler lernen, die Bedeutung der Ergebnisse zu erfassen und sie in größere Zusammenhänge zu stellen.
In Kalifornien arbeitet Boaler federführend an einer Reform des Mathematik-Unterrichts, die genau diese Prinzipien in die Praxis umsetzen soll. Doch diese Bemühungen stoßen auf massive Kritik. „Der überwiegende Widerstand kam von Leuten, die in Mathematik sehr erfolgreich waren“, erklärt Boaler. Diese Personen hätten oft ihre Identität darauf aufgebaut, dass sie etwas Besonderes seien und lehnten daher die Vorstellung ab, dass jeder Mathematik auf hohem Niveau lernen könne. Besonders kontrovers war der Vorschlag, Schülerinnen und Schüler nicht länger bereits im Alter von neun Jahren in verschiedene Leistungsniveaus einzuteilen, da dies langfristige Bildungs- und Karrierechancen vorwegnehme und soziale Ungleichheiten verstärke.
Die Debatte um die neuen kalifornischen Richtlinien wurde durch eine mediale Kampagne massiv angeheizt. Der damalige Fox-News-Moderator Tucker Carlson behauptete in seiner Show, Boaler sei der Ansicht, „Zahlen seien rassistisch“. Diese Aussage löste eine Welle von Vergewaltigungs- und Todesdrohungen gegen die Wissenschaftlerin aus. Trotz dieser Angriffe bleibt Boaler bei ihrer Überzeugung: Das aktuelle Bildungssystem sei ungerecht und bedürfe dringend einer Reform.
„Viele Lehrer kennen nur diese enge Mathematik, die auf Auswendiglernen beruht“
In den USA erfüllen Kinder mit hispanischen Wurzeln oder afroamerikanische Schüler die Anforderungen für die Zulassung zu einer Universität in Mathematik deutlich seltener als ihre weißen oder asiatisch-stämmigen Altersgenossen. Ein Grund dafür sei, so die Professorin, dass bereits in der Grundschule aufgrund von Tests Entscheidungen getroffen würden, die den weiteren Bildungsweg stark beeinflussen. Wohlhabende Eltern wüssten genau, wie sie ihre Kinder in die höheren Kurse bringen könnten, während Kinder aus ärmeren Familien oft auf niedrigere Bildungsschienen verwiesen würden. Das neue Rahmenwerk soll diese Ungleichheiten abbauen, indem es den Zugang zu anspruchsvollen Mathematikkursen weniger stark von früheren Leistungsbewertungen abhängig macht.
Trotz der vielen Anfeindungen und des politischen Drucks erhält Boaler auch Unterstützung, vor allem von Lehrkräften, die in der Praxis mit den negativen Folgen des bisherigen Systems konfrontiert sind. „Viele Lehrer kennen nur diese enge Mathematik, die auf Auswendiglernen beruht“, erklärt sie. Ihnen fehle oft der Zugang zu aktuellen Forschungsergebnissen und innovativen didaktischen Ansätzen. Boaler und ihr Team arbeiten daher daran, Lehrerfortbildungen anzubieten und ihnen zu zeigen, wie sie Mathematik auf neue Weise vermitteln können. „Sie brauchen Zeit, sie müssen die Mathematik beinah selbst neu lernen“, sagt sie.
In einer zunehmend technologisierten Welt, in der Künstliche Intelligenz und Computer immer mehr Aufgaben übernehmen, ist die Frage, wie man Mathematik unterrichtet, relevanter denn je. Boaler ist überzeugt: „Es geht darum, dem Computer die Rechenarbeit zu überlassen und dann einen Sinn daraus zu generieren.“ Mathematik müsse wieder als kreatives und bedeutungsvolles Fach verstanden werden, das den Schülern hilft, die Welt um sie herum besser zu verstehen. Nur so könne man sicherstellen, dass alle Schüler die gleichen Chancen erhalten, unabhängig von ihrem sozialen oder ethnischen Hintergrund. Boaler: „Bei Mathematik geht es um reale Themen für Kinder.“ News4teachers
Insgesamt identifiziert das „MINT Nachwuchsbarometer“ fünf Qualitätsmerkmale für guten Mathematikunterricht:
- „Kognitive Aktivierung: Schülerinnen und Schüler zur vertieften Auseinandersetzung mit mathematischen Inhalten motivieren.
- Verstehensorientierung: Mathematisches Verständnis aufbauen.
- Durchgängigkeit: Nachhaltiges Lernen mathematischer Konzepte und Leitideen über die Klassenstufen hinweg mit stetiger Verknüpfung der Lerninhalte, so wie es die Lehrpläne und Bildungsstandards vorsehen.
- Adaptivität: Orientierung des Unterrichts an den jeweiligen Lernständen der Schülerinnen und Schüler.
- Kommunikationsförderung: Die Bedeutung der Mathematik in der Welt erkennen und sie bei der Beschreibung alltäglicher Phänomene benutzen.“
Hier lässt sich das vollständige MINT Nachwuchsbarometer herunterladen.
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