BIELEFELD. Wenn Ralph Müller-Eiselt über die Digitalisierung von Schulen spricht, weiß er, wovon er redet: Der Geschäftsführer des gemeinnützigen Forums Bildung Digitalisierung (eine gemeinsame Initiative von zehn in der Bildung engagierten Stiftungen) leitete bereits bei der Bertelsmann Stiftung die Programme „Megatrends“ und „Digitalisierung und Gemeinwohl“. Seine Bücher „Die digitale Bildungsrevolution“ und „Wir und die intelligenten Maschinen“ haben die Diskussion über die Auswirkungen von Algorithmen und Künstlicher Intelligenz auf Bildung und Gesellschaft mitgeprägt. In der kommenden Woche tritt Müller-Eiselt beim EdTech Next Summit in Bielefeld auf. Wir sprachen mit ihm im Vorfeld.
News4teachers: Die KMK hat vergangene Woche Handlungsempfehlungen für Schulen zum Umgang mit Künstlicher Intelligenz herausgegeben (News4teachers berichtete). Haben Sie schon reingeschaut?
Ralph Müller-Eiselt: Wir haben den Entwurf bereits sachverständig kommentiert. Ich finde es gut und wichtig, dass ein solcher Beschluss nun gefasst wurde. Dass im Papier sehr stark auf die Kompetenzen von Schüler*innen und Lehrkräften eingegangen wird, begrüße ich sehr, ebenso dass eine einheitliche Schnittstelle für die Sprachmodelle geschaffen werden soll, auf die alle Bundesländer zugreifen können. Das löst ein Stück weit die aktuelle Flickenteppichproblematik. Mich hat positiv überrascht, dass das Thema Prüfungskultur im Papier so deutlich angesprochen wird. Eine konkrete Umsetzung dieser Schritte würde einen fundamentalen Wandel in der Prüfungskultur an deutschen Schulen bedeuten. Das heißt, dass die herkömmlichen Prüfungsformen wie Hausaufgaben oder Klassenarbeiten zukünftig durch neue ersetzt und KI-Tools in die Prüfungen integriert werden sollen.
An einigen Stellen im Dokument fehlt mir allerdings die Verbindlichkeit. Da hätte ich mir noch etwas mehr Mut gewünscht. Hier kommt es jetzt auf die konkrete Umsetzung in den einzelnen Bundesländern an. Auch fehlt mir die Zielgruppe Schulleitungen und deren Qualifizierung, denn neben den Lehrkräften sind diese die Schlüsselakteure für eine gelingende digitale Transformation.
News4teachers: Das Forum Bildung Digitalisierung engagiert sich für eine zukunftsweisende Schulbildung in einer digitalen Welt. Was macht aus Ihrer Sicht eine gute digitale Bildung aus?
Der EdTech Next Summit (am 24. Oktober 2024 in Bielefeld) ist das führende Event für Bildungstechnologien in Europa. Die Konferenz bringt Start-ups, Investor:innen, Bildungsexpert:innen und politische Entscheidungsträger:innen zusammen und liefert Ein- und Ausblicke in den deutschen Bildungsmarkt.
News4teachers – Deutschlands meistgelesenes Bildungsmagazin – ist Medienpartner des EdTech Next Summit 2024. Das bedeutet, dass Newsteachers ausführlich über den Summit berichten wird.
Herausgeber Andrej Priboschek, Leiter der Agentur für Bildungsjournalismus, wird in Bielefeld vor Ort sein. Er spricht dort eine Keynote zum Thema “Strategische PR auf dem Bildungsmarkt” und steht auch als Ansprechpartner parat.
Weitere Referent:innen sind (unter vielen anderen): Jens Brandenburg, Staatssekretär im Bundesbildungsministerium, Jürgen Böhm, Bildungsstaatssekretär in Sachsen-Anhalt, Philologen-Landeschefin Sabine Mistler und Anja Hagen, Vorsitzende des EdTech-Verbandes. edtechnext-summit.com
Ralph Müller-Eiselt: Das wichtigste übergeordnete Ziel einer guten digitalen Bildung ist aus meiner Sicht, die digitale Transformation als gesellschaftliche Entwicklung selbstverständlich aufzugreifen und allen Schülerinnen und Schülern ein selbstbestimmtes Leben in der Kultur der Digitalität zu ermöglichen. Dabei gilt es, Chancen und Risiken gleichermaßen zu adressieren.
Auf der Chancen-Seite stehen ganz klar die Lernpotenziale der digitalen Technologie, insbesondere der Künstlichen Intelligenz. Diese sollten gezielt genutzt werden, um konkrete pädagogische Herausforderungen zu lösen – sei es in der individuellen Förderung, sei es in der Inklusion. Digitalität sollte hier von Lehrkräften als Teil der Lösungen, nicht als zusätzliches Problem gesehen werden.
Gleichzeitig ist es wichtig, auch die Risiken der digitalen Transformation zu berücksichtigen, was in der Vergangenheit vielleicht nicht überall ausreichend geschehen ist. Dazu zählen Aspekte wie Hate Speech, Desinformation oder der Digital Divide. Diese Risiken gilt es, so weit wie möglich zu minimieren. Dazu sollten auch Werte wie Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Diversität in der Schule eine zentrale Rolle spielen, da sie in einem engen Verhältnis zur Digitalität stehen. All diese Aspekte sorgen dafür, dass die Digitalisierung ein Hebel für mehr Teilhabe und Chancengerechtigkeit wird, anstatt bestehende Ungleichheiten zu vertiefen.
“In Deutschland gibt es eine strikte Trennung zwischen inneren und äußeren Schulangelegenheiten, was die digitale Transformation erheblich erschwert”
News4teachers: Wo stehen wir denn jetzt mit der Digitalisierung des Lernens? Was ist schon gut – und was läuft nicht?
Ralph Müller-Eiselt: Ich beschäftige mich nun seit knapp zehn Jahren mit dem Thema. In dieser Zeit haben wir enorme Fortschritte gemacht. Heute sprechen wir nicht mehr darüber, ob die digitale Transformation in der Schule stattfinden soll, sondern wie sie umgesetzt werden kann.
Der Digitalpakt hat vor allem bei der Infrastruktur und Ausstattung in den Schulen einiges bewirkt, insbesondere durch den zusätzlichen Schub, den die Pandemie gegeben hat. Trotzdem stehen wir absolut gesehen noch relativ am Anfang der digitalen Transformation in der Schule. Das gilt besonders für die Qualifizierung der Lehrkräfte. Hier sehen wir, dass die Fortbildung noch wenig verankert ist, obwohl das Interesse seitens der Lehrkräfte mittlerweile recht hoch ist – besonders seit der Einführung von Chat GPT. Sie erkennen zunehmend, dass sich der Unterricht und ihr pädagogischer Alltag dadurch verändern, dass die Schülerinnen und Schüler diese Technologie im Alltag und oft auch im Klassenzimmer verwenden.
Auch im Bereich der Ausbildung von Lehrkräften muss noch viel passieren. Wenn man in Deutschland Lehramt studiert, liegt die Chance bei nur etwa 50 Prozent, dass man an einer Hochschule landet, wo digitalisierungsbezogene Inhalte verpflichtend behandelt werden. Um diesem großen Nachholbedarf entgegenzuwirken, engagieren wir uns als Forum Bildung Digitalisierung unter anderem im Kompetenzverbund lernen:digital.
Ein weiterer, bisher weniger beachteter Aspekt ist die Governance-Frage: Wie sollten Schulaufsichten, Schulträger und Schulleitungen in der digitalen Transformation zusammenarbeiten? In Deutschland gibt es eine strikte Trennung zwischen inneren und äußeren Schulangelegenheiten, was die digitale Transformation erheblich erschwert. Die Zuständigkeiten für Ausstattung und damit auch digitale Infrastruktur liegen oft bei anderen Stellen als für die Pädagogik. Diese Trennung war schon immer schwierig, ist aber in der heutigen digitalen Welt besonders gravierend, weil sich Infrastruktur und Pädagogik gegenseitig beeinflussen. Hier ist noch viel zu tun. Auch der Navigator Bildung Digitalisierung, den wir vor etwa zwei Monaten herausgegeben haben (News4teachers berichtete), zeigt, dass es weiterhin ein Erkenntnisproblem gibt, wie Digitalität und Pädagogik gut in Einklang gebracht werden können.
News4teachers: Der Digitalpakt 2.0 ist längst zu einer Hängepartie geworden. Wie weit reicht Ihr Verständnis dafür?
Ralph Müller-Eiselt: Ich kann nachvollziehen, was hier passiert, auch wenn ich es nicht gutheiße. Im Kern haben wir es inzwischen weniger mit einer bildungspolitischen als vielmehr mit einer finanzpolitischen Diskussion zu tun, in der der Digitalpakt 2.0 zu einem Verhandlungselement unter vielen geworden ist.
Trotz der knappen Kassen bleibe ich aber optimistisch und relativ sicher, dass sich Bund und Länder am Ende verständigen werden. Aktuell ist die Lage vor allem für die Schulträger extrem schwierig, da sie Investitionen nicht mehr tätigen können, weil die Finanzierung ausgelaufen ist. Dabei geht es nicht nur um Infrastruktur, sondern auch um Personalstellen. Infrastruktur lässt sich vielleicht ein halbes Jahr überbrücken, aber personelle Verluste sind schwieriger auszugleichen. Das setzt die positiven Entwicklungen der vergangenen Jahre aufs Spiel. Was in den letzten Jahren aufgebaut wurde, darf jetzt nicht wieder auseinanderfallen. Deshalb zählt bei den Verhandlungen zwischen Bund und Ländern jeder Tag.
News4teachers: Und inhaltlich?
Ralph Müller-Eiselt: Inhaltlich ist es wichtig, dass neben der Infrastruktur auch Aspekte wie Qualifizierung und Fortbildung berücksichtigt werden. Das ist zumindest in den Entwürfen, die bereits öffentlich sind, der Fall. Ich bin zuversichtlich, dass sich Bund und Länder trotz gewisser Kompetenzstreitigkeiten am Ende auf diese inhaltlichen Punkte einigen werden. Ein zweiter Punkt, den ich mir vom neuen Digitalpakt erhoffe, ist ein klarer Pfad, wie man von einer Projektfinanzierung zu einer dauerhaften Finanzierung übergehen kann. Wir brauchen hier eine dauerhafte Lösung, weil wir sonst in wenigen Jahren wieder vor den gleichen Herausforderungen stehen wie heute. Digitale Infrastruktur braucht immer wieder Erneuerung und die Qualifizierungsfrage bleibt genauso aktuell.
“Entscheidend ist, dass digitale Medien gezielt eingesetzt und sinnvoll in den Unterricht integriert werden, um spezifische Lernprozesse und Ziele zu unterstützen”
News4teachers: Mittlerweile formieren sich Kritikerinnen und Kritiker eines „Digitalisierungswahns“ in der Bildung – und berufen sich auf die Regierungen in Schweden und Dänemark, die die Entwicklung angeblich wieder zurückdrehen. Fürchten Sie einen Backlash?
Ralph Müller-Eiselt: Ich sehe aktuell keinen solchen Backlash für Deutschland. Ich freue mich, auf welch hohem Niveau die Diskussion über die digitale Transformation fachpolitisch geführt wird, auch auf Ministerebene. Allerdings besteht die Gefahr, dass etwa Haushaltspolitiker empfänglich für vereinfachende Überschriften sein könnten. Deshalb positionieren wir uns klar gegen Stimmen, die einen Digitalisierungsstopp an deutschen Schulen fordern.
Denn inhaltlich muss man genau hinschauen, was hinter den kritischen Stimmen steckt. Vieles bezieht sich auf die Studie des Karolinska-Instituts aus Schweden, die allerdings inhaltlich sehr begrenzt ist. Man hat in Schweden alle Schulbücher digitalisiert und festgestellt, dass es nach einigen Jahren keinen signifikanten Lernzuwachs gab. Das ist keine überraschende Erkenntnis, da die reine Digitalisierung eines analogen Produkts natürlich zu keinem Lernfortschritt führt.
Für mich ist das kein Grund, an den Potenzialen der Digitalität zu zweifeln. Entscheidend ist, dass digitale Medien gezielt eingesetzt und sinnvoll in den Unterricht integriert werden, um spezifische Lernprozesse und Ziele zu unterstützen.
Und selbst wenn Schweden oder Dänemark zwei oder drei Schritte bei der Digitalisierung zurückgehen sollten, sind diese Länder uns immer noch zehn Schritte voraus. Dort hat die Digitalisierung zu einem viel früheren Zeitpunkt und mit größerer Kraft stattgefunden. Von diesen Erfahrungen – siehe digitale Schulbücher – können wir für Deutschland lernen
News4teachers: Sie sprechen beim EdTech Next Summit in Bielefeld, bei dem sich die Bildungswirtschaft – insbesondere auch die Start-up-Szene – trifft. Welche Rolle haben diese bei der Digitalisierung der Bildung?
Ralph Müller-Eiselt: In Deutschland ist die EdTech-Szene nicht ganz so groß wie in anderen Ländern. Umso wichtiger ist es, dass Veranstaltungen wie diese stattfinden. Es ist erfreulich zu sehen, dass sich rund um die Founders Foundation in Bielefeld ein echtes EdTech-Hub entwickelt hat. Das zeigt, dass erfolgreiche Start-ups nicht nur in Berlin, München oder Hamburg angesiedelt werden können, sondern auch in einer Region wie Bielefeld – und das mit einem speziellen Fokus auf Bildung.
Ich glaube, EdTech-Start-ups haben wirklich das Potenzial, Innovation ins Bildungssystem zu bringen. Sie können Veränderungen oft schneller umsetzen, als es flächendeckend im Bildungssystem möglich wäre. Start-ups im Schulbereich haben in Deutschland jedoch deutlich größere Schwierigkeiten als etwa im Bereich der Weiterbildung, der Hochschulbildung oder auch der beruflichen Bildung. Das liegt vor allem daran, dass die Beschaffung im Schulbereich besonders komplex und hoch reguliert ist.
Deshalb habe ich umso mehr Respekt vor all denjenigen, die sich hier für EdTech engagieren und Lösungen entwickeln. Es ist eine wichtige Aufgabe, diese Innovationskraft zu fördern und sie stärker mit dem bestehenden Schulsystem zu verknüpfen. Ich hoffe, dass beim Summit in Bielefeld auch Vertreterinnen und Vertreter des etablierten Schulsystems – von den Schulträgern, den Schulaufsichten und auch aus der Politik – vertreten sein werden. So könnten Brücken zwischen diesen beiden Bereichen geschlagen werden.
News4teachers: Was ist Ihre Botschaft auf dem Summit?
Ralph Müller-Eiselt: Es geht darum, eine Kultur der Kooperation zu fördern und aktiv zu pflegen. Es ist wichtig, EdTechs nicht als Bedrohung für das bestehende System zu sehen. Stattdessen sollte man gezielt nach Möglichkeiten suchen, wie Anbieter aus dem privaten Sektor bei der Lösung konkreter pädagogischer oder organisatorischer Herausforderungen im Schulalltag unterstützen können. Diese Anbieter sollten auch die Chance bekommen, ihre Ansätze in der Praxis zu erproben und Erfahrungen zu sammeln. Es geht also um eine Kultur der Zusammenarbeit statt der gefühlten Konkurrenz.
News4teachers: Wenn Sie sich Ihre Traumschule der Zukunft vorstellen, wie würde diese aussehen?
Ralph Müller-Eiselt: Meine Traumschule erfüllt immer die individuellen Bedürfnisse der Schülerinnen und Schüler vor Ort und kann deshalb sehr unterschiedlich aussehen. Auf jeden Fall sollte sie das Digitale als Teil der Lösung für pädagogische Herausforderungen sehen, besonders im Hinblick auf individuelle Förderung und Inklusion. Sie sollte über qualifizierte Lehrkräfte und multiprofessionelle Teams verfügen, die auch andere Berufsgruppen einbeziehen und außerschulische Akteure im Ganztagsbetrieb integrieren.
Dieses Team sollte Basis- und Zukunftskompetenzen nicht als Gegensatz, sondern als zwei Seiten derselben Medaille verstehen. Denn Lesen, Schreiben und Rechnen sind für ein selbstbestimmtes Leben natürlich unabdingbar, ohne kritisches Denken, Zusammenarbeit und Digitalkompetenz im zukünftigen Berufsleben aber kaum von Nutzen.
Ein weiterer Aspekt, der weniger oft diskutiert wird, ist die Architektur. Meine Vorstellung einer Traumschule lebt von offenen Räumen und einer Architektur der Transparenz. Es sollte Räume geben, die sich flexibel an die jeweilige Situation anpassen lassen – Räume für den Austausch, für das Lernen und auch für das Wohlfühlen. Nina Odenius und Andrej Priboschek, Agentur für Bildungsjournalismus, führten das Interview.