BERLIN. Die Schieflage des deutschen Bildungssystems ist immens. Immer höhere Ansprüche treffen auf zu wenig Lehrkräfte und eine an vielen Stellen unzureichende Ausstattung. Doch die Herausforderungen der digitalen Transformation von Schule umfassen mehr als die Infrastruktur, auch ein lernwirksamer Einsatz digitaler Medien ist entscheidend. Dabei unterstützen will der Kompetenzverbund lernen:digital – und zwar ganz konkret mit handfesten Lösungen, ausgerichtet an den Bedarfen der Lehrkräfte und Schulleitungen. Für dieses Ziel setzen die Forschenden auf den Dialog mit den Expert:innen aus der Praxis.
Die digitale Transformation als schulische Aufgabe stoße in den Kollegien derzeit eher auf Zurückhaltung, so die Erfahrung von Silke Müller, Schulleiterin der Waldschule Hatten und Niedersachsens 1. Digitalbotschafterin. „Digitalisierung ist nicht nur Technisierung, es geht um ein verändertes Arbeiten im Sinne der 4K – Kollaboration, Kommunikation, Kreativität und Kritisches Denken.“ Im Rahmen von Schulbesuchen begegne ihr immer wieder die Frage, wann Lehrkräfte für die Arbeit daran und eine Weiterentwicklung hierbei noch Zeit finden sollen. „In einem System, das vor Aufgaben aus allen Nähten bricht, ist das ein berechtigter Einwand“, so Müller. Trotzdem sorgt sie sich angesichts der Konsequenzen, die daraus erwachsen. „Die Kinder werden nicht gut auf die Zukunft vorbereitet“ – außer, sie besuchen zufällig eine digital-affine Schule. Dann sei zumindest der Zugang zu digitalen Kompetenzen schneller gegeben, wenngleich das allein nicht ausreiche.
„Wenn die Digitalisierung von Bildung einen Mehrwert hat, den jede:r Kolleg:in spürt, dann wird jede:r Kolleg:in bereit sein, diesen Weg mitzugestalten“
Die daraus entstehende Chancenungleichheit beschäftigt auch Studiendirektor Klaas Wiggers vom Gymnasium an der Wilmsstraße im niedersächsischen Delmenhorst. Für die Lösung der systemischen Missstände verweist er auf die Politik. Gleichzeitig sieht Wiggers allerdings Möglichkeiten, Lehrkräfte auch unter den aktuellen Arbeitsbedingungen für die digitale Transformation von Schule zu gewinnen. „Wenn die Digitalisierung von Bildung einen Mehrwert hat, den jede:r Kolleg:in spürt, dann wird jede:r Kolleg:in bereit sein, diesen Weg mitzugestalten.“ Ähnlich formuliert es Silke Müller, Lehrkräfte müssten den Sinn und Zweck der Digitalisierung für ihren Alltag erkennen: „Digitalisierung kann eine enorme Entlastung schaffen.“
Dazu bräuchten sie passende Angebote, um sich auf den Weg zu machen und lernwirksam und digital gestützt zu unterrichten. Bislang fehlt es teilweise noch an entsprechenden Fort- und Weiterbildungen; vor allem mit Blick auf die Wirksamkeit der Angebote bleiben oft Fragen offen. Damit aus den Lehrkräftefortbildungen letztendlich guter zeitgemäßer Unterricht entsteht, ist es aber von entscheidender Bedeutung, dass die Inhalte wissenschaftlich erprobt sind und erwiesenermaßen funktionieren.
Genau daran arbeitet der Kompetenzverbund lernen:digital. In über 200 Forschungs- und Entwicklungsprojekten entstehen evidenzbasierte Fort- und Weiterbildungsangebote für digitalen und digital gestützten Unterricht, konkrete Materialien für diesen Einsatzbereich sowie handfeste Konzepte für die digitalisierungsbezogene Unterrichts- und Schulentwicklung. Organisiert in vier Kompetenzzentren widmet sich dabei eine Vielzahl wissenschaftlicher Einrichtungen unterschiedlichen Schwerpunkten: MINT, Sprachen/Gesellschaft/Wirtschaft sowie Musik/Kunst/Sport und Schulentwicklung. Hinzu kommt eine Transferstelle, die sich unter anderem damit befasst, wie sich Aus-, Fort- und Weiterbildungen für Lehrkräfte möglichst wirksam gestalten und in die Breite tragen lassen. Dazu vernetzt sie die Akteur:innen des Kompetenzverbunds mit den Landesinstituten für Lehrkräftebildung, der Bildungsverwaltung sowie der Bildungspolitik – und schafft damit die Voraussetzungen für einen nachhaltigen Transfer.
Ein entscheidendes Merkmal der Arbeit im Kompetenzverbund ist „die enge Verzahnung mit der Praxis auf verschiedenen Ebenen, insbesondere mit Vertreter:innen des Fortbildungssystems“, erklärt Katharina Scheiter, Professorin für Digitale Bildung der Universität Potsdam und Leiterin der Transferstelle des Kompetenzverbunds. Diese soll nicht nur die einzelnen Projekte sinnvoll miteinander vernetzen, sondern auch den beschriebenen Dialog zwischen Wissenschaft und Praxis fördern. Die Zusammenarbeit der beiden Systeme „hat den wesentlichen Vorteil, dass die Lösungen, die im Kompetenzverbund entwickelt werden, tatsächlich relevant für die Praxis sind“, betont Scheiter. Ziel sei es, mithilfe von Fortbildungen, Konzepten und Materialien echte Unterstützung für den digitalen Wandel zu leisten – und zwar für reale Probleme und Fragestellungen, die Schulen und Lehrkräfte belasten.
Wie können Lehrkräfte im naturwissenschaftlichen Unterricht digitale Tools nutzen, um auf die individuellen Fähigkeiten der Lernenden einzugehen? Wie lässt sich die digitale Souveränität von Kindern und Jugendlichen im Unterricht nachhaltig fördern? Wie können KI-Anwendungen den Lehr-Lernprozess unterstützen? Wie müssen passende, effektive Fortbildungen aussehen? Das sind einige der Inhalte, die im Fokus der Projekte des Kompetenzverbunds stehen. „Dabei ist es sinnvoll, nicht nur den Bedarf gemeinsam mit den Vertreter:innen aus der Praxis festzustellen, sondern auch zusammen eine Lösung zu entwickeln“, so Scheiter. „Es gibt Projekte, die direkte Kooperationen mit Partnerschulen pflegen, um ihre Forschung und Entwicklung unmittelbar an den Praxisbedarfen auszurichten. Ein anderes Beispiel sind Fortbildungen in Schüler:innenlaboren, in denen Lehrkräfte später mit ihren Schulklassen in verschiedenen MINT-Disziplinen experimentieren können. Hier bringen die Lehrkräfte oftmals viel Expertise zur Weiterentwicklung ein – die Wege der Zusammenarbeit können da sehr unterschiedlich ausfallen“, erklärt sie.
„Das Gespräch mit der Praxis ist ganz zentral für uns“, sagt auch Doris Holzberger, Professorin für Psychologie des Lehren und Lernens an der Technischen Universität München und Bereichsleitung im Handlungsfeld Forschung des Kompetenzverbunds. Holzberger und ihr Team analysieren systematisch und praxisorientiert den bisherigen Forschungsstand rund um digitalisierungsbezogenen Unterricht und digitalisierungsbezogene Lehrkräftefortbildung. „Wir sehen uns in gewisser Weise als Übersetzer:innen. Wir filtern aus den wissenschaftlichen Befunden heraus, welche Konsequenzen sich auf dieser Basis für die Fortbildungs- oder Unterrichtspraxis ableiten lassen und wie sich diese Ansätze in den Unterricht integrieren lassen, beispielsweise um selbstreguliertes Lernen zu fördern.“
Aus zahlreichen Einzelstudien generieren sie Überblicksarbeiten, die nicht nur den Zugang zu aktuellem Forschungswissen erleichtern. „Die Fülle an Daten ermöglicht uns Analysen, die über die Einzelstudien hinausgehen“, erklärt Holzberger. Welche Themen dabei relevant sind und wie Holzberger und ihr Team die wissenschaftliche Evidenz aufbereiten müssen, damit sie die Fachkräfte in der Praxis nutzen können, erfahren sie im Austausch mit Lehrkräften und Praktiker:innen der Lehrkräftebildung, so Holzberger. „Wir diskutieren mit ihnen: Was bedeutet das jetzt im Lichte der Praxis, im Lichte des Unterrichts, im Lichte der konkreten Durchführung der Fortbildung?“ Am Ende dieses Prozesses stehen konkrete Ergebnisse, zum Beispiel wissenschaftlich gestützte Unterrichtsmaterialien, Praxisbeispiele oder Leitlinien für Lehrkräftefortbildungen.
Frank Lipowsky, Professor und Fachgebietsleiter für Empirische Schul- und Unterrichtsforschung an der Universität Kassel und im Kompetenzverbund beteiligt an Forschungsprojekten im Bereich der Lehrkräftefortbildung, spricht daher auch von einer „Brücke zwischen Wissenschaft und Praxis“, die sich aus dieser Vorgehensweise ergibt. Er und sein Team entwickeln unter anderem Instrumente, die den Projektverbünden dabei helfen sollen, die eigenen Fort- und Weiterbildungen für Lehrkräfte zu evaluieren und so gegebenenfalls nachjustieren zu können.
Um den Dialog zwischen Wissenschaft und Praxis zu fördern, hat der Kompetenzverbund eigens Kommunikations- und Netzwerkstrukturen geschaffen, darunter niedrigschwellige Online-Formate, Werkstattprozesse, Experimentierräume und themenbezogene Fachtagungen. Neben diesen Orten des Austauschs sei für eine gelingende Zusammenarbeit entscheidend, dass „die Zusammenkunft auf Augenhöhe“ geschieht, so Holzberger, die Parteien also die jeweils exklusiven Perspektiven anerkennen.
„Die Landesinstitute können gewährleisten, dass die Angebote des Kompetenzverbunds auch nach dem Ende der Forschungsfinanzierung weiterhin nutzbar sind und weiterentwickelt werden“
Ähnlich beschreibt es Birgit Pikowsky, Direktorin des Pädagogischen Landesinstituts Rheinland-Pfalz und Mitglied im lernen:digital Begleitgremium: „Kooperation kann gelingen, wenn jeder seine Kompetenz einbringt.“ Sie begrüßt daher ausdrücklich, dass der Kompetenzverbund die Landesinstitute als wichtige Partner erkannt hat. Als Anbieter von Qualifizierungsmaßnahmen für Lehrkräfte verfügen sie bereits über Strukturen, um sowohl Bedarfe aus der Praxis zu erfassen als auch um die entwickelten Angebote des Forschungsverbunds in die Fläche zu tragen. Ein weiterer Pluspunkt der Partnerschaft seien die nachhaltig angelegten Strukturen, so Pikowsky. „Die Landesinstitute können gewährleisten, dass die Angebote des Kompetenzverbunds auch nach dem Ende der Forschungsfinanzierung weiterhin nutzbar sind und weiterentwickelt werden.“
Für diesen Transfer der Ergebnisse in die Lehrkräftebildung spielt die länderübergreifende Plattform ComPleTT eine zentrale Rolle. Damit greift lernen:digital einen bereits bestehenden Transferweg auf, den alle 16 Bundesländer als sinnvoll und etabliert bewerten. Mithilfe der Plattform können Wissenschaftler:innen ihre Inhalte den Landesinstituten für Lehrkräftebildung bundesweit zur Verfügung stellen, sodass Vertreter:innen aus Wissenschaft und Praxis kollaborativ und projektübergreifend daran arbeiten können – ein wichtiges Novum innerhalb der komplexen Bildungsstrukturen. Die Landesinstitute können ihrerseits auf die Fortbildungskonzepte des Kompetenzverbunds zugreifen und sie kostenlos in ihr Fortbildungsangebot für Lehrkräfte integrieren. „Über eine Schnittstelle können wir sie in unsere Strukturen einbinden, sodass sie für Lehrkräfte auf dem üblichen Weg zur Anmeldung zur Verfügung stehen“, erklärt Pikowsky.
Geplant ist, die Konzepte für diesen Zweck so aufzubereiten, dass Lehrkräftebildner:innen sie mühelos anpassen und einsetzen können. „Es geht nicht nur um die Entwicklung der Fortbildungen selbst, sondern auch um deren Dokumentation, damit sie von anderen, die nicht am Entwicklungsprozess beteiligt waren, effektiv genutzt werden können“, erklärt Katharina Scheiter, wissenschaftliche Leitung der lernen:digital Transferstelle. Die Konzepte sollen daher mit zusätzlichen Informationen versehen werden, wie mit ihnen gearbeitet werden kann – für welche Lehrkräfte das Material geeignet ist, für welche Klassenstufen und an welchen Stellen Anpassungen an den lokalen Kontext sinnvoll sind.
Eine weitere bereits bestehende länderübergreifende Plattform – das Medienportal MUNDO – versorgt zudem die einzelne Lehrkraft mit wissenschaftlich fundierten Unterrichtsmaterialien, die im Rahmen des Kompetenzverbunds entstehen – ebenfalls kostenlos. Auf diese Weise adressiert der Kompetenzverbund lernen:digital neben den lehrkräftebildenden Landesinstituten auch die unmittelbare Praxis mit neuen und vor allem erprobten Inhalten. Derzeit arbeitet der Kompetenzverbund noch am Freigabe- und Redaktionsprozess, über den die fertigen Bildungsangebote mit den notwendigen Zusatzinformationen versehen und auf beiden Plattformen veröffentlicht werden sollen. Katharina Scheiter rechnet damit, dass im kommenden Frühjahr die ersten Angebote zur Verfügung stehen werden.
Die Finanzierung der Kompetenzzentren läuft bis September 2025, die Mittel der Transferstelle reichen bis Mitte 2026. Scheiter hofft allerdings auf eine Verlängerung, um die Verbindung zwischen Wissenschaft und Praxis weiter zu stärken. Von den positiven Effekten des Dialogs ist auch Landesinstitutsdirektorin Birgit Pikowsky überzeugt. Sie wünscht sich schon jetzt, dass die aufgebauten Kooperations- und Netzwerkstrukturen dauerhaft wirksam bleiben – auch für zukünftige Projekte.
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