MÜNCHEN. Die Schülerin Amelie hat in dieser Woche dem Bayerischen Landtag eine Petition zur Abschaffung von Stegreifaufgaben und unangekündigten Abfragen übergeben – unterschrieben von mehr als 50.000 Unterstützern. Schon bevor sich der Landtag mit dem Thema beschäftigen kann (wie es die Verfassung des Freistaats eigentlich vorsieht), ist es politisch erledigt: Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) hat die Initiative öffentlich abgewatscht. Dies kritisierte Roland Grüttner, ehemaliger Rektor einer Grund- und Mittelschule und einer Montessorischule in Bayern, in einem Gastkommentar auf News4teachers. Hier kommt nun eine Replik der Bildungsforscher Thomas Gottfried und Prof. Klaus Zierer von der Uni Augsburg.
Pädagogische Cancel Culture – ein Plädoyer für Freiheit in Schule und Demokratie
Bisher besteht nach den bayerischen Schulordnungen die Option, aber nicht die Pflicht, Rechenschaftsablagen und Stegreifaufgaben als Formen kleiner Leistungsnachweise zu wählen. Daneben gibt es „nach den Erfordernissen der jeweiligen Schulart und Jahrgangsstufe sowie der einzelnen Fächer“ (Art. 52 Abs. 1 S.2 Bayerisches Erziehungs- und Unterrichtsgesetz) verschiedenste schriftliche, mündliche und praktische Arten von Leistungsnachweisen.
Kein Lehrer muss abfragen, keiner muss Exen schreiben, wenn er dies im Rahmen seiner pädagogischen Verantwortung (vgl. § 2 Abs. 1 Bayerische Lehrerdienstordnung) nicht für sinnvoll hält. Diese Möglichkeit würde durch die Umsetzung der Petition abgeschafft und der in den letzten Jahren ohnehin massiv verringerte Handlungsspielraum der Lehrer damit weiter eingeschränkt, ohne dass dies pädagogisch gerechtfertigt wäre.
Die immer wieder zitierte Studie taugt nicht für eine derartige Reform, weil sie hinsichtlich des Forschungsdesigns diese Schlüsse nicht zulässt. Kein Schüler ist bisher wegen Abfragen oder Exen in die Psychiatrie gekommen. Die physischen und psychischen Belastungen, die die heutige Jugend zweifelsfrei verspürt, resultieren allen voran aus einem völlig aus den Bahnen geratenden Medienkonsum – wer nach Postbank Digitalstudie 2024 über 70 Stunden in der Woche im Internet ist, dem fehlt jegliche Zeit für Besinnung und Erholung. Hinzukommen Bewegungsmangel, falsche Ernährung, fragile Familienstrukturen und weltanschaulich-religiöse Orientierungslosigkeit. Das Fass ist damit bereits voll und wird vielfach erst durch eine Überforderung an der falschen Schulart zum Überlaufen gebracht.
Unhaltbar ist dieser Vorstoß vor allem aus erziehungswissenschaftlicher Sicht: Sowohl mündliche Rechenschaftsablagen („Abfragen“) als auch Stegreifaufgaben („Exen“) können effektive und wertvolle Instrumente der Schul- und Unterrichtsentwicklung sein und daher den staatlichen Bildungs- und Erziehjungsauftrag (vgl. Art. 131 Bayerische Verfassung) wirksam unterstützen, bei dem es nicht nur darum geht, Wissen und Können zu vermitteln, sondern auch Herz und Charakter zu bilden.
“Unsere Gesellschaft ist im Kern eine Leistungsgesellschaft und es ist Aufgabe der Schule, Kinder und Jugendliche pädagogisch verantwortungsvoll in diese Welt einzuführen”
Pädagogisch verantwortungsvoll implementiert geben sie wertvolle Rückmeldung darüber, was der Schüler kann, wie er lernt und was er noch nicht kann. Sie fördern kontinuierliches und aufbauendes Lernen, in dem sie durch eine gewissenhafte und regelmäßige Arbeitshaltung vertiefte Wissensaneignung und nachhaltigen Kenntniserwerb ermöglichen. Abfragen und Exen entsprechen dem menschlichen Bedürfnis nach Leistung und trainieren die Fähigkeit, sich jederzeit und spontan anstrengen zu können, um etwas zu erreichen.
Unsere Gesellschaft ist im Kern eine Leistungsgesellschaft und es ist Aufgabe der Schule, Kinder und Jugendliche pädagogisch verantwortungsvoll in diese Welt einzuführen. Ein professioneller und pädagogisch sensibler Umgang mit Leistungserhebungen gewährleistet eine humane Lern- und Prüfungskultur, der eine Kuschelecken- und Weichspülpädagogik abträglich ist. Bildung im Sinn lebenslangen Lernens setzt voraus, nicht immer den Weg des geringsten Widerstandes zu gehen, sondern aktiv, interessiert, motiviert und resilient im Umgang mit Grenzen und Misserfolgen jene Stärke und Widerstandsfähigkeit zu erwerben, die man auch später im Beruf, in der Familie und in der Gesellschaft ein Leben lang braucht.
Neben dieser entscheidenden pädagogischen Argumentation ist zu beachten, dass rund 54.000 Unterzeichner nur eine sehr geringe Minderheit der bayerischen Bevölkerung (0,4 % von 13,5 Millionen) und nur 3,1 % (der 1,7 Millionen) Schülerinnen und Schüler darstellen. Es wäre zutiefst undemokratisch, eine pädagogisch falsche Entscheidung mit einem Minderheitenvotum derer zu treffen, denen es nur um bequeme Bildung ohne Anstrengung und Leistung geht. News4teachers
