DÜSSELDORF. In einer Studie zu Lebenslagen queerer Menschen in Nordrhein-Westfalen enthüllt eine Mehrheit der Befragten Gewalt-Erfahrungen. In einer Untersuchung für das Gleichstellungsministerium gaben über 2.800 Personen und damit eine Mehrheit der Befragten an, dass sie in den vergangenen fünf Jahren in NRW entweder selbst Übergriffe erfahren haben (37,9 Prozent) oder Personen im nahen persönlichen Umfeld kennen, die Opfer eines Übergriffs geworden sind (23,6 Prozent). Vor allem die Schule wird von vielen als Ort beschrieben, in dem sie immer wieder Diskriminierung erfahren.

In der in Düsseldorf präsentierten Studie «Queer durch NRW» geht es um die sogenannte LSBTIQ*-Community. Die Abkürzung steht für Lesben, Schwule, Bisexuelle, Transgender, intergeschlechtliche und queere Menschen sowie weitere Geschlechtsidentitäten. Schätzungen zufolge treffe das auf etwa jeden zehnten der gut 18 Millionen Einwohner in NRW zu, heißt es in der rund 270 Seiten starken Forschungsarbeit. Nach Angaben der Politikwissenschaftlerin und Autorin der Studie, Christina Rauh, handelt es sich dabei um die «bislang reichweitenstärkste und in der Tiefe umfassendste Studie dieser Art in Deutschland».
Gemeinsam mit NRW-Gleichstellungsministerin Josefine Paul (Grüne) stellte sie zentrale Ergebnisse vor:
Von denen, die Gewalt-Erfahrungen angaben, hatte sich demnach nicht einmal jeder Zehnte bei der Polizei gemeldet. «Unter den größten Hinderungsgründen, Kontakt zur Polizei aufzunehmen, befinden sich neben dem Aufwand auch Befürchtungen, dass die Polizei geringe Kompetenz zu sexueller und geschlechtlicher Vielfalt aufweist oder auch Diskriminierung durch die Polizei selbst erfolgen könnte», heißt es in der Studie.
Transgender (Menschen, denen bei Geburt ein Geschlecht zugewiesen wurde, das nicht ihrer Identität entspricht), intergeschlechtliche (Menschen, deren Geschlechtsmerkmale nicht eindeutig als weiblich oder männlich einzuordnen sind) sowie nicht binäre Personen (Menschen, die sich nicht ausschließlich als männlich oder weiblich identifizieren) hätten besonders häufig von Ungleichbehandlung sowie Diskriminierung und Gewalt-Erfahrungen berichtet.
«Innerhalb der offenen Antworten von LSBTIQ* wird deutlich, dass die aktuelle Situation an Schulen durch einen merkbaren Anstieg von Queerfeindlichkeit gekennzeichnet ist»
Mit Blick auf die Zukunft befürchten laut Studie mehr als 80 Prozent aller Befragten der LSBTIQ*-Community, dass sich ihre Situation verschlechtern wird. Sie sorgen sich vor einer zunehmenden gesellschaftlichen Polarisierung.
Aus einigen Lebensbereichen werden besonders häufig negative Erfahrungen geschildert, allen voran: in der Schule. 41,5 Prozent derjenigen, die in den vergangenen fünf Jahren in Nordrhein-Westfalen zur Schule gegangen sind, berichten den Ergebnissen zufolge von überwiegend negativen Schulerfahrungen. 58,5 Prozent berichten von positiven Erfahrungen. «Damit ist der Lebensbereich Schule derjenige unter allen abgefragten Bereichen, in dem LSBTIQ* am häufigsten negative Erfahrungen angeben», so heißt es in der Studie.
Zu den berichteten Schulerfahrungen zählen allerdings auch positive Erlebnisse: Nach konkreten Erfahrungen gefragt, berichten die Befragten am häufigsten (über zwei Drittel bzw. 69 Prozent), dass sie sich anderen in der Schule rund um ihre sexuelle oder geschlechtliche Identität anvertrauen konnten.
Insgesamt fühlt sich weit über die Hälfte (60,7 Prozent) der Betroffenen an Schulen in Nordrhein-Westfalen unterstützt. Die Hälfte der befragten LSBTIQ* (52,9 Prozent) gibt an, von Mitschüler:innen in Bezug auf die sexuelle oder geschlechtliche Identität in der Schule unterstützt worden zu sein bzw. aktuell unterstützt zu werden. Knapp jede:r Dritte (28,4 Prozent) gibt an, diese Unterstützung (auch) von Lehrkräften zu erfahren beziehungsweise erfahren zu haben.
Insgesamt vertrauen sich über zwei Drittel der LSBTIQ* (69 Prozent) ihren Mitschüler:innen (64,2 Prozent) oder (auch) ihren Lehrkräften (27,1 Prozent) an. Ebenso wurde erfragt, ob die Betroffenen wüssten, an wen sie sich bei Fragen wenden können bzw. könnten, was die Hälfte (51,5 Prozent) bejaht. Von den antwortenden LSBTIQ* berichtet über ein Drittel (39,5 Prozent), sich bei Fragen an Mitschüler:innen sowie ein Drittel (34,6 Prozent), sich an Lehrkräfte zu wenden bzw. gewandt zu haben.
«Innerhalb der offenen Antworten von LSBTIQ* wird deutlich, dass die aktuelle Situation an Schulen durch einen merkbaren Anstieg von Queerfeindlichkeit gekennzeichnet ist», so schreiben die Autorinnen und Autoren. 33,6 Prozent der Befragten berichten, Ausschluss aufgrund der sexuellen bzw. geschlechtliche Identität erfahren zu haben, 33,1 Prozent durch Mitschüler:innen und 5,4 Prozent durch Lehrkräfte. LSBTIQ* in Kleinstädten geben häufiger an, sich in der Schule ausgeschlossen oder ignoriert zu fühlen. Ein angeführtes Beispiel aus Bielefeld: «Eine Schule dort weigerte sich, ein trans* Kind auf eine selbstgewählte Toilette gehen zu lassen. Daher mussten die Eltern das Kind innerhalb der Pausen von der Schule abholen, um es zuhause auf die Toilette gehen zu lassen.»
«Solche verbalen und körperlichen Diskriminierungen und Gewalterfahrungen können weitreichende Konsequenzen für LSBTIQ* an Schulen haben»
Negativ fällt auf, dass mit 62,2 Prozent ein Großteil der Teilnehmenden von abwertenden Äußerungen berichten; 60,5 Prozent durch Mitschüler:innen und 13,7 Prozent (teils derselben Betroffenen) durch Lehrkräfte. Neben verbaler Diskriminierung wird auch körperliche Gewalt rückgemeldet: Fast jede:r fünfte befragte LSBTIQ* (18,4 Prozent) wird bzw. wurde in der Schule innerhalb der letzten fünf Jahre bedroht oder körperlich angegriffen, jede:r Zehnte (11,8 Prozent) erlebt bzw. erlebte sexualisierte Übergriffe.
18,3 Prozent der LSBTIQ* geben an, diese Bedrohung oder die körperlichen Angriffe durch Mitschüler:innen erfahren zu haben, 1,2 Prozent (auch) durch Lehrkräfte. «Solche verbalen und körperlichen Diskriminierungen und Gewalterfahrungen können weitreichende Konsequenzen für LSBTIQ* an Schulen haben. Eine Folge von psychischen, psychosomatischen oder emotionalen Belastungen kann der Schulabbruch bzw. Schulwechsel sein. Insgesamt 5,7 Prozent der antwortenden LSBTIQ* geben an, aufgrund negativer Reaktionen unter Mitschüler:innen und Lehrkräften die Schule abgebrochen bzw. gewechselt zu haben», heißt es in der Studie.
Ohnehin ist Angst ein häufiger Begleiter: Mehr als ein Drittel der Befragten fühlt sich den Ergebnissen zufolge im öffentlichen Raum eher unsicher, weitere 6,6 Prozent sehr unsicher. Mehr als drei Viertel aller Befragten meiden bestimmte Straßen, Plätze oder Parks.
Das gehöre, ebenso wie die seit Jahren steigenden Zahlen queerfeindlicher Straftaten, zu den alarmierenden Befunden, sagte Paul. «Diskriminierung und Ausgrenzungserfahrung machen etwas mit Menschen und sie beeinflussen die psychosoziale Gesundheit in negativer Art und Weise.» Nach sorgfältiger Auswertung der Studie seien daraus Konsequenzen zu ziehen.
Fast drei Viertel aller Befragten (73 Prozent) äußerten sich mit ihrem Leben zufrieden. Darüber hinaus schätzten zwei Drittel ihren Gesundheitszustand als gut oder sehr gut ein. «Das zeigt, Nordrhein-Westfalen ist ein Land der Vielfalt und wird auch so erlebt», betonte Paul. In zentralen Lebensbereichen sieht die Community allerdings den Ergebnissen zufolge nicht die gleichen Zugangschancen wie für andere Personen. Das bejahen die meisten für den Bereich Familiengründung (55 Prozent), gefolgt von mangelnder Berücksichtigung ihrer Lebenssituation in Ämtern und Behörden (47 Prozent). Außerdem sehen sich viele Befragte mit ihrem Lebensmodell mehrheitlich nicht repräsentiert: In der Politik fühlen sich nur 30,5 Prozent, in den Medien 44,3 Prozent und in Schulbüchern gar nur 5,7 Prozent repräsentiert. News4teachers / mit Material der dpa
GEW warnt: Genderverbot befördert queerfeindliche Stimmung an Schulen
