Website-Icon News4teachers

Klimakrise: Warum nicht auf die Ressource Schule zurückgreifen – und handeln?

Anzeige

AUGSBURG. “Ich arbeite am Thema Nachhaltigkeit seit Jahren am Lehrstuhl und versuche das Thema – unaufgeregt und seriös, somit fern von Fridays for Future oder Letzte Generation, was dem Thema mehr schadet als nutzt … – in die Lehrerbildung zu bringen.“ Sagt einer der renommiertesten Bildungsforscher in Deutschland, Prof. Klaus Zierer. Gemeinsam mit seinem Kollegen Hartmuth Geck hat er den heutigen Earth Overshoot Day (24. Juli) zum Anlass genommen, den folgenden Gastbeitrag zum Thema zu verfassen.

Der Klimawandel schreitet voran. Foto: Shutterstock

Klimawandel im Klassenzimmer

Neu ist der Ansatz nicht – er ist nur vielerorts in Vergessenheit geraten. Im Kampf gegen Probleme, die die Lebensgrundlagen von Menschen bedrohen, können Schulkassen ein mächtiges Schwert sein. Ein historisches Beispiel findet sich im virtuellen Museum von Ottobeuren. Um den Kartoffelkäfer, eine Bedrohung für die Ernährungssituation der deutschen Bevölkerung um 1935, einzudämmen, wurden Schulkassen in die Pflicht genommen. Das Museumsarchiv zeigt eine 26-köpfige Klasse samt Lehrkraft, die sich dem Sammeln der Schädlinge auf dem Feld von Hand verschrieben hatte. Eine Kartoffelkäferfibel, herausgegeben vom Kartoffelkäfer-Abwehrdienst des Reichsnährstandes, vermittelte die notwendige Wissensgrundlage in Versform.

Die Bedrohung durch den Käfer ist Geschichte, historisch groß sind die gegenwärtigen Bedrohungen der Menschheit. Im Gegensatz zum Kartoffelschädling ist ihr Potenzial ungleich höher, menschliches Leben zu gefährden, im schlimmsten Fall auszulöschen:Seit Jahren nehmen Naturereignisse zu, die für den Menschen katastrophal enden. Unvergesslich sind die Bilder von verkohlten Villenresten 2025 in Südkalifornien oder von versengten australischen Koalas 2019. Weltweit trockenfallende Flüsse und Seen, wie der Po in Italien oder die Auslöschung des Aralsees, Solche Bilder schockieren immer wieder und immer öfter. Im Kontrast dazu gibt es Überflutungen durch Starkregen wie bei der Aartal-Katastrophe 2021. Ebenso überwältigend im Gedächtnis ist der kürzliche Gletscherabbruch, der das schweizerische Dorf Blatten unter sich beerdigte.

Anzeige

Von Experten nicht weniger bedrohlich gesehen wird das global fortschreitende Artensterben. Laut Weltbiodiversitätsrat sind bis zu eine Million Tier-und Pflanzenarten vom Aussterben bedroht, viele davon in den nächsten 10 Jahren. Allein bei den Insekten werden Verluste von 80 Prozent innerhalb der letzten 40 Jahre beziffert. Hungersnöte durch Ernteausfälle gehören ebenso zu den möglichen Folgen wie vermehrte Pandemien, wenn Resistenzgene in natürlichen Systemen verschwinden.

Auch die Plastikflut hält an – mit jährlich geschätzt über 7 Millionen Tonnen Kunststoffeintrag in die Meere – und sie bringt erhebliche Risiken für maritime Arten, Ökosysteme und uns Verbraucher mit sich. Plastik verschwindet nicht, es zerfällt nur in immer kleinere Teile, bis es als Mikroplastik auf unsere Teller zurückkehrt.

Auch wenn noch Uneinigkeit besteht, ob all das der Mensch alleine zu verantworten hat, unstrittig erscheint doch: Der Mensch trägt Mitschuld und er kann einen Beitrag leisten, die Situation zu verbessern. Neben politischer Entschlossenheit fehlt es allerdings am entschlossenen Handeln möglichst vieler Akteure, um Dampf aus dem Kessel zu nehmen. Hier schließt sich der Kreis zum Kartoffelkäfer-Kampf unserer Großeltern. Damals wusste man das enorme Potenzial von Schulkassen zu nutzen. Warum also nicht auch heute auf die Handlungsressource Schule zurückgreifen und den Klimawandel im Klassenzimmer einläuten?

In Deutschland gibt es über 30.000 allgemeinbildende Schulen mit mehr als acht Millionen Schülern. Eine immense Menge an Menschenkraft, die gemäß dem Motto“ viele Hände, schnelles Ende“ dort anpacken könnte, wo Zuständige heillos überfordert sind. Ein konkretes Beispiel: Invasive Arten verursachen weltweit jährlich Schäden in Höhe von 423 Milliarden Dollar und spielen bei 60 Prozent der Aussterbensfälle von Lebewesen ursächlich eine Rolle. Hierzulande breitet sich die kanadische Goldrute unaufhaltsam aus. Diese anpassungsfähigen Pflanzen überwuchern natürliche Flächen und verdrängen so eine Vielzahl von einheimischen Pflanzenarten. Mit diesen verschwinden auch zahlreiche Insekten, welche seit Jahrtausenden auf die einheimischen Futterpflanzen spezialisiert sind. Das Goldruten-Problem ließe sich wirkungsvoll durch Ausreißen lösen, technische Geräte arbeiten zu wenig selektiv und effektiv. Behörden und Naturschutzverbände wissen darum. Allerdings fehlt ihnen das Personal zum Entfernen der Invasoren von Hand. Eine durchschnittliche Schule mit 15 Klassen könnte an einem einzigen Vormittag mehrere Hektar Fläche von der invasiven Pflanze befreien.

“Schüler, die beim Bäume pflanzen selbst Hand angelegt haben, strotzen vor Zufriedenheit und Stolz über das Geschaffene”

Ein anderes Beispiel: Fachleute wissen längst um das vielfältige ökologische Potenzial einheimischer Sträucher und Bäume. Beschattung, Verdunstungskühlung und ihre Eigenschaft, der Luft CO2 zu entziehen, wirken direkt und indirekt gegen Erwärmung. Lebensraum für Insekten und Vögel bieten sie obendrein. In deutschen Städten und Gemeinden gibt es zahllose Flächen in öffentlicher Hand, die eine Bepflanzung zuließen. Ein Weißdornstrauch hier, eine Vogelkirsche dort, Schritt für Schritt käme eine grüne Armada zusammen, welche die Welt wohl nicht retten, aber einen messbaren Beitrag dabei leisten könnte, dass sie für Menschen lebenswert bleibt. Der Schlüssel zur Umsetzung kann abermals in den Schulen liegen. Man stelle sich eine Gesellschaft vor, in der es üblich ist, Schulen in die Landschaftsgestaltung ihrer Region mit einzubeziehen. Eine junge Birke kostet einen Euro, sie zu pflanzen ist keine Wissenschaft, ein Auge auf sie zu haben auch nicht. Pflanzaktionen und Baumpatenschaften könnten öffentliche Stellen unterstützten und entlasten. Bei geringem finanziellem Aufwand wäre ein spürbarer ökologischer Ertrag zu erwarten.

Die skizzierten Maßnahmen wären nicht nur ein Segen für die Natur, sondern auch eine Goldgrube aus pädagogischer Sicht. Dass körperliche Betätigung eine wertvolle Abwechslung zu stundenlangem Sitzen in Schulbänken sein kann, wissen Schüler wie Lehrkräfte längst. Pestalozzis Grundidee einer ganzheitlichen Pädagogik, in der Kopf, Herz und Hand gefördert werden, durchzieht die schulischen Lehrpläne – leider zu sehr in der Theorie und zu wenig in der Praxis.

Warum also nicht an den Schulen entschlossen ins Handeln kommen? Schüler, die beim Bäume pflanzen selbst Hand angelegt haben, strotzen vor Zufriedenheit und Stolz über das Geschaffene. Sich als wichtig und wirksam zu erleben, ist eine Schlüsselerfahrung und hilft gegen die Angst vor jeglicher Zukunft. Motivation und Aktionsdrang steigen. Aber nicht nur das: Wer sich mit der Natur beschäftigt, muss auch Kompetenzen erwerben – wie viele Bäume brauche ich, um ein Hektar Fläche mit Birken zu bepflanzen? Was muss bei der Anpflanzung beachtet werden? Wie und wie oft muss gegossen werden und wie koordinieren wir an der Schule all das? Neben mathematischen Fähigkeiten sind auch naturwissenschaftliche notwendig – und wenn das ganze Projekt noch sprachlich und künstlerisch begleitet werden, dann ist Pestallozzis Forderung in die Tat umgesetzt.

In einer Zeit, in der Gesellschaften um den Erhalt ihrer Werte ringen, tun Schulen gut daran, ihren Einfluss auf Heranwachsende als große Chance zu sehen. Ökologisch geprägte Schulprojekte sind zutiefst wertegeleitet und wertestiftend. Sie schaffen Visionen von Leben, auf die als Gemeinschaft hingearbeitet wird. Sie helfen, das Rad der menschlichen Entfremdung vom Leben mit der Natur ein Stückweit zurückzudrehen. Sie schaffen Verständnis und Verantwortung junger Menschen für ihre Lebensgrundlagen, die über bloßes Wissen hinausgehen. Der verstorbene Papst Franziskus forderte in seiner Umwelt-Enzyklika „Laudato si“ die Anstrengung aller, um den durch menschlichen Missbrauch der Schöpfung Gottes angerichteten Schaden wieder gutzumachen und die Würde der Erde zu achten, wie es sein Vorgänger Benedikt XVI. formuliert hat. Millionen von Schülern, die sich für den Erhalt der Schöpfung stark machen, senden eine unmissverständliche Botschaft in die Gesellschaft: Wertebasierte Bildung, die sich auch im Handeln zeigt.

Auch fördert körperliche Betätigung im Freien die Gesundheit. Stattdessen verbringen viele Kinder bis zu zehn Stunden am Tag vor Bildschirmen, wie die Postbank Digital-Studie jüngst errechnete. Stundenlanges Tippen, mit den Augen an Endgeräten kleben. Gemessen am immensen Potenzial menschlicher Handlungsmöglichkeiten reduziert die Omnipräsenz von Smartphone und Co. das Erfahrungsspektrum von Heranwachsenden drastisch, virtuelle Welten haben längst die reale ersetzt. Kein Wunder, wenn der Gesundheitszustand der Kinder immer bedenklicher wird. Die Zahl an übergewichtigen Kindern im schulpflichtigen Alter nimmt zu, ebenso die mit Defizite in der Motorik und der Ausdauer. Angesichts der damit verbundenen Belastungen fürs Gesundheitssystem eine riskante Entwicklung für Individuum und Gesellschaft. Der regelmäßige Griff zu Handschaufel und Hacke könnte hier gegensteuern. Wer sich für die Natur ins Zeug legt, beschleunigt Puls und Atmung, kommt vielleicht sogar ins Schwitzen. Stoffwechsel und Herz-Kreislaufsystem danken. Wer im Team ein Wildbienenhotel baut, schult sein Fingergeschick an realen Materialien, plant und bohrt gemeinsam auf ein echtes Resultat hin. Wird der Weg zum Projektort noch gemeinsam zu Fuß zurückgelegt, kann daraus eine echte Fitness-Einheit werden, Nachhaltigkeit in doppelter Bedeutung. Hände taugen zu mehr als Wischen.

“Die Menschheit steht vor Herausforderungen, die sie selbst verursacht hat, sich dessen aber bis heute nicht vollends bewusst ist”

„Vom Zeitaufwand her könnte das mit prall gefüllten Lehrpläne kollidieren“, mögen Kritiker ins Feld führen. Das ist zweifelsfrei richtig. Aber seit Jahren haben wir eine kognitive Schlagseite im Schulsystem, die nicht der Bildung dient. Gerade nach den letzten PISA-Ergebnissen war der Ruf nach mehr Mathematik und Deutsch laut, obschon PISA selbst nachweist, dass mehr Stunden nicht zwangsläufig zu besseren Lernleistungen führen. Bildung ist stattdessen in all seinen Dimensionen zu begreifen, die sich noch dazu gegenseitig bedingen. Wer also seinen Körper ebenso schult wie seinen Kopf, der fördert beides und hat noch dazu mehr Freude. Ein Epochenunterricht, in dem an lebensweltlichen Fragestellungen fächerübergreifend gearbeitet wird, ist aus pädagogischer Sicht längst begründet und bekannt, er müsste nur endlich implementiert werden.

Um ins Handeln zu kommen, bieten sich weitere Unterrichtsanlässe an, wie zum Beispiel Wandertage. In puncto Lernzuwachs und Erlebnischarakter muss sich eine Auwald-Exkursion, bei der es um das Einsammeln von Plastikmüll und das Verstehen von ökologischen Zusammenhängen geht, wohl kaum hinter der x-ten Fahrt in die nächstgelegene Einkaufsmall verstecken. Zeit für Umweltprojekte wäre auch in der letzten Woche des Schuljahres, nach Notenschluss und – falls noch analog vorhanden – Abgabe der Bücher. Vor den Ferien fungiert der Lernort Schule vielerorts nur noch als Aufbewahrungsort für Schüler. Drittklassige Filme müssen über die letzten Schultage retten. Anstatt wertvolle Zeit totzuschlagen, könnte jetzt die Stunde für Natur und Umwelt schlagen.

Die Menschheit steht vor Herausforderungen, die sie selbst verursacht hat, sich dessen aber bis heute nicht vollends bewusst ist. Aus dem Land der Dichter und Denker, in dem Bildung lange Zeit großgeschrieben wurde, könnte ein Impuls für die Welt ausgehen. Ein Bildungssystem, in dem der tatkräftige Erhalt unserer Lebensgrundlagen fester Bestandteil ist, in dem Schulklassen zu Handlungspionieren einer Gesellschaft werden, würde international sicher wahrgenommen werden – sicherlich mehr als die unsäglichen Versuche einer Zwangsdigitalisierung von Schule. Der Klimawandel im Klassenzimmer wäre im doppelten Sinn die Folge. News4teachers 

Earth Overshoot Day

Der Erdüberlastungstag markiert den Punkt, ab dem wir auf Kosten künftiger Generationen leben – ökologisch betrachtet „auf Pump“.

Der Earth Overshoot Day markiert den Tag, an dem die Menschheit alle natürlichen Ressourcen aufgebraucht hat, die uns die Erde innerhalb eines Jahres zur Verfügung stellen kann. 2025 ist es der 24. Juli. “Das zeigt: Unser aktuelles Wirtschafts- und Konsumverhalten überlastet die Erde und gefährdet unsere Zukunft – und zwar immer noch zunehmend”, so heißt es beim Umweltverband WWF.

“Unsere Wirtschaft, unser Lebensstandard und die Stabilität unserer Gesellschaft beruhen auf der Verfügbarkeit natürlicher Ressourcen: sauberem Wasser, fruchtbaren Böden, einer intakten Atmosphäre und funktionierenden Ökosystemen wie tropischen Regenwäldern, Feuchtgebieten, Küstenzonen oder Ozeanen. Diese globalen Güter werden um ein Vielfaches schneller ausgebeutet, als sich die natürlichen Systeme regenerieren können.”

Anzeige
Die mobile Version verlassen