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Zehn Jahre nach „Wir schaffen das“: Wie die Schulen Integration stemmen – und warum es trotzdem nicht reicht

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BERLIN. Als Angela Merkel 2015 mit dem berühmten Satz „Wir schaffen das“ auf die Fluchtbewegung aus Syrien reagierte, standen vor allem die Schulen im Fokus. Binnen weniger Monate mussten Hunderttausende geflüchtete Kinder und Jugendliche integriert werden – ohne Blaupause, ohne Vorbereitung. Zehn Jahre später, nach einer weiteren großen Fluchtwelle aus der Ukraine, ist es Zeit für eine Bilanz. Die fällt gemischt aus: Erstaunlich viel wurde geschafft – aber das System ächzt unter seinen strukturellen Schwächen. Und noch immer fehlt ein strategischer Plan.

August 2015: Kinder in einem Flüchtlingsheim in Passau. Foto: Shutterstock / Jazzmany

Es war ein politischer Satz, der in die Geschichte einging: „Wir schaffen das.“ Angela Merkel sprach ihn am 31. August 2015 aus – auf dem Höhepunkt der damaligen Fluchtbewegung. Er wurde zur Chiffre für eine historische Herausforderung. In keinem anderen Bereich zeigte sich so unmittelbar, ob Deutschland tatsächlich in der Lage war, dem Anspruch gerecht zu werden, wie im Bildungssystem. Mehr als 300.000 Kinder und Jugendliche, die aus Syrien, Afghanistan oder dem Irak geflüchtet waren, wurden innerhalb kürzester Zeit in das deutsche Schulsystem aufgenommen – zumeist ohne Deutschkenntnisse, oft traumatisiert, teils ohne Eltern.

Die Herausforderung war gewaltig. Und das System denkbar schlecht vorbereitet.

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Der schulische Stresstest – und ein überraschend stabiles Fundament

Es gab keine erprobten Konzepte, kaum ausreichend ausgebildete Lehrkräfte für Deutsch als Zweitsprache (DaZ), keine zusätzlichen Räume, keine bundesweit einheitliche Strategie. Die Verantwortung wurde kurzerhand an die Länder – und damit an die Schulen selbst – delegiert. Was folgte, war eine gigantische bildungspolitische Improvisation.

Der Bildungsjournalist Anant Agarwala hat in seinem Buch „Das Integrationsexperiment“ dieses Jahrzehnt aufgearbeitet. Seine bereits vor fünf Jahren veröffentlichte (aber nach wie vor aktuelle) Bilanz: Trotz aller Widrigkeiten wurde Erstaunliches geleistet. In vielen Lehrerzimmern herrsche zwar chronische Überforderung – aber auch viel Engagement und Professionalität. Tausende Kinder haben unter schwierigsten Bedingungen Schulabschlüsse erreicht. Es gibt Erfolgsgeschichten von Einserabsolventinnen, Klassensprechern, Hochschulbewerbern – auch wenn sie die Ausnahme bleiben. Schulabbrecher oder Förderschüler:innen machen ebenfalls nur eine Minderheit aus.

„Dafür, wie schlecht die Labore ausgestattet sind, funktionieren die Experimente vielerorts erstaunlich gut“, schreibt Agarwala. Eine flächendeckende Fortbildungsoffensive für Lehrkräfte? Blieb aus. Verbindliche Standards für Integration? Fehlanzeige. Doch die Schulen „haben sich zurechtgeruckelt, viele Lehrerkollegien arbeiten engagiert und kompetent. Längst haben Tausende Flüchtlinge unter widrigen Bedingungen – wenig Vorbildung, wenig Förderung, wenig Halt – Abschlüsse erreicht, wenn auch meist den niedrigsten.“ Eine starke Leistung – aber auf Kosten der Belastbarkeit des Systems.

Was Integration im Alltag bedeutet – und wo sie scheitert

Ein zentrales Problem bleibt bis heute die Sprachförderung. Viele Lehrkräfte fühlen sich nicht hinreichend vorbereitet, um Kinder ohne Deutschkenntnisse im Regelunterricht „en passant“ zu integrieren. Förderstunden reichen oft nicht aus, ausgebildete DaZ-Lehrkräfte sind rar. Das rächt sich, wie eine aktuelle Stellungnahme der Ständigen Wissenschaftlichen Kommission (SWK) der Kultusministerkonferenz zeigt (News4teachers berichtete).

Laut IQB-Bildungstrend 2022 liegen im Ausland geborene Neuntklässler:innen in der Lesekompetenz im Schnitt fast vier Schuljahre hinter ihren Mitschüler:innen ohne Migrationshintergrund. Auch Schüler:innen, deren Eltern zugewandert sind, erreichen trotz Geburt in Deutschland häufig nur eingeschränkt die Bildungsstandards. Soziale Herkunft spielt dabei eine Schlüsselrolle: Viele geflüchtete Familien bringen nur ein niedriges Bildungsniveau und wenig ökonomische Ressourcen mit – und genau das schlägt sich in der schulischen Entwicklung nieder.

Zugleich zeigt sich: Der Wille zum Lernen ist da. Die Forschung spricht vom „immigrant optimism“ – viele geflüchtete Jugendliche streben nach besseren Bildungsabschlüssen, selbst wenn die Voraussetzungen dafür schlecht sind. Das Potenzial ist also vorhanden. Doch es wird vielerorts nicht ausgeschöpft.

Neue Fluchtbewegung, alte Probleme – das System gerät ans Limit

Kaum hatte sich das System auf die Geflüchteten von 2015 und den Folgejahren eingestellt, begann mit dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine im Februar 2022 die nächste große Fluchtbewegung. Wieder waren es die Schulen, die vor der Mammutaufgabe standen, zigtausende neue Schülerinnen und Schüler aufzunehmen. Nach Angaben der Kultusministerkonferenz waren es bis Ende 2023 mehr als 200.000 Kinder und Jugendliche aus der Ukraine.

Hinzu kamen Geflüchtete aus weiteren Ländern – sodass viele Schulen an ihre Grenzen gerieten. Eine Forsa-Umfrage im Rahmen des Deutschen Schulbarometers von 2022 zeigt: 53 Prozent der Schulleitungen geben an, keine Kapazitäten mehr für die Aufnahme weiterer geflüchteter Kinder zu haben. 59 Prozent sagen, dass sie den Neuankömmlingen keine ausreichende Sprachförderung bieten können. Die ohnehin angespannte Personalsituation, Raumnot und steigende Schülerzahlen verschärfen die Lage.

Experten sprechen von einem „Kraftakt“, der vielfach ins Improvisierte kippt. Es fehlen strukturierte Programme, Personal, verbindliche Qualitätsstandards – und vor allem eine nachhaltige Strategie.

Was jetzt nötig wäre: Strategien statt Symbolpolitik

Zehn Jahre nach „Wir schaffen das“ zeigt sich: Integration in der Schule funktioniert nicht durch Durchhalteparolen. Was funktioniert, ist professionelle Arbeit vor Ort – aber sie braucht den richtigen Rahmen. Die SWK fordert, endlich systematisch Wissen über gelingende Integrationsprozesse zu sammeln. Auch strukturelle Reformen wären nötig: flächendeckende Sprachförderung ab Tag 1, mehr multiprofessionelle Teams, gezielte Fortbildungen für Lehrkräfte, mehr Autonomie bei gleichzeitiger Qualitätssicherung. Und vor allem: mehr Personal.

Agarwala: „Dass es vielerorts zumindest einigermaßen läuft, hat zweifellos auch mit der freien Hand zu tun, die man den Schulen beim Experimentieren gelassen hat. Eine gewisse Autonomie ist richtig, um ein Konzept zu entwickeln, das zur Schule passt. Aber anything goes sicher nicht. Dafür ist eine gelungene Integration der Flüchtlinge für Deutschland viel zu wichtig, die Aufgabe viel zu groß. Vor allem aber schuldet man es den geflüchteten Kindern und Jugendlichen.

Was also ist zu tun? Klar scheint: Ein Passepartout-Modell, ein Königsweg, lässt sich angesichts der unterschiedlichen Gegebenheiten im Schulalltag nicht identifizieren. Den Schulen in der Integrationsgesellschaft einen Rahmen zu bieten, scheint dennoch unerlässlich. Um ihn ernsthaft zu entwickeln, müsste man das Wissen über die schulische Integration von Flüchtlingen endlich systematisch sammeln. Etwa durch eine Expertenkommission »Integration« der Kultusministerkonferenz. Sie müsste empirische Gewissheiten darüber schaffen, was in Deutschland funktioniert und was nicht, wenn Nichtmuttersprachler in die Schulen kommen. Und darüber, was man alles besser machen könnte. Denn es gibt irre viel zu tun.“

Noch immer. News4teachers

Hier lässt sich das Buch „Das Integrationsexperiment“ von Anant Agarwala gratis herunterladen. 

Schon zwei von fünf Schülern aus Einwandererfamilien: “Schulen sind Integrationsorte Nummer eins” (leider nicht so ausgestattet)

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