FREIBURG. Mathe kann wehtun – besonders dann, wenn es ans Bruchrechnen geht. Viele Sechstklässler stolpern hier zum ersten Mal über Regeln, die nicht mehr gelten. Doch lässt sich dieser „Konzeptschock“ mit digitalen Werkzeugen abfedern? Der Freiburger Mathematikdidaktiker Prof. Dr. Frank Reinhold hat das untersucht und kommt zu einem Ergebnis, das Lehrkräften aller Fachrichtungen zu denken geben dürfte: Digitales Lernen hilft vielen Schülerinnen und Schülern, überfordert aber offenbar auch manche.
Mathe, wie furchtbar! – dieser Satz dürfte vielen Lehrkräften nur allzu bekannt vorkommen. Spätestens in der sechsten Klasse, wenn Bruchrechnen auf dem Stundenplan steht, stoßen viele Schülerinnen und Schüler an ihre Grenzen. Das liegt nicht daran, dass sie plötzlich faul oder unmotiviert wären – sondern daran, dass das Thema mit vertrauten Denkgewohnheiten bricht. „Bis zur sechsten Klasse haben sie nur mit natürlichen Zahlen operiert, wofür bestimmte Mechanismen erlernt wurden. Aber genau diese werden beim Arbeiten mit Brüchen nun über den Haufen geworfen“, erklärt Prof. Dr. Frank Reinhold, Mathematikdidaktiker an der Pädagogischen Hochschule Freiburg.
Reinhold hat sich intensiv damit beschäftigt, wie man diesen „Konzeptbruch“ didaktisch besser begleiten kann – und ob digitale Lernmethoden helfen. In seinem Forschungsprojekt „Motivated Action in Learning Fractions with Digital Tools“, gefördert von der Daimler und Benz Stiftung, untersuchte er, wie adaptives digitales Lernen im Bruchrechnen wirkt. Seine Erkenntnisse dürften vor allem Mathematiklehrkräfte interessieren – und auch Stoff für bildungspolitische Diskussionen liefern.
„Die vertrauten Regeln werden plötzlich ausgehebelt“
Reinhold beschreibt, wie tiefgreifend der Bruch im Zahlverständnis ist: „Nehmen wir das Beispiel 1/3 mal 3/4: Bei natürlichen Zahlen vergrößert Multiplizieren stets eine Zahl, während diese Aufgabe zeigt, dass Produkte beim Bruchrechnen auch kleiner sein können als die beiden Faktoren. Das führt bei vielen Schülerinnen und Schülern zu kognitiven Konflikten.“
Ein weiteres Beispiel: „Bei natürlichen Zahlen gibt es das sogenannte Nachfolgerprinzip – nach der 5 kommt die 6. Bei Brüchen ist das nicht so. Zwischen 3/5 und 4/5 liegen unendlich viele rationale Zahlen. Deshalb braucht man ein altersgerechtes Konzept, das vermittelt, warum das so ist.“ Solche Umstellungen verlangen mehr als nur das Einführen neuer Rechenregeln. „Das Unterrichtsziel sollte nicht nur die Vermittlung neuer Konzepte sein. Es muss auch der Gültigkeitsbereich des ‚alten‘ Wissens abgeschwächt werden.“
„Fehlerempathie“ – und eine neue Schulbuchlogik
Ob Lehrkräften dieser Konzeptwechsel bewusst ist? „Implizit ja, doch die Frage ist, ob es explizit seinen Weg in den Mathematikunterricht findet – und das passiert tatsächlich nicht immer“, so Reinhold. In der Lehrkräfteausbildung an seiner Hochschule ist deshalb ein zentraler Bestandteil die „Fehlerempathie“: „Lehrkräfte sollen verstehen, wo die Fehlvorstellungen der Schülerinnen und Schüler herkommen – und diese Fehler als Lernchance nutzen.“
Das betreffe auch die Unterrichtsmaterialien: „Ein Schulbuch sollte nicht nur sagen: Ab jetzt funktioniert es so und so. Es muss vielmehr darlegen, warum und ab wann das früher Erlernte nicht mehr funktioniert.“ Die Verunsicherung vieler Lernender sei ein zentraler Punkt. „Was darf ich denn jetzt noch? Die Idee von Multiplizieren als wiederholtem Addieren funktioniert bei rationalen Zahlen nicht mehr, wenn die Faktoren keine natürlichen Zahlen sind. Man bildet bei Brüchen den Anteil eines Anteils – wie im Beispiel 1/3 mal 3/4. Genau das muss man verstehen.“
Digitaler Unterricht: kein Selbstläufer
Reinholds Forschung zielte darauf, die Vermittlung dieser Konzepte mit digitalen Mitteln zu unterstützen. „Das Damoklesschwert bei digitalen Medien ist der motivationale Neuheitseffekt – also ein kurzfristiger Schub, weil ich mich mit etwas Neuem und Interessantem auseinandersetze. Aber den wollen wir gerade nicht! Unser Ziel ist vielmehr eine Veränderung der kognitiven Lernprozesse durch eine Veränderung des Unterrichtsangebots.“
Die eingesetzte digitale Lernumgebung – ursprünglich an der TU München entwickelt – ist adaptiv und folgt drei Prinzipien:
- Individuelles Fortschreiten: Neue Inhalte erscheinen erst, wenn das vorherige Themengebiet verstanden ist.
- Differenziertes Feedback: Rückmeldungen gehen über „richtig“ oder „falsch“ hinaus und greifen individuelle Schülerlösungen auf oder modellieren den korrekten Lösungsweg.
- Interaktive Anschaulichkeit: Fachlich komplexe Inhalte werden so anschaulich wie möglich dargestellt, sodass die Schülerinnen und Schüler aktiv mit dem Material arbeiten müssen.
Für seine Untersuchung teilte Reinhold 300 Schülerinnen und Schüler in zwei Gruppen: die eine nutzte die adaptive digitale Lernumgebung auf dem iPad, die andere arbeitete mit einer gleichwertigen nicht-adaptiven Papier-Version derselben Aufgaben.
Das Ergebnis fiel differenziert aus: „Etwa 45 Prozent der Schülerinnen und Schüler profitiert von der adaptiven Lernumgebung am iPad durch bessere Lernerfolge – so lauteten auch unsere Hypothesen“, so Reinhold. „Für rund 40 Prozent spielt der Modus der Vermittlung keine wesentliche Rolle. Und für 15 Prozent zeigen sich negative Effekte – das ist eine zu große Zahl.“
Besonders problematisch: „Wir haben eine Gruppe von Schülerinnen und Schülern, die die digitale Lernumgebung in einer Form verwendet, wie wir sie auf keinen Fall wollen. Sie klicken einfach wild irgendwelche Knöpfe; wir haben das Problem ‚Gaming the System‘ genannt“, so Reinhold. Das sei kein Randphänomen: „Bei Papier würden diese Schüler einfach einige Aufgaben rechnen – nicht aber das Material für andere Zwecke missbrauchen. Hier wirkt sich der Neuheitseffekt beim digitalen Lernen negativ aus.“
Brisant: Die 15 Prozent, bei denen die digitalen Methoden nicht greifen oder sogar schaden, sind häufig nicht die starken, sondern die leistungsschwächeren Schülerinnen und Schüler – also genau jene, die man gezielt fördern möchte. Reinholds Fazig: „Digitale Tools funktionieren also nicht per se, sondern nur dann, wenn sie von den Schülerinnen und Schülern richtig genutzt werden. Deshalb wollen wir weitere Studien durchführen, die langfristig angelegt sind.“
Für die Zukunft wünscht sich der Didaktiker mehr echte Zusammenarbeit unter Lehrkräften – gerade in der Unterrichtsvorbereitung. „Nicht jeder muss denselben Stoff vorbereiten, sondern könnte von Materialien profitieren, die sich bewährt haben.“ Außerdem fordert er Unterrichtskonzepte, die aufeinander aufbauen, mehr Offenheit für neue Formate und „einheitliche und vor allem didaktisch hochwertige Unterrichtsmaterialien“. Das sei nur möglich durch eine abgestimmte Kooperation aller Beteiligten: „von den einzelnen Lehrkräften und den Schulen über die bundesweite Bildungspolitik bis hin zu den Schulbuchverlagen – insbesondere unter Einbezug der Wissenschaft.“ News4teachers
Das Forschungsprojekt: „Motivated Action in Learning Fractions with Digital Tools“ untersucht, wie adaptive digitale Lernumgebungen das Bruchrechnen in der sechsten Klasse unterstützen können. Finanziert wurde es mit 40.000 Euro aus dem Stipendienprogramm für Postdoktoranden und Juniorprofessoren der Daimler und Benz Stiftung.
Die Stiftung: Die Daimler und Benz Stiftung fördert innovative, interdisziplinäre Forschung und legt besonderes Augenmerk auf den wissenschaftlichen Nachwuchs. Das Stipendienprogramm unterstützt jährlich zwölf Postdoktoranden oder Juniorprofessoren mit jeweils 40.000 Euro, die flexibel für Forschung, Reisen, Hilfskräfte oder Technik eingesetzt werden können. Durch regelmäßige Treffen des Stipendiatennetzwerks wird zudem der fachübergreifende Austausch gestärkt.