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Das Schulsystem braucht “Updates” – Grundschul- (und TikTok-)Lehrer Emmanuel Krüss

DÜSSELDORF. Lehrkräftemangel, fehlende Multiprofessionalität, eine schleichende Digitalisierung und zu viel Lernstoff: Aus Sicht von Emmanuel Krüss befindet sich das deutsche Bildungssystem gerade einmal auf dem Stand eines iPhone 3. Im zweiten Teil des News4teachers-Interviews fordert der Hamburger Grundschullehrer dringend „Updates“ – nicht nur im System, sondern auch in vielen Köpfen.

Hier geht es zu Teil 1 des Interviews.

Ganz schön eingestaubt, das deutsche Bildungssystem… Illustration: Shutterstock

News4teachers: Sie haben es ganz kurz angeschnitten: Sie möchten Ihren Schüler*innen das geben, was Ihnen zu Ihrer Schulzeit gefehlt hat. Was möchten Sie als Lehrer besser machen?

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Emmanuel Krüss: Meine eigene Schulzeit war natürlich noch von einer ganz anderen Zeit geprägt – in den Neunzigern. Damals gab es noch deutlich weniger Sensibilität für viele -ismen als heutzutage. Ich hatte zwar auch gute Lehrkräfte, aber spätestens ab der weiterführenden Schule war das Verhältnis eher distanziert, sehr fachlich, weniger persönlich.

Wenn ich damals rassistisch angegangen wurde, musste ich das teilweise hinnehmen. Statt Unterstützung zu bekommen, wurde mir zum Beispiel gesagt, dass man N-Wort-Küsse nun mal früher gesagt hat. In vielen dieser Situationen habe ich mich dann einfach hilflos gefühlt. Ich hatte auch keine Identifikationsfigur, denn das Lehrkräftebild war damals noch – ich sag jetzt mal – sehr „biodeutsch“. Ich selbst bin die einzige Schwarze** Lehrkraft, die ich kenne. Hätte ich damals eine Schwarze Lehrkraft erlebt, mit der ich mich hätte verbunden fühlen können, hätte mir das sicher in vielen Situationen mehr Sicherheit gegeben.

Es geht mir aber nicht nur um die Hautfarbe, sondern auch allgemein um den Umgang mit Kindern: Ich versuche, sehr zugewandt zu sein, ihnen zuzuhören und über die Beziehung zu arbeiten – da bin ich eher der Pädagoge. In der Schule braucht es beides: Lehrkräfte müssen sowohl fachlich stark sein als auch Nähe herstellen können. Genau das versuche ich.

„Eigentlich müsste man das ganze System einmal komplett neu aufrollen.“

News4teachers: Und wie erleben Sie das deutsche Bildungssystem jetzt aus Ihrer Position als Lehrkraft?

Krüss: Ich würde unser Schulsystem mit einem iPhone 3 in der heutigen Zeit vergleichen. Es gibt zwar erkennbare Versuche, mit der Zeit mitzugehen, zum Beispiel der Digitalisierung Rechnung zu tragen und stärker auf die Bedürfnisse der Schülerinnen und Schüler einzugehen, aber es braucht dringend deutlich mehr „Updates“.

Viele Strukturen sind nicht mehr zeitgemäß. Eigentlich müsste man das ganze System einmal komplett neu aufrollen: Es gibt viel zu wenige Lehrkräfte, zu viel Stoff, zu wenig spezialisiertes Personal. Darüber könnte ich stundenlang sprechen.

Gleichzeitig ist eine gewisse Bemühung erkennbar. Aber gerade in der Corona-Pandemie hat man gesehen, wie rückständig das Schulsystem an vielen Stellen noch ist. Mein Wunsch wäre, dass wir uns wirklich weiterentwickeln – vom iPhone 3 hin zum iPhone 16. Da gibt es aus meiner Sicht noch enormen Aufholbedarf.

Unter dem Handle @emulution folgen dem Hamburger Grundschullehrer Emmanuel Krüss knapp 799.000 Menschen auf TikTok. Foto: Privat

News4teachers: Alles auf einmal lässt sich ja nicht angehen. Wo sehen Sie aktuell den dringendsten Handlungsbedarf?

Krüss: Da muss ich kurz überlegen… Ich glaube, das Wichtigste ist die Personalsituation. Die ist im Moment wirklich schwierig. Es gibt allgemein in Deutschland zwar einen Lehrkräftemangel, aber gleichzeitig in manchen Städten auch einen Überschuss. Wir brauchen dringend ein System, das für eine bessere Abdeckung sorgt – auch mit ergänzenden Fachkräften. Sonst laufen wir Gefahr, dass viele Lehrkräfte im Burnout landen. Ich kenne viele Kolleginnen und Kollegen, die mit Herzblut in diesem Beruf arbeiten und alles geben, aber dafür mit ihrer Gesundheit, mental und physisch, bezahlen.

Und dann – jetzt komme ich schon zu einem zweiten Punkt – wäre mehr finanzielle Unterstützung wichtig. Oft zahlt man als Lehrkraft Materialien und Ähnliches aus eigener Tasche, weil es zu lange dauern würde, den passenden Antrag zu stellen. Mir fallen noch viel mehr Sachen ein, die sich dringend ändern müssten. Es gibt auf jeden Fall sehr viel zu tun.

News4teachers: Und wie bewerten Sie das deutsche Bildungssystem aus Ihrer Perspektive als Schwarze Person? Was gibt es da noch zu tun? Wo sind Sie mit Problemen konfrontiert?

Krüss: Zum Glück an meinem Standort nicht so stark; wir sind sehr divers. Aber ich bin mir sicher: Würde ich an einem anderen Standort arbeiten, wäre ich zu hundert Prozent mit Schülerinnen, Schülern oder Eltern konfrontiert, die noch nicht das „neueste Update“ in Sachen Sensibilität gegenüber Minderheiten haben.

Ich könnte unzählige Geschichten erzählen. Ich wurde zwar nicht direkt rausgemobbt oder angegangen, aber allein, was teilweise an Gedankengut in einigen Köpfen existiert – vor allem von Eltern! –, ist schon schockierend. Dieser Kontrast ist für mich sehr bemerkenswert: Auf der einen Seite haben wir ChatGPT, Künstliche Intelligenz und die Möglichkeit, mit einem Knopfdruck alles Mögliche zu erledigen, – und gleichzeitig gibt es Eltern, die der Meinung sind, dass ich die Sonne nicht so sehr brauche, weil ich schon braun genug bin…

„Es gibt Eltern, die mir folgen oder meinen Content sogar ihren Kindern zeigen.“

News4teachers: Apropos Eltern – welche Rückmeldungen bekommen Sie von den Eltern Ihrer Schüler*innen zu Ihrem Online-Content?

Krüss: Auch da bin ich sehr privilegiert: Ich würde sagen, 90 Prozent der Reaktionen sind positiv. Es gibt Eltern, die mir folgen oder meinen Content sogar ihren Kindern zeigen. Ich finde, es ist auch eine sehr spannende Zeit, in der wir leben. Lehrkräfte sind heute noch mal anders sichtbar, wenn sie sich im Internet bewegen.

Natürlich bin ich mir sicher, dass es auch Eltern gibt, die das kritisch sehen, aber mein Eindruck ist, dass die meisten das – wenn auch vielleicht mit etwas Distanz – trotzdem respektieren. Was ich mache, ist ja auch nichts Schlimmes – vielleicht manchmal ein bisschen überdreht oder „cringe“, wie die Generation von heute sagen würde.

News4teachers: Wie steht Ihr Kollegium dazu? Gibt es auch Kolleg*innen, die Ihnen folgen?

Krüss: Da gibt es sicherlich auch ein paar, die mir folgen. Mit manchen habe ich sogar schon Content zusammen gemacht. Natürlich gibt es auch welche, die damit gar nichts anfangen können – aber gerade an meinem Standort bin ich unglaublich dankbar, dass wir alle so divers sind. Der eine bringt mehr Kompetenz im Bereich Didaktik oder Classroom-Management mit, und ich sehe meine Stärke eher darin, die Lebensrealität der Kinder nachvollziehen zu können – ihre Sprache, ihre Themen, ihre Perspektiven.

Der Grund, warum ich das so betone, ist: Ich kenne auch viele Geschichten, in denen Kollegien nicht besonders positiv reagiert haben, wenn Lehrkräfte auf Social Media aktiv waren. Deshalb bin ich wirklich froh, dass es bei uns anders ist und ich von den meisten meiner Kolleginnen und Kollegen ein klares „Daumen hoch“ bekomme.

News4teachers: Und bei Ihren Schüler*innen? Haben Sie da als Content Creator Superstar-Status?

Krüss: Es ist eine Mischung, ich kann da aus zwei Lebensabschnitten berichten. Während meines Referendariats war ich noch an einer weiterführenden Schule. Dort haben die Jugendlichen ganz anders reagiert: Da kam oft so etwas wie: „Hey, können wir ein Selfie machen? Können wir ein Video drehen? Du bist doch der und der…“.

An der Grundschule ist das anders. Die Kinder erzählen mir zwar manchmal, dass sie meine Videos gesehen haben, aber dann ist das Thema auch schon wieder erledigt. Sie hängen sich nicht so sehr daran auf – und das finde ich eigentlich sehr schön. Natürlich finden sie es cool, dass ihr Lehrer im Internet zu sehen ist, aber letztlich behandeln sie mich deswegen nicht anders.

„Da zeigt sich sehr deutlich, wie stark gesellschaftliche Prägungen wirken.“

News4teachers: Sie sind nicht nur als Schwarze Lehrkraft, sondern auch als Mann im Grundschulbereich eher eine Rarität. Wie ist das bei Ihnen an der Schule? Und begegnen Ihre Schüler*innen Ihnen als Mann anders als Ihren Kolleginnen?

Krüss: Tatsächlich ist es so, dass ich – abgesehen von meinem Schulleiter – der einzige Mann an meiner Schule bin. Und gleichzeitig auch der einzige mit Migrationshintergrund. Im Schulalltag erlebe ich schon, dass mir die Kinder zum Teil anders begegnen. Da zeigt sich sehr deutlich, wie stark gesellschaftliche Prägungen wirken und welche kulturellen Vorstellungen sie mitbringen – zum Beispiel, dass der Mann irgendwie „an der Spitze“ steht. Das führt dazu, dass meine Autorität schneller akzeptiert wird als die einer Kollegin – und das finde ich problematisch. In solchen Situationen versuche ich, den Kindern klarzumachen, dass es keine Rolle spielt, ob in der Schule vor ihnen eine Frau oder ein Mann steht – Lehrkräfte sind Lehrkräfte. Wenn sie etwas sagen, gilt das. Wenn man anderer Meinung ist, kann man darüber diskutieren, aber respektvoll.

Gleichzeitig merke ich aber auch, wie wichtig es gerade für die Jungen ist, an der Grundschule eine männliche Identifikationsfigur zu haben. Manche Jungs wollen sich einfach körperlich austesten, raufen oder messen – und da suchen sie eher den Kontakt zu einem Lehrer als einer Lehrerin. Das heißt nicht, dass Frauen das nicht auch könnten, aber man spürt schon eine gewisse Tendenz der Kinder. Insofern nehme ich diese Rolle auch an, weil sie ihnen etwas gibt, das sie offenbar brauchen.

News4teachers: Wenn man die Vorurteile gegenüber den Geschlechtern bedenkt, mit denen Kinder aufwachsen, kommen Jungen vielleicht gar nicht auf die Idee, dass sich auch eine Lehrerin mit ihnen raufen könnte.

Krüss: Genau, so ist es. Und im selben Atemzug bin ich immer sehr positiv überrascht, wenn zum Beispiel auch Jungen zu mir kommen und sich eine Umarmung abholen. Sie sehen, wie ich mit anderen Kindern interagiere, und fühlen sich dadurch frei genug, ihre Zuneigung ebenfalls auf diese Weise zu zeigen. Gesellschaftlich wird ja immer noch vermittelt, dass ein Mann immer stark sein muss und nicht weinen darf. Ich habe dann auch sehr das Gefühl, am richtigen Ort sein, wenn ich den Kindern signalisieren kann: Es ist völlig in Ordnung zu weinen – auch ich habe schon geweint, wenn etwa was Schönes passiert ist. Ich versuche, diese Vorurteile und starren Rollenbilder, so gut es geht, aufzufangen.

News4teachers / Anna Hückelheim, Agentur für Bildungsjournalismus, führte das Interview.

Hier geht es zu Teil 1 des Interviews.

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**Schwarz: wird in diesem Interview auch als Adjektiv großgeschrieben, um darauf aufmerksam zu machen, „dass es eine politische Realität und Identität bedeutet“, wie Noah Sow, Autorin, Dozentin, Künstlerin und Aktivistin, in ihrem Buch „Deutschland Schwarz Weiß – Der alltägliche Rassismus“ erklärt. Schwarz, so Noah Sow, ist „die politisch korrekte und vor allem selbstgewählte Bezeichnung für Schwarze Menschen“.

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