BERLIN. Zehn Jahre nach der „Flüchtlingskrise“ von 2015 zieht Deutschland Bilanz – mit einem ambivalenten Befund: Während Geflüchtete heute in großer Zahl im Arbeitsmarkt Fuß gefasst haben, bleibt das Bildungssystem auf die Integration schlecht vorbereitet. Fehlende Kita-Plätze bremsen die Erwerbstätigkeit von Frauen, an den Schulen zeigt sich ein dramatischer Qualitätsverlust – und Lehrkräfte mussten die Versäumnisse der Politik ausbaden. Eine Analyse von News4teachers-Herausgeber Andrej Priboschek.
Haben wir’s geschafft (wie die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel 2015 vorhergesagt hat)? Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) zieht eine erfreuliche Zwischenbilanz: Viele Geflüchtete, die damals nach Deutschland kamen, sind inzwischen im deutschen Arbeitsmarkt angekommen. Im aktuellen Kurzbericht heißt es: „Bei den 2015 zugezogenen Schutzsuchenden ist die Beschäftigungsquote neun Jahre nach dem Zuzug auf 64 Prozent gestiegen – im Vergleich zu 70 Prozent in der Gesamtbevölkerung im vierten Quartal 2024“.
Auch die Einkommen hätten sich stabilisiert. „Der Medianmonatsverdienst vollzeitbeschäftigter Geflüchteter stieg von 1.398 Euro im ersten Jahr auf 2.675 Euro im Jahr 2023. Das entspricht 70 Prozent des Medians der Bruttomonatsverdienste aller in Vollzeit abhängig Beschäftigten in Deutschland“, so die Forscher. Von den abhängig Beschäftigten könnten „84 Prozent ihren Lebensunterhalt ohne ergänzende Leistungen bestreiten“.
Einordnung liefert das IAB-Forum: „Zehn Jahre nach dem massiven Anstieg der Fluchtmigration im Jahr 2015 zeigt sich: Vielen Geflüchteten ist der Einstieg in den deutschen Arbeitsmarkt gelungen – wenn auch nicht allen im gleichen Maße.“ Die Integration sei vor allem dort erfolgreich, wo „zügige Asylverfahren, sichere Bleibeperspektiven, Sprachkurse und arbeitsmarktorientierte Förderung“ gegeben waren. Die Erfahrungen zeigen damit auch: Integration ist möglich – wenn die politischen Rahmenbedingungen stimmen.
Besonders bemerkenswert ist der Blick auf syrische Männer, die die größte Gruppe unter den Geflüchteten stellen. Laut IAB haben sie mittlerweile eine Erwerbsquote erreicht, die über der der übrigen Männer in Deutschland liegt. Auffällig ist zudem, dass viele von ihnen in Bereichen arbeiten, die für das Funktionieren der Gesellschaft besonders wichtig sind – etwa in der Pflege, im Gesundheitswesen, in der Logistik oder in handwerklichen Berufen. Gerade diese Tätigkeiten gelten als systemrelevant, wie die Pandemie eindrücklich gezeigt hat. Damit tragen Geflüchtete nicht nur zur Beschäftigungsquote, sondern auch spürbar zur Stabilisierung des Arbeitsmarkts in Engpassberufen bei.
Doch das Bild ist geschlechtsspezifisch scharf gespalten. Während neun Jahre nach Ankunft etwa 76 Prozent der Männer beschäftigt waren, lag die Beschäftigungsquote der Frauen nur bei 35 Prozent. Das IAB betont: „Besonders negativ fällt der Zusammenhang zwischen der Erwerbstätigkeit und dem Zusammenleben mit Kindern unter sechs Jahren aus – sowohl für Frauen, als auch, wenngleich schwächer, für Männer“.
„Es fehlen Personal und Klassenräume; und noch immer sind viele Lehrkräfte nicht auf den Umgang mit nicht-deutschsprachigen Kindern vorbereitet“
Hier zeigt sich eine zentrale Schwachstelle der Integrationspolitik: Fehlende Kita-Plätze verhindern nicht nur den Berufseinstieg von Frauen, sie bremsen damit die Integration ganzer Familien. Integration bleibt also nicht allein eine Frage von Arbeitsmarktprogrammen, sondern auch von verlässlichen familien- und bildungspolitischen Strukturen.
Das zeigt sich auch an den überforderten und strukturell unvorbereiteten Schulen. Als 2015/16 mehr als 250.000 minderjährige Geflüchtete nach Deutschland kamen, wuchs der Anteil geflüchteter Schülerinnen und Schüler an allgemeinbildenden Schulen sprunghaft: von 34.000 im Jahr 2014 auf 230.000 im Jahr 2017, wie der Mediendienst Integration bilanziert. Mit der Ukraine-Fluchtbewegung 2022/23 kam erneut eine ähnlich hohe Zahl hinzu.
Viele Schulen richteten sogenannte Willkommens- oder Vorbereitungsklassen ein. Doch dieser Weg erwies sich als problematisch. „Der Unterricht erfolgte oft konzeptlos ohne Lehrplan und verhinderte die Integration der neu zugewanderten Kinder“, so der Mediendienst Integration. Eine Studie von 2022 zeigte: Kinder, die früh in Regelklassen unterrichtet wurden, schnitten besser in Mathematik und Deutsch ab – ein Befund, der unlängst erst durch eine weitere Untersuchung bestätigt wurde (News4teachers berichtete).
Manche Bundesländer haben daraufhin ihre Konzepte geändert, ukrainische Kinder wurden häufiger direkt in Regelklassen mit zusätzlicher Deutschförderung aufgenommen. Doch das änderte nichts am Grundproblem: „Es fehlen Personal und Klassenräume; und noch immer sind viele Lehrkräfte nicht auf den Umgang mit nicht-deutschsprachigen Kindern vorbereitet“, wie der Mediendienst Integration feststellt.
Dabei hängt auch die schulische Integration eng mit der frühen Betreuung zusammen. Fehlende Kita-Plätze verhindern nicht nur den Berufseinstieg von geflüchteten Frauen, sondern nehmen den Kindern auch die Chance auf frühe Sprachförderung. Der Mediendienst Integration verweist darauf, dass viele Kinder „im Durchschnitt während und nach der Flucht über ein Jahr keine Schule besucht“ haben – eine Lücke, die nur durch sehr frühe Förderung geschlossen werden könne. Das rächt sich bis heute im Schulsystem, wo Sprachdefizite den Bildungserfolg blockieren.
„Geflüchtete Schüler besuchen oft Klassen, die ihrem Alter nicht entsprechen“
Zur Frage der erreichten Abschlüsse von Flüchtlingskindern liegen nur wenige Daten vor – die Tendenz ist jedoch klar. „Geflüchtete Schüler besuchen oft Klassen, die ihrem Alter nicht entsprechen. Gerade bei älteren Schülern fällt die Integration schwer: sie besuchen länger die Grundschule, häufiger die Berufs- oder Förderschulen und verlassen die Schule öfter ohne Abschluss als andere Schüler“, fasst der Mediendienst Integration zusammen.
Ursachen seien nicht primär der sozioökonomische Hintergrund, wie bei anderen Migrantengruppen, sondern „Sprachbarrieren, der Bruch in der Bildungsbiografie und das schwierige Lernumfeld in Unterkünften“. Viele Jugendliche hätten während und nach der Flucht über ein Jahr lang keine Schule besucht – eine Lücke, die schwer zu schließen sei. Damit wird deutlich: Integration im Bildungsbereich gelingt nicht automatisch über die Zeit, sondern erfordert gezielte politische Steuerung und Ausstattung.
Eine Befragung von 2017 unter geflüchteten Kindern und Jugendlichen zeigte dennoch Erstaunliches: „Eine insgesamt hohe Lebenszufriedenheit, ähnlich wie bei deutschen Kindern. Drei Viertel verbrachten ihre Freizeit mit deutschen Kindern. 86 Prozent schätzten ihre Deutschkenntnisse als gut oder sehr gut ein“, wie der Mediendienst Integration berichtet.
Eine Langzeitbefragung von 2018 kam zu einem differenzierten Bild: Zwar fühlten sich die meisten sprachlich integriert, doch bei vertieften Sprachkenntnissen – etwa dem Verstehen einer Fernsehsendung oder dem Lesen eines Buches – zeigten sich Defizite. Das Fazit der Studienautorinnen und -autoren: „Die Sprachförderung muss deshalb deutlich ausgebaut werden.“
„Die Lage an Deutschlands Schulen bleibt schlecht. Sie hat sich gegenüber 2024 weiter leicht verschlechtert“
Prof. Mona Massumi von der FH Münster, die zu diesem Thema forscht, erklärt: „Geflüchtete Schülerinnen und Schüler gehen zu oft im Schulsystem unter. (…) Grundsätzliche Probleme, wie fehlendes Personal oder fehlende Schulplätze, werden in Debatten häufig auf Neuzugewanderte bezogen. Gleichzeitig wird nicht auf ihre individuellen Bedarfe – fachlich, sprachlich oder persönlich – eingegangen.“
Auch der aktuelle Bildungsmonitor des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) bestätigt die Krisensymptome. „Die Lage an Deutschlands Schulen bleibt schlecht. Sie hat sich gegenüber 2024 weiter leicht verschlechtert“, bilanziert Axel Plünnecke, der die (erst in Teilen veröffentlichte) Studie verantwortet, wie News4teachers berichtete.
Besonders gravierend sei die Lage bei Kindern aus Flüchtlingsfamilien. „2015 war die Wasserscheide. Bis dahin verbesserten sich die Ergebnisse, danach verschlechterten sie sich“, so Plünnecke. Das Schulsystem sei auf die Herausforderungen „nicht vorbereitet“ gewesen. „Heute haben die Kinder in 30 bis 40 Prozent unserer Schulen große Defizite. Viele erreichen etwa beim Lesen die Mindeststandards nicht“. Damit wird deutlich: Nicht allein die Pandemie oder die Digitalisierungskrise haben das Schulsystem ins Wanken gebracht – die unzureichende politische Reaktion auf die Fluchtmigration von 2015 wirkt bis heute nach.
VBE: Politik hat sich auf die Schulen verlassen
Der Verband Bildung und Erziehung (VBE) wehrt sich deshalb zu Recht gegen den Vorwurf, die Schulen hätten versagt. Bundesvorsitzender Gerhard Brand betont: „Wir brauchten schnelle Lösungen für komplexe Herausforderungen. (…) Auf die Bewältigung einer Aufgabe dieser Größenordnung in so kurzer Zeit war das Bildungssystem nicht vorbereitet. Es ist einzig dem großen Engagement der Lehrkräfte und Schulleitungen, der Schulsozialarbeit und den Erzieherinnen und Erziehern zu verdanken, dass es den miserablen Rahmenbedingungen zum Trotz funktionierte.“
Politik habe sich darauf verlassen, dass Schule es schon hinbekommt. „Wir haben damals wie heute stets darauf hingewiesen, wie die Situation vor Ort ist, wie es anders laufen müsste, welche Unterstützung für Lehrkräfte notwendig wäre“, sagt Brand und betont: „Im Nachhinein mit dem Finger auf Schule zu zeigen, und die enorme Leistung schlechtzureden, ist nicht der richtige Weg. Mit den Rahmenbedingungen, die wir hatten, haben wir die ankommenden Kinder insbesondere 2015 und auch 2022 bestmöglich integriert.“
Die Flüchtlingsmigration, das lässt sich festhalten, hat das Kernproblem des deutschen Bildungssystems nochmal verschärft: Der Bildungserfolg eines Kindes hängt im Wesentlichen von den Startchancen ab, die ihm seine Familie mitgeben kann. Brand: „Es ist nicht das Merkmal ‚Migrationshintergrund‘, das eine direkte Korrelation zu schlechteren Bildungsergebnissen aufweist, sondern der ökonomische Status des Elternhauses und die Möglichkeit, dort Deutsch zu sprechen. Das sind Faktoren, bei denen wir ansetzen müssen.“
Traurig, dass das nach zehn Jahren noch gesagt werden muss. News4teachers