HALLE. Die Nutzung sozialer Medien beginnt bei Kindern heute oft schon im Grundschulalter – und sie nimmt in Intensität und Eigenständigkeit rasant zu. In Deutschland nutzen laut Studien inzwischen 71 Prozent der 12- bis 13-Jährigen mindestens einmal pro Woche TikTok, viele davon täglich und über Stunden. Die Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina hat nun ein Diskussionspapier vorgelegt, das den Handlungsdruck deutlich macht. Es beschreibt nicht nur die Risiken, sondern warnt vor eindimensionalen Lösungen. Handy-Verbote, so der Tenor: Sie sind sinnvoll – aber ohne begleitende Medienbildung nicht ausreichend.
Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler verweisen auf alarmierende Befunde. Eine von der WHO 2021/22 durchgeführte internationale Befragung ergab, dass in Deutschland inzwischen elf Prozent der Jugendlichen ein suchtartiges Nutzungsverhalten aufweisen – 2018 waren es erst sieben Prozent. Auch die DAK-Längsschnittstudie zeigt, dass mehr als ein Fünftel der 10- bis 17-Jährigen riskant mit sozialen Medien umgeht. „Eine intensive oder suchtartige Nutzung sozialer Medien [ist] mit einer Reihe psychischer Belastungen verbunden“, heißt es in dem Papier. Dazu gehörten depressive und ängstliche Symptome, Nervosität, Schlafprobleme, Konzentrationsschwächen, Essstörungen und sogar suizidale Gedanken. Die negativen Folgen träten vor allem bei langer täglicher Nutzung auf – und gerade diese sei bei vielen Jugendlichen längst Normalität.
Politisch setzt sich vielerorts die Linie durch, das Problem über restriktive Vorgaben an Schulen anzugehen. Hessen etwa will ab dem Schuljahr 2025/26 die private Smartphone-Nutzung auf dem gesamten Schulgelände untersagen, das Saarland plant ein ähnliches Verbot für Grundschulen, Bayern hat es bereits im Gesetz verankert. Die Leopoldina verweist auf Studien, die zwar positive Effekte solcher Regelungen auf Wohlbefinden, Sozialverhalten und schulische Leistungen nahelegen, betont aber zugleich, dass die Evidenz insgesamt uneinheitlich ist. Manche Untersuchungen hätten keine klaren Vorteile belegen können. Damit wird klar: Die Geräte aus der Schule zu verbannen mag ein Schritt sein – es löst die dahinterliegenden Probleme nicht automatisch.
„Frühkindliche Medienbildung ist kein ‘nice to have’, sondern der entscheidende Startpunkt, um spätere Verbote obsolet zu machen“
Genau diesen Punkt betonen auch die Gesellschaft für Medienpädagogik und Kommunikationskultur (GMK) und das Deutsche Kinderhilfswerk. In einer aktuellen Erklärung kritisieren sie, die Verbotsdebatten griffen „deutlich zu kurz“, verschärften soziale Ungleichheiten und blendeten die Lebenswelten von Kindern und Jugendlichen aus. Notwendig sei ein „Paradigmenwechsel“: Regulatorische Ansätze müssten zwingend mit „befähigender, lebensweltbezogener Medienbildung“ kombiniert werden – und zwar entlang der gesamten Bildungskette, beginnend schon in der frühkindlichen Bildung.
„Frühkindliche Medienbildung ist kein ‘nice to have’, sondern der entscheidende Startpunkt, um spätere Verbote obsolet zu machen“, sagt GMK-Co-Geschäftsführer André Weßel. Deshalb schlagen die Verbände eine Ausweitung des Digitalpakts 2.0 auch auf Kitas vor – als „Digitalpakt Medienbildung von Anfang an“.
In die gleiche Kerbe schlägt die Leopoldina. „Kinder und Jugendliche sollen einerseits vor den potenziellen Gefahren sozialer Medien geschützt werden, andererseits […] zu einem souveränen, reflektierten und kompetenten Umgang mit ihnen befähigt werden“, formulieren die Autorinnen und Autoren der Leopoldina ihr Leitprinzip. Schutz bedeutet für sie, den Zugang zu regulieren – unter 13 Jahren gar nicht, zwischen 13 und 15 Jahren nur mit elterlicher Zustimmung, für Ältere mit deutlich eingeschränkter Funktionalität. Doch genau so wichtig sei es, die Jüngeren und ihre erwachsenen Bezugspersonen zu befähigen, digitale Angebote kritisch und selbstbestimmt zu nutzen.
Deshalb schlagen die Forschenden einen „digitalen Bildungskanon“ vor, der bereits in Kitas und Schulen verankert wird. Dieser solle, so das Papier, Kinder „auf zentrale Aspekte des digitalen Lebens“ vorbereiten – und zwar fächerübergreifend. Das umfasse nicht nur den souveränen Umgang mit sozialen Medien, sondern auch Wissen über deren Geschäftsmodelle, über Machtstrukturen im Internet und über Methoden, Falschinformationen zu erkennen.
„Darüber hinaus sollten drängende Themen wie die weite Verbreitung von Künstlicher Intelligenz und deren Konsequenzen behandelt werden“, heißt es weiter. Lehrkräfte und Erzieher müssten gezielt geschult werden – nicht nur theoretisch, sondern mit praktischen Strategien, um riskantes oder suchtartiges Nutzungsverhalten frühzeitig zu erkennen. „Dazu gehört zum einen die Vermittlung von Wissen über Erscheinungsformen und Auswirkungen problematischer Nutzung […], zum anderen der Aufbau praktischer Handlungskompetenz im Umgang mit betroffenen Kindern und Jugendlichen.“
Die Nutzung sozialer Medien für schulische Zwecke solle dagegen auf das „Mindestmaß“ beschränkt werden. Wenn digitale Kommunikation notwendig sei, sollten „bevorzugt unproblematische Anwendungen – etwa datenschutzfreundliche Messengerdienste – zum Einsatz kommen“. Gleichzeitig plädiert die Leopoldina für niedrigschwellige Kampagnen, die Eltern aufklären. Schließlich, so der Hinweis, stehe die Mediennutzung der Kinder „in einem signifikant positiven Zusammenhang mit der Mediennutzung ihrer Eltern“.
„Die aktuellen Verbotsdebatten sind zunehmend von fachfremdem Populismus geprägt“
Auch die GMK und das Deutsche Kinderhilfswerk sehen hier die Politik in der Pflicht, stärker als bisher den Bildungsaspekt in den Vordergrund zu rücken. „Die aktuellen Verbotsdebatten sind zunehmend von fachfremdem Populismus geprägt“, warnt Kai Hanke, Geschäftsführer des Kinderhilfswerks. Verbote würden „als vermeintlich einfache Lösungen für komplexe technische und soziale Herausforderungen“ präsentiert und verlagerten die Verantwortung auf ohnehin schon überforderte Eltern – „auf Kosten von Teilhabe und weiteren Kinderrechten“. Dr. Friederike von Gross, Co-Geschäftsführerin der GMK, fordert deshalb einen Digitalpakt Bildung, „der nicht nur Kabel verlegt und Tablets kauft, sondern nachhaltig auch personelle und strukturelle Voraussetzungen schafft, um medienpädagogische und demokratische Kompetenzen möglichst früh […] zu fördern“.
So entsteht das Bild eines zweigleisigen Ansatzes: restriktive Regeln zum Schutz vor Überforderung und Missbrauch – flankiert von systematischer, verbindlich abgesicherter Medienbildung, die Heranwachsende befähigt, digitale Räume sicher zu navigieren. Nur im Zusammenspiel, so die zentrale Botschaft von Leopoldina, GMK und Kinderhilfswerk, könne der Schutz der psychischen Gesundheit im digitalen Zeitalter gelingen. News4teachers
Hier lässt sich der vollständige Bericht der Leopoldina herunterladen.