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Kaltherzig und widersprüchlich: Wie Deutschland integrierte Schüler abschiebt – und Azubis importiert

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BERLIN. Die zunehmend rigorosere Abschiebepolitik zeigt zunehmend deutlich ihre Konsequenzen. Die treffen auch die Jüngsten: Immer mehr Kinder und Jugendliche werden abgeschoben. Zwei aktuelle Fälle machen greifbar, was Statistiken allein nicht zeigen: Schülerinnen und Schüler, die Deutsch sprechen, in ihren Klassen integriert und in Vereinen aktiv sind, verschwinden über Nacht. Gleichzeitig werden im Ausland junge Menschen angeworben, um vakante  Ausbildungsplätze zu besetzen – ein Widerspruch, der viele ratlos zurücklässt.

“Kaltherzig” – und sinnlos? (Symbolfoto.) Foto: shutterstock / jokerpro

Die Zahl der Abschiebungen in Deutschland ist in den vergangenen Jahren deutlich gestiegen. 2022 verzeichnete die Bundesregierung 12.945 Fälle, 2023 bereits 16.430, 2024 dann 20.084. Über elf Prozent der Betroffenen sind minderjährig, die Quote ist seit Jahren annähernd stabil – 2024 waren es absolut 2.316 Kinder und Jugendliche, so viele wie lange nicht.

Der neue Kurs der Bundesregierung aus Union und SPD setzt auf verschärfte Kontrollen und konsequentere Rückführungen. Bundesinnenminister Alexander Dobrindt (CSU) ließ Anfang Mai 2025 die Grenzkontrollen ausweiten und Asylsuchende an den Grenzen zurückweisen. Kritiker wie der Linken-Politiker Dietmar Bartsch werfen der Regierung vor, damit „Kaltherzigkeit“ zur Politik zu machen.

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Bartsch sagt: „Im ersten Halbjahr wurden mehr schulpflichtige Kinder abgeschoben als vor wenigen Jahren im gesamten Jahr. Das sind Kinder und Jugendliche, die hier zur Schule gehen, Freundinnen und Freunde haben, Vereine besuchen – die längst Teil unserer Gesellschaft sind. Sie gehören in die Schule und nicht in den Abschiebeflieger.“

Anschaulich wird die Härte solcher Entscheidungen am Beispiel einer Familie aus der Südpfalz, die im Juni nach Ägypten abgeschoben wurde. Die beiden Söhne, Pavly (6. Klasse) und Anthony (9. Klasse), waren fester Teil der Schulgemeinschaft des Landauer Otto-Hahn-Gymnasiums. Eine Mitschülerin sagt laut SWR: „Wir sind erschüttert, wir wollen etwas tun. Sie sind Schüler wie wir alle auch.“

Die Klassen reagierten sofort: Sie machten den Fall in den sozialen Medien bekannt, starteten eine Petition und organisierten einen Protest auf dem Rathausplatz. Zwischen Landau und Ägypten gehen weiter Nachrichten hin und her – Anthony schrieb: „Mein Leben ist zerstört, ich kann Ägypten nicht als mein Zuhause sehen.“

Für die Schule ist der Verlust spürbar. In zwei Klassen fehlen plötzlich vertraute Gesichter. Lehrkräfte stehen vor der Aufgabe, Mitschülerinnen und Mitschüler aufzufangen, die nicht nur einen Freund verloren haben, sondern auch erstmals unmittelbar mit den Härten des Aufenthaltsrechts konfrontiert werden.

„Die Ängste und Sorgen der Schüler*innen und ihrer Familien spielen natürlich auch in der Schule eine Rolle“

Beispiel zwei: Ende Juli wurde eine jesidische Familie aus Brandenburg in den Irak abgeschoben – noch am selben Tag, an dem ein Gericht ihre Ausreisepflicht per Eilantrag aufgehoben hatte (was die Behörden dann aber nicht mehr erreichte). Die Kinder hatten mehrere Jahre in Lychen gelebt, sprachen besser Deutsch als ihre Muttersprache, waren im Unterricht eingebunden und Teil von Sport- und Freizeitgruppen. Die sechste Klasse, in der der elfjährige Maatz war, kämpft seitdem für die Rückholung: Über 35.000 Menschen unterschrieben eine Petition. Der Protestbrief, den drei Schülerinnen und Schüler an den Landtag übergaben, ist eindringlich: „Die Zukunft der Familie liegt in Ihrer Hand. Handeln Sie und holen Sie die Familie zurück – jetzt!“

Auch Lehrkräfte in Lychen mussten nach der Abschiebung in Gesprächen mit der Klasse und den Eltern aufklären, trösten und gleichzeitig erklären, wie so etwas möglich ist. Die Mutter eines Mitschülers formulierte es so: „Es sind einfach Nachbarn und Freunde, die da abgeschoben wurden. Eine Nacht hat alles verändert und die Familie aus ihrem und auch aus unserem Leben gerissen.“ Für die Kinder in der Klasse ist das nicht nur eine Nachricht aus den Nachrichten – es ist der Verlust eines Spielkameraden, eines Sitznachbarn, eines festen Teils ihres Alltags.

Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) Berlin macht in einer Handreichung für Lehrkräfte deutlich, dass Abschiebungen „eine enorme psychische Belastung“ für alle Beteiligten darstellen – auch schon im Vorfeld: „Für die Betroffenen ist bereits die Angst vor Abschiebung eine enorme psychische Belastung. Die Ängste und Sorgen der Schüler*innen und ihrer Familien spielen natürlich auch in der Schule eine Rolle.“ Lehrkräfte sollten deshalb früh aktiv werden: „Informieren Sie sich gleich zu Beginn und im Laufe der Zeit über den Aufenthaltsstatus der Schülerinnen. Nehmen Sie Kontakt zu den Familienangehörigen bzw. zu den zuständigen Mitarbeiter*innen der Jugendhilfe auf. Bieten Sie Ihre Unterstützung an bzw. vermitteln Sie Unterstützungsangebote.“

Wichtig ist laut GEW: Schulen sind von der Pflicht zur Datenweitergabe an Ausländerbehörden ausgenommen (§ 84 Aufenthaltsgesetz). Außerdem gibt es Handlungsmöglichkeiten bei akuter Gefahr: „Anwaltliche Vertretung anrufen, juristische und andere Interventionsmöglichkeiten prüfen […] die Schulgemeinschaft mobilisieren, Unterstützer*innen-Netzwerke vor Ort einbeziehen, Öffentlichkeit herstellen.“

Zum Thema Abschiebungen aus der Schule heraus heißt es: „Eine Verhältnismäßigkeit ist nicht gegeben, wenn die Polizei einen Schüler oder eine Schülerin aus dem Unterricht herausholt, da dies für eine hohe psychische Belastung […] sorgt. Die Schule muss […] nicht kooperieren.“ Langfristig können Ausbildungen eine Chance bieten, den Aufenthalt zu sichern: „Durch den Beginn einer qualifizierten, d. h. mindestens zweijährigen Berufsausbildung […] entsteht ein Anspruch auf die Erteilung einer Duldung.“

„Azubis und Fachkräfte werden dringend benötigt. Deshalb müssen wir den Zuzug ermöglichen“

Absurd: Parallel zu solchen Fällen wirbt Deutschland gezielt um junge Menschen aus dem Ausland, um Ausbildungsplätze besetzen zu können, wo händeringend Bewerberinnen und Bewerber gesucht werden.

So meldete beispielsweise ein eigens eingerichtetes „Welcome Center Baden-Württemberg“ unlängst, dass elf junge Männer aus Indien eine Ausbildung im Bau- und Fleischerhandwerk beginnen – vorbereitet durch monatelange Sprach- und Kulturkurse. In Kürze sollten 80 weitere Nachwuchskräfte folgen. Tobias Mehlich, Hauptgeschäftsführer der Handwerkskammer Ulm, erklärte: „Azubis und Fachkräfte werden dringend benötigt. Deshalb müssen wir den Zuzug ermöglichen und unsere Betriebe bestmöglich unterstützen.“ Der damalige Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) war im vergangenen Jahr extra nach Indien gereist, um dort für die Ausbildung in Deutschland zu werben.

Die Szene in Ulm könnte kaum gegensätzlicher zu den Geschehnissen in Landau oder Lychen sein: Während dort Freunde, Klassen und Vereine Abschiede und Protestaktionen organisieren müssen, stehen hier Handwerksmeister am Bahnhof und halten Willkommensschilder in die Höhe. Junge Männer, die Deutschland noch nie gesehen haben, steigen aus dem Zug, um sich hier eine Zukunft aufzubauen – während anderswo in Deutschland Kinder und Jugendliche, die längst dazugehören, in der Nacht aus dem Bett geholt und in Abschiebeflieger gesetzt werden. News4teachers 

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