DÜSSELDORF. Hin und her: Während in Nordrhein-Westfalen das neue Ausbildungsjahr beginnt, bleibt für zehntausende Jugendliche der Weg in die berufliche Bildung versperrt. Die Situation offenbart strukturelle Mängel – genau vor denen die Ständige Wissenschaftliche Kommission (SWK) der Kultusministerkonferenz warnt. Ihre Forderung: ein radikales Umdenken in Schule und Berufsorientierung.
Es ist ein irritierendes Bild, das sich derzeit auf dem Ausbildungsmarkt in Nordrhein-Westfalen zeigt: Obwohl landauf, landab Unternehmen über Nachwuchsmangel klagen, gehen Zehntausende Jugendliche leer aus. Erstmals seit Jahren übersteigt die Zahl der Bewerber die Zahl der angebotenen Ausbildungsstellen – landesweit kommen auf 100 Plätze statistisch gesehen 106 Jugendliche. Fast 40.000 junge Menschen suchen aktuell noch eine Ausbildungsstelle, knapp 9.000 mehr als vor zwei Jahren. Gleichzeitig sinkt die Zahl der unbesetzten Stellen – um gut 8.000 im selben Zeitraum.
Besonders prekär ist die Lage in Ballungsräumen und industriellen Zentren wie Leverkusen, wo auf 100 Stellen 186 Bewerber kommen. Während in Regionen wie dem Münsterland das Angebot überwiegt, konzentrieren sich Bewerber in anderen Gegenden auf wenige gefragte Berufe – und bleiben enttäuscht zurück. Flexibilität sei gefragt, sagen die Arbeitsagenturen. Doch die Realität vieler Jugendlicher sieht anders aus.
Die stille Krise im Übergangssektor
Die Turbulenzen auf dem Ausbildungsmarkt sind kein neues Phänomen – aber sie erreichen 2025 eine neue Qualität. Und sie sind Ausdruck eines systemischen Problems, wie die Ständige Wissenschaftliche Kommission (SWK) der Kultusministerkonferenz in ihrem aktuellen, im April veröffentlichten Gutachten betont (News4teachers berichtete). Rund ein Viertel aller Jugendlichen landet Jahr für Jahr im sogenannten Übergangssektor – also in staatlich geförderten Maßnahmen, weil es nicht für eine reguläre Ausbildung reicht. Eine stille Krise, die jedes Jahr Hunderttausende betrifft.
Der Grund? Nach Ansicht der SWK scheitert der Übergang von der Schule in den Beruf an drei zentralen Punkten: zu schwache Grundkompetenzen, fehlende Unterstützung bei der Identitätsentwicklung – und eine Berufsorientierung, die ihren Namen häufig kaum verdient.
Viele Jugendliche verlassen die Schule, ohne die Mindeststandards in zentralen Kompetenzen zu erfüllen. Die SWK konstatiert: Lehrpläne und Bildungsstandards setzen die falschen Schwerpunkte, Prioritäten im Unterricht sind unklar, Abstimmung mit Prüfungen und Diagnostik fehlt. Besonders in Schulen in herausfordernden Lagen würden zentrale Qualitätsmerkmale guten Unterrichts nicht umgesetzt.
Dabei wäre es möglich, gegenzusteuern. Studien zeigen: Durch gezielte Förderung – etwa mit digital unterstützten, diagnostikbasierten und adaptiven Unterrichtsmodellen – lassen sich auch bei leistungsschwächeren Jugendlichen funktionale Kompetenzen deutlich verbessern. Voraussetzung: ein klarer Fokus auf grundlegende Fähigkeiten, bevor weiterführende Inhalte vermittelt werden. Doch dafür fehlt vielerorts die didaktische Strategie.
Orientierungslosigkeit statt Berufsfindung
Noch dramatischer ist die Lage bei der Berufsorientierung. Zwar gibt es in Deutschland ein dichtes Netz aus Programmen, Initiativen und Beratern – aber kaum Struktur oder Qualitätssicherung. Die Folge: Viele Jugendliche sind am Ende der Sekundarstufe I ziellos, ihre Berufswünsche sind oft stereotyp und am tatsächlichen Bedarf des Arbeitsmarkts vorbei.
Gerade sozial benachteiligte Jugendliche oder solche mit sonderpädagogischem Förderbedarf werden laut SWK zu selten individuell begleitet. Schulen böten zu wenig Unterstützung – auch, weil es an professionell geschultem Personal fehle. In vielen Bundesländern existieren nicht einmal klare Rollenprofile für Berufsorientierungsbeauftragte an Schulen. Die Konsequenz: Ausbildungsabbrüche und Fehlentscheidungen, die Lebensläufe prägen.
Identitätsbildung? Schule schaut weg
Hinzu kommt: Die Schule nehme ihre Rolle als begleitende Instanz in der Persönlichkeitsentwicklung nicht ernst genug, so die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Der Weg in die Ausbildung sei für viele Jugendliche auch ein Akt der Identitätsbildung – ein Prozess, in dem sie Bestätigung, Orientierung und Perspektive brauchen. Doch das Bildungssystem lasse sie damit oft allein.
Positive Zukunftsbilder, ein Gefühl von Zugehörigkeit, Vertrauen von Lehrkräften – all das seien entscheidende Ressourcen, um den Sprung in die Ausbildung zu schaffen. Strukturelle und evidenzbasierte Maßnahmen, etwa durch die Schulsozialarbeit oder Mentoring-Programme, könnten helfen – wenn sie denn systematisch verankert wären.
Die Empfehlungen der SWK:
- eine verbindliche Definition basaler Kompetenzen am Ende der Sekundarstufe I,
- ihre Verankerung in Lehrplänen, Prüfungen und Lernstandserhebungen,
- regelmäßige Diagnostik (mindestens alle zwei Jahre),
- gezielte Förderung leistungsschwacher Schüler:innen im Unterricht,
- eine reformierte Lehrkräftebildung mit Fokus auf diese Kompetenzen und
- eine systematisch professionalisierte Berufsorientierung.
„Jugendliche benötigen in Ausbildung und Gesellschaft flexibel anwendbare fachliche und überfachliche Fähigkeiten“, sagt Prof. Susanne Prediger, Mitglied der SWK. In Mathematik zum Beispiel sei nicht die bloße Rechenfertigkeit entscheidend, sondern Problemlösekompetenz – und genau daran mangele es vielen Jugendlichen, wenn sie in die Ausbildung starten.
Der nächste Einschnitt kommt mit Ansage: 2026 wird es in NRW durch die Rückkehr zum neunjährigen Gymnasium rund 44.000 weniger Abiturienten geben – ein Jahrgang fällt im Wesentlichen aus. Das wird den Ausbildungsmarkt erneut durchrütteln, diesmal in die andere Richtung. News4teachers / mit Material der dpa
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