Website-Icon News4teachers

„Die Schulen dürfen den Anschluss nicht verpassen“: Experten mahnen entschlossenen KI-Einsatz an (und beschreiben riesige Chancen)

BONN. Der Unterrichtsalltag in Deutschland ist in weiten Teilen noch „KI-frei“ – trotz rasant wachsender Angebote. Das zeigt der neue „Trendmonitor KI in der Bildung 2025“ der Telekom Stiftung. Während Lehrkräfte experimentieren, aber auf klare Vorgaben und Fortbildung warten, warnen Fachleute: Wenn Deutschland den Einsatz von Künstlicher Intelligenz an Schulen nicht endlich systematisch organisiert, droht es im internationalen Vergleich abgehängt zu werden.

Weltwissen. Illustration: Shutterstock

Zwei der profiliertesten Stimmen zur Digitalisierung der Bildung in Deutschland schlagen Alarm. Prof. Doris Weßels, Wirtschaftsinformatikerin und wissenschaftliche Leiterin im KI-Anwendungszentrum Schleswig-Holstein, und Niels Pinkwart, Professor für Didaktik der Informatik an der Humboldt-Universität zu Berlin, Vizepräsident für Lehre und Studium sowie wissenschaftlicher Direktor am DFKI Berlin, ordnen in einem „Trendmonitor” die Lage der KI in der Bildung ein: Deutschland steht „an der Schwelle“ – doch ohne klare Regeln, systematische Fortbildung und mutige Praxis droht der Anschluss zu misslingen.

Herausgeberin der Studie ist die Deutsche Telekom Stiftung, erarbeitet wurde sie gemeinsam mit dem mmb Institut und dem Educational Technology Lab des Deutschen Forschungszentrums für Künstliche Intelligenz (DFKI). Grundlage sind eine fortlaufende internationale Marktrecherche sowie die Einschätzungen eines breit aufgestellten Expert:innenpanels mit Fachleuten aus Schulpraxis, Politik und Verwaltung, Wissenschaft und Bildungswirtschaft.

Anzeige

„Ein Fremdkörper in der Bildung“ – wie ordnen die Expert:innen den Stand ein?

Weßels beschreibt im Interview ihre Einschätzung der gegenwärtigen Situation so: „Mit KI hat ein neuer Akteur die Bühne betreten, und alle Beteiligten müssen sich neu aufstellen. Veränderte Rollen, andere Interaktionen. Dieser neue Mitspieler wird auch sehr unterschiedlich wahrgenommen. Die unglaubliche Entwicklungsdynamik – die digitale Disruption, die KI bewirkt – wird häufig unterschätzt; das ist eine sehr große Herausforderung, mit der wir bisher sehr unterschiedlich umgegangen sind, nicht nur in der Schule, auch in der Hochschule, auch in unserer Gesellschaft. Wir müssen das Alte mit dem Neuen verbinden – zielführend, sinnstiftend und gerade in der Schule natürlich: didaktisch wertvoll. Wir brauchen gute Ideen, um diese Technologie zu integrieren. In der Bildung nehmen wir KI noch wie einen Fremdkörper wahr. Und wir sehen einen Digital Divide, der sich durchs Lehrer:innenkollegium zieht, durch die Klassen, die Elternhäuser.“

Pinkwart ergänzt im Gespräch: „KI bringt eine tiefgreifende Transformation. So wie Computertechnologie wird auch KI in der Zukunft einfach überall sein, auch in der Bildung. Sie wird sich so sehr in unser Leben integrieren, immer mehr zum Alltagsbestandteil werden, dass es eigentlich nicht mehr möglich sein wird, zu unterscheiden: ‚Verwende ich jetzt gerade KI oder nicht?‘ In der Bildung sind wir da im Moment aber noch überhaupt nicht.“

Wer verantwortet die Studie – und welche Methodik liegt zugrunde?

Die Untersuchung ist als mehrjähriges Projekt bis 2027 angelegt. Die Autorinnen und Autoren wollen eine „Orientierungs-, Bewertungs- und Entscheidungsbasis“ für Lehrkräfte, Schulleitungen, Schulträger und Bildungspolitik schaffen. Methodisch kombiniert die Studie drei Elemente: eine laufende Markt- und Produktrecherche (seit Januar 2025), eine Potenzial- und Trendanalyse durch ein Fachpanel (erste Runde: 38 Expert:innen) sowie leitfadengestützte Interviews. Erfasst und systematisiert werden schulisch relevante KI-Technologien in neun Kategorien – von generativen Sprach- und Bildmodellen über Intelligente Tutoring-Systeme bis hin zu KI-gestützten VR-Lernumgebungen.

Warum fällt der Status quo so ernüchternd aus?

Die Studienautor:innen beschreiben den aktuellen Stand als ernüchternd. Zwar hat sich das Angebot an schulrelevanten KI-Anwendungen in Deutschland seit 2021 verdreifacht – getrieben vor allem durch generative Modelle –, doch im Unterrichtsalltag bleibt die Technologie bislang weitgehend außen vor. Vorherrschend sind vereinzelte Experimente mit ChatGPT oder ähnlichen Anwendungen, während eine strategische Implementierung in den Unterricht, eine didaktisch fundierte Einbettung oder gar ein Einsatz in der Verwaltung weitgehend fehlen.

Die Ursachen liegen nach Einschätzung der Befragten in Kompetenzlücken, Unsicherheiten, abwartendem Verhalten und einem hohen Wunsch nach Rechtssicherheit. Dieses Spannungsfeld zieht sich von Ministerien über Schulleitungen bis hinein in die Kollegien.

Ein weiterer blinder Fleck betrifft die Schulverwaltung. Während für Lehrkräfte und Lernende inzwischen zahlreiche Angebote existieren, wurden in der Marktsichtung nur zehn Tools identifiziert, die explizit für die Verwaltung entwickelt wurden. Damit bleibt ein erhebliches Effizienzpotenzial ungenutzt – von der Deputatsplanung über die Ressourcenzuteilung bis hin zur Evaluation von Bildungsprozessen.

Hinzu kommt eine Schieflage in der tatsächlichen Nutzung: Während generative Sprach- und Bildwerkzeuge wie ChatGPT, Perplexity oder DeepL stark verbreitet sind, spielen spezialisierte, bildungsspezifische Systeme bislang kaum eine Rolle. Auch Proctoring, Educational Data Mining oder integrierte Organisationssysteme kommen im Schulalltag nur selten zum Einsatz. Gleichwohl erwarten die befragten Expert:innen in den kommenden fünf Jahren eine deutliche Ausweitung aller Anwendungstypen – besonders im Bereich der Unterrichtsorganisation, der Intelligenten Tutoring-Systeme und der Prüfungsunterstützung.

Und schließlich sehen die Studienautor:innen auch Unsicherheiten im rechtlichen Umfeld. Der neue EU-AI-Act schafft zwar erstmals verbindliche Leitplanken, könnte aber gleichzeitig die Einführung blockieren. Pinkwart formuliert die Sorge so: „Einerseits können wir froh sein, dass wir uns – als erste große Region in der Welt! – verbindlich überlegen, welche Arten von KI wir wollen und welche nicht. Problematisch wird es nur, wenn wir dadurch zu einer Überbürokratisierung, in eine Abwehrhaltung kommen und jede Lernsoftware, die irgendwie Hilfestellung gibt, zum Hochrisikosystem erklären – mit allen Klassifikationen und Bremsen, die laut AI Act dann vorgesehen sind. Es kommt sehr stark darauf an, wie wir den AI Act leben.“

Weßels ordnet ein: „In China wie in den USA gibt es den politischen Willen von ganz oben, KI in die Schule zu bringen. […] In der Integration der Technologien sind wir hierzulande immer sehr zögerlich. Das nimmt auch vielen Lehrkräften den Mut und die Experimentierfreude […]. Wir benötigen dringend klare Regeln, die nicht einengen, sondern Mut und Experimentierfreude fördern!“

Welche Potenziale bietet KI konkret für den Unterricht?

Die Chancen sind enorm, wenn KI klug eingesetzt wird. Vor allem zwei Hebel stechen heraus – Personalisierung des Lernens und Entlastung der Lehrkräfte.

Bei der „Ermöglichung und Verbesserung des personalisierten Lernens“ sehen die befragten Expert:innen die größten Effekte. Intelligente Tutoring-Systeme oder Empfehlungssysteme können individuelle Lernpfade gestalten und Feedback geben. In Mathematik etwa wird bettermarks eingesetzt, in Englisch das System FeedBook, für mehrere Fächer Area9 RHAPSODE™, während eKidz gezielt Sprachförderung bietet – auch in Willkommensklassen.

Die Systeme eröffnen Lehrkräften neue Spielräume: In heterogenen Klassen können binnendifferenzierte Übungsphasen eingeführt werden, Flipped-Classroom-Modelle werden leichter umsetzbar, Lernende erhalten individuelles Feedback. Lehrkräfte können sich stärker auf Coaching und Beziehungsarbeit konzentrieren.

Weitere Potenziale liegen im Bereich der Inklusion. Text-zu-Sprache- und Sprache-zu-Text-Systeme unterstützen Schüler:innen mit Seh- oder Hörbeeinträchtigungen, erleichtern Elternkommunikation in verschiedenen Sprachen und helfen im Fremdsprachenunterricht bei Aussprache und Hörverstehen.

Auch in der Unterrichtsvorbereitung und Organisation können KI-Systeme viel leisten: Generative Tools erstellen Lehrtexte, Aufgaben oder Präsentationen. KI-gestützte Organisationssysteme wie Teachino oder Cornelsen.ai strukturieren Unterrichtsentwürfe, Sitzungen, Elternkommunikation oder Stundenpläne. Und schließlich können Lernanalysen helfen, den Unterricht datenbasiert zu steuern. Systeme wie Eduten aus Finnland oder eKidz liefern Auswertungen, die Lernverläufe sichtbar machen und Interventionen ermöglichen.

Pinkwart fasst zusammen: „Die neuen Sprachmodelle machen noch mal ganz andere Formen von MINT-Lernumgebungen möglich, die unheimlich lernförderlich sein und Spaß machen können.“

Welche Bedarfe sehen die Schulen?

Die Studie benennt klar, was fehlt: An erster Stelle steht eine umfassende Fortbildung der Lehrkräfte. Ohne KI-spezifische Kompetenzförderung bleibt der Einsatz Stückwerk. Auch Schüler:innen müssen gezielt geschult werden.

Dringend notwendig sind zudem rechtssichere Plattformen. DSGVO-konforme Angebote, möglichst aus der EU, gelten als unverzichtbar. Daneben braucht es fachspezifische Regelwerke zum AI-Act, um Lehrkräften Sicherheit zu geben. Eine Bildungswissenschaftlerin bringt es auf den Punkt: „Heute fehlt bei den Lehrkräften die Basis in der Aus- und Fortbildung, um die Systeme für den eigenen Fachunterricht systematisch einzuführen.“

Welche Empfehlungen geben die Autor:innen der Studie?

Die Verfasser:innen fordern ein entschlossenes Vorgehen – kein Abwarten, sondern eine orchestrierte Strategie. Sie sprechen sich für den Ausbau bildungsspezifischer, rechtssicherer Lösungen aus, gerade dort, wo der Nutzen unstrittig ist: Generative Systeme für Unterrichtsvorbereitung, adaptive Lernmaterialien oder Organisationsprozesse sollten Lehrkräfte und Schulleitungen gezielt entlasten. Voraussetzung ist eine verlässliche Qualitätssicherung – didaktisch, technisch und rechtlich.

Zentral ist außerdem eine dauerhafte, verpflichtende Qualifizierung der Lehrkräfte. Gefordert wird ein kontinuierlicher Prozess, der über bloße „Prompting-Tipps“ hinausgeht: Lehrkräfte sollen KI-Ergebnisse einschätzen, Quellen prüfen, Verzerrungen erkennen, alternative Prüfungsformate gestalten und Leistungsbewertung rechtssicher organisieren können.

Ein weiterer Schwerpunkt liegt auf der Verbreitung Intelligenter Tutoring-Systeme. Sie gelten als Schlüssel, um personalisiertes Lernen und mehr Bildungsgerechtigkeit zu erreichen. Voraussetzung ist eine systematische wissenschaftliche Begleitung – von der curricularen Aufbereitung über die Lernstandsdiagnostik bis zur Evaluation.

Die Studienautor:innen drängen außerdem darauf, Lerninhalte so aufzubereiten, dass KI-Systeme sie rechtssicher verarbeiten können. Curriculare Inhalte müssen qualitätsgesichert in digitale Formate überführt werden, damit Chatbots und Lernplattformen verlässlich arbeiten können.

Zugleich sollen Risiken offen adressiert werden. Damit meinen die Wissenschaftler:innen die Gefahr des „Deskilling“, also den Verlust grundlegender Fähigkeiten, etwa beim Schreiben längerer Texte oder im kritischen Umgang mit Quellen. Unterricht und Prüfungsformate müssten entsprechend angepasst werden. Pinkwart warnt in diesem Zusammenhang noch einmal vor einer zu engen Auslegung des AI-Acts, die Innovationen ausbremst.

Nicht zuletzt sehen die Studienautor:innen Handlungsbedarf bei den Schulleitungen und Verwaltungen. Sie müssten rechtlich und organisatorisch in die Lage versetzt werden, fundierte Entscheidungen zu treffen. Hier könnte ein Gütesiegel Orientierung bieten. Gerade die Verwaltung, bislang ein „blinder Fleck“, bietet große Potenziale – von der Deputats- und Raumplanung bis hin zum Reporting.

Und schließlich geht es um die digitale Souveränität. Weßels fordert, zwischen „besten Technologien weltweit“ und „größtmöglicher Souveränität“ klug zu balancieren. Pinkwart plädiert dafür, europäische Lösungen zu entwickeln und kulturell wie rechtlich zu verankern.

Wie fällt das Fazit der Expert:innen aus?

Am Ende ziehen die Wissenschaftler:innen ein klares Fazit. „Komplett verstecken müssen wir uns nicht, das zeigt die Studie ganz gut. Wir haben einige sehr interessante Ansätze, und ich sage da bewusst: Ansätze, Experimentelles, was man bei einer Einführungsphase auf jeden Fall braucht. Wir sind an der Schwelle. Die müssen wir aber auch überschreiten – hin zum strukturellen, systematischen Einsatz von KI in den Schulen“, sagt Pinkwart.

Weßels mahnt: „Was wir der KI niemals überlassen sollten, ist die Beziehungsarbeit. Wir brauchen echte Empathie, echte Emotionen, eine authentische Kommunikation von Mensch zu Mensch, mit allen Sinnen, die wir haben. […] In der Bildung ist eine Zusammenarbeit, wo beide Seiten ihre Stärken einbringen können, meiner Meinung nach der Idealzustand. […] Der Mensch ist relativ stabil in dem, was er leisten kann; KI-Lösungen dagegen entwickeln sich rasant weiter. Deshalb muss man dieses Zusammenspiel auch immer wieder neu justieren.“

Damit liegt der Auftrag für Politik und Praxis offen auf dem Tisch: Lehrkräfte befähigen, Rechtsrahmen klären, Verwaltung mitdenken, Technik didaktisch erden – und entschlossen ausprobieren. Oder, um es mit den Worten von Doris Weßels zu sagen: Das Alte mit dem Neuen verbinden – „zielführend, sinnstiftend und […] didaktisch wertvoll“. News4teachers

Hier lässt sich der vollständige “Trendmonitor” herunterladen. 

Glaubenskrieg um Künstliche Intelligenz im Unterricht: Verbannen – oder Pflicht?

Die mobile Version verlassen