WÜRZBURG. Was passiert mit jungen Menschen, wenn sie über längere Zeit einem dauerhaften Konkurrenzdruck ausgesetzt sind? Eine neue Studie der Julius-Maximilians-Universität Würzburg (JMU) gibt eine beunruhigende Antwort: Sie werden nicht nur kurzfristig weniger hilfsbereit – der Wettbewerb verändert sogar ihre Persönlichkeit.
Viele Unternehmen setzen seit Jahren auf Anreizsysteme, die Beschäftigte zu höherer Leistung anspornen sollen. Diese Systeme ähneln oft einem Wettbewerb: „Wer zum Beispiel am Ende eines Monats die höchsten Verkaufszahlen vorweisen kann, bekommt eine Prämie“, heißt es in der Mitteilung der Universität. Dass solche Methoden die Produktivität steigern können, sei bekannt. Ebenso aber auch, dass sie Nebenwirkungen haben: „Aus wissenschaftlichen Studien ist bekannt, dass sie zum Beispiel die Zusammenarbeit zwischen Kolleginnen und Kollegen kurzfristig verschlechtern.“
Doch was passiert, wenn der Wettbewerb nicht punktuell bleibt, sondern zum Dauerzustand wird? Mit genau dieser Frage beschäftigte sich ein Forscherteam um Professor Fabian Kosse vom JMU-Lehrstuhl für Data Science in Business and Economics. „Wir haben an Schulen untersucht, wie eine länger andauernde Konkurrenzsituation das prosoziale Verhalten von Jugendlichen beeinflusst, also ihre Hilfsbereitschaft und ihr gegenseitiges Vertrauen“, so Kosse.
Vier Jahre nach Wettbewerbsende noch messbare Folgen
Das Ergebnis ist ernüchternd: „Zwei Jahre intensiver Konkurrenz senken deutlich die Hilfsbereitschaft und das Vertrauen unter Jugendlichen. Und das nicht nur kurzfristig – selbst vier Jahre nach Ende des Wettbewerbs sind die Effekte noch da“, fasst Kosse zusammen. Damit sei klar: „Der dauerhafte Wettbewerb verändert also nicht nur das situative Verhalten. Er beeinflusst auch die Persönlichkeitsentwicklung.“
Die Studie entstand in Zusammenarbeit mit Ranjita Rajan von der Karta-Initiative in Oxford sowie Michela Tincani vom University College London. Veröffentlicht wurde sie im Journal of the European Economic Association.
Ein einzigartiges Feldexperiment in Chile
Um ihre Hypothese zu prüfen, nutzte das Forscherteam ein Programm der chilenischen Regierung, das an High Schools eingeführt wurde: PACE. Es soll mehr Jugendliche aus sozial benachteiligten Familien an die Universitäten bringen. Der Kern: Den jeweils besten 15 Prozent einer Schule wird ein Studienplatz garantiert – ohne die ansonsten verpflichtende zentrale Aufnahmeprüfung. Für junge Menschen aus ärmeren Familien ist dies von enormer Bedeutung, da ihre Chancen, über das reguläre System an eine Hochschule zu gelangen, minimal sind.
Doch mit dem Versprechen geht ein erheblicher Preis einher: „Der Anreiz, unter die besten 15 Prozent zu kommen, ist groß. Groß ist aber auch die lang andauernde Konkurrenz, die das Programm in den Schulen entfacht: Es handelt sich um einen über zwei Jahre laufenden Wettbewerb, denn wer zu den Besten gehört, entscheidet sich nicht in einer einzigen Abschlussprüfung, sondern aus allen Leistungen über die letzten Schuljahre hinweg“, so die Wissenschaftler.
Um belastbare Daten zu erhalten, setzten die Forschenden auf ein experimentelles Design: 64 Schulen nahmen am PACE-Programm teil, weitere 64 Schulen dienten als Kontrollgruppe. Insgesamt wurden mehr als 5.000 Jugendliche einbezogen. Per Zufallsprinzip wurde bestimmt, welche Schulen an PACE teilnahmen und welche nicht – ein echtes Experiment mit Behandlungs- und Vergleichsgruppen.
Was die Jugendlichen berichteten
Für die Analyse werteten die Wissenschaftler sowohl offizielle Regierungsdaten aus als auch eigens erhobene Befragungen von Schülerinnen, Schülern, Lehrkräften und Schulleitungen. „Die Fragen betrafen einerseits die Schulatmosphäre und lauteten zum Beispiel: ,Wie sehr stimmen Sie folgender Aussage zu: Es herrscht großer Wettbewerb um die besten Noten in meiner Klasse‘“, erklärt die Universität.
Im Zentrum standen jedoch Fragen nach prosozialem Verhalten: Altruismus, Reziprozität, Vertrauen. „Wie sehr sind Sie bereit, anderen zu helfen, ohne eine Gegenleistung zu erwarten?“ – so lautete eine der Kernfragen.
Die Antworten fielen eindeutig aus: Schülerinnen und Schüler, die dem PACE-Wettbewerb über zwei Jahre hinweg ausgesetzt waren, zeigten eine signifikant geringere Bereitschaft zu helfen und weniger Vertrauen in ihre Mitschülerinnen und Mitschüler. Und dieser Effekt hielt auch lange nach Ende des Wettbewerbs an.
Lösungsansätze: Kooperation statt Konkurrenz
Das Forscherteam beschränkt sich nicht darauf, den negativen Effekt zu beschreiben – es schlägt auch Gegenmaßnahmen vor. „Die Regeln des Wettbewerbs verändern“, sei eine Möglichkeit. So könnte die Rangliste nicht innerhalb einer einzelnen Schule, sondern innerhalb einer größeren Gruppe von sozial benachteiligten Jugendlichen einer ganzen Region gebildet werden. Damit würde der interne Konkurrenzdruck sinken.
Noch weiter geht die Idee, den Wettbewerb schulübergreifend zu organisieren: „Läuft der Wettbewerb schulübergreifend ab, kann das daraus resultierende Mindset ,Wir zusammen gegen die anderen Schulen‘ die Zusammenarbeit und Atmosphäre verbessern und die Prosozialität sogar steigern“, heißt es in der Publikation.
Bedeutung für die Bildungspolitik
Die Ergebnisse werfen Fragen für die Gestaltung von Bildungs- und Förderprogrammen auf. Gerade in Deutschland wird immer wieder über leistungsorientierte Systeme diskutiert – von Kopfnoten bis zu leistungsbezogenen Bonusprogrammen für Lehrkräfte oder Schulen. Die Studie aus Würzburg und Chile liefert Argumente dafür, Vorsicht walten zu lassen.
Denn die zentrale Botschaft lautet: Wettbewerb ist nicht neutral. Er verändert die Persönlichkeit von Jugendlichen, und zwar auf eine Weise, die für das soziale Miteinander in Schule und Gesellschaft problematisch sein kann. Professor Kosse zieht ein klares Fazit: „Der dauerhafte Wettbewerb verändert also nicht nur das situative Verhalten. Er beeinflusst auch die Persönlichkeitsentwicklung.“ News4teachers
