CAMBRIDGE. Viele Eltern glauben, dass strenge Regeln und Disziplin Kinder zu verantwortungsbewussten Menschen machen. Doch eine neue Studie der Universität Cambridge zeigt: Übermäßig autoritäre Erziehung kann das Gegenteil bewirken – sie erhöht deutlich das Risiko für psychische Probleme.
Für ihre Untersuchung werteten die Bildungsforscher Ioannis Katsantonis und Jennifer Symonds Daten von 7.507 Kindern aus der nationalen Langzeitstudie Growing Up in Ireland aus. Sie verfolgten die Entwicklung der Kinder im Alter von drei, fünf und neun Jahren und analysierten dabei sowohl innere Symptome (etwa Angst und sozialer Rückzug) als auch äußere Symptome (wie Aggressivität und Hyperaktivität).
Grundlage war der international eingesetzte Strengths and Difficulties Questionnaire (SDQ), ein wissenschaftlich validiertes Instrument zur Erfassung emotionaler und verhaltensbezogener Auffälligkeiten bei Kindern. Der Fragebogen misst unter anderem Hyperaktivität, Verhaltensprobleme, emotionale Symptome, Schwierigkeiten im Umgang mit Gleichaltrigen sowie prosoziales Verhalten – und wird weltweit in Studien zur psychischen Gesundheit eingesetzt.
Zugleich wurde erhoben, welchen Erziehungsstil die Eltern pflegten – unterschieden wurde zwischen: einem warmherzigen Stil (Zuwendung, Verständnis, emotionale Unterstützung), einem konsequen-autoritativen Stil (klare Regeln, Vorhersehbarkeit) und einem feindselig-autoritären Stil, der durch Strafen, Anschreien und Überkontrolle gekennzeichnet ist.
Klare Ergebnisse: Feindselige Erziehung erhöht das Risiko um bis zu 57 Prozent
Die Analyse ergab, dass rund 83,5 Prozent der Kinder nur ein geringes Risiko für psychische Auffälligkeiten zeigten. Doch 10,1 Prozent gehörten zu einer Hochrisikogruppe, die überdurchschnittlich viele seelische Probleme aufwies, und 6,4 Prozent befanden sich in einer mittleren Risikogruppe mit dauerhaft erhöhten Symptomen.
Kinder, die in einem stark autoritären Umfeld aufwuchsen, hatten ein 1,47-fach höheres Risiko, in die Hochrisikogruppe zu fallen – und ein 1,57-fach erhöhtes Risiko, in die mittlere Risikogruppe zu gehören. Wörtlich heißt es in der Studie: „Feindseliger Erziehungsstil war ein wesentlicher Prädiktor für die Zugehörigkeit zur Hochrisiko-Klasse sowie zur mittleren Risikoklasse.“
Demgegenüber zeigte sich, dass ein konsequenter, aber nicht harscher Erziehungsstil Kinder offenbar schützen kann: „Ein konsequenter Erziehungsstil war ein Schutzfaktor gegen die Zugehörigkeit zur mittleren Risikoklasse.“
Ein warmherziger Erziehungsstil – also Zuwendung und Verständnis – hatte in dieser Untersuchung keinen statistisch signifikanten Effekt. Die Forschenden führen das auf die Vielzahl anderer Einflussfaktoren zurück, etwa familiäre Gesundheit oder sozioökonomische Bedingungen.
Innere und äußere Probleme hängen oft zusammen
Ein weiteres zentrales Ergebnis betrifft die enge Verbindung zwischen inneren und äußeren Symptomen. Die Forschenden fanden, dass Kinder mit Ängsten und Rückzugstendenzen oft gleichzeitig aggressiver oder hyperaktiver sind. „Die Entwicklungsverläufe innerer und äußerer psychischer Symptome waren positiv korreliert“, schreiben Katsantonis und Symonds. „Kinder mit höheren inneren Symptomen zeigten auch höhere äußere Symptome.“
Diese Korrelation verdeutlicht, wie wichtig ganzheitliche Diagnosen und Interventionen sind: Psychische Probleme treten selten isoliert auf.
Ursachenbündel statt Einzelfaktor
Die Wissenschaftler betonen, dass der Erziehungsstil nur ein Teil eines komplexen Ursachenbündels ist. Geschlecht, Einkommen, Familienstruktur und elterlicher Stress beeinflussen ebenfalls das Risiko. So zeigte die Analyse: Mädchen hatten etwas häufiger höhere psychische Belastungen, während höhere Einkommen das Risiko minderten. „Höheres Einkommen war ein Schutzfaktor gegen psychische Risiken und bestätigt den sozialen Gradient bei mentaler Gesundheit“, heißt es in der Studie.
Bedeutung für Pädagogik und Elternbildung
Aus den Ergebnissen ziehen die Forschenden weitreichende Konsequenzen: „Feindseliger Erziehungsstil ist ein erheblicher Risikofaktor für die zunehmenden psychischen Symptome bei Kindern“, schreiben sie. „Wir empfehlen evidenzbasierte Elterntrainings, um positive Interaktionen zwischen Eltern und Kind zu fördern.“
Die Autorinnen und Autoren fordern, dass Erziehungsstile bei psychologischen Screenings systematisch mitberücksichtigt werden. Lehrkräfte, Schulpsychologinnen und Kinderärztinnen sollten aufmerksam auf emotionale Kälte und feindselige Kommunikationsmuster in Familien reagieren. Ein liebevolles, aber zugleich verlässliches Elternverhalten könne zwar keine psychischen Probleme verhindern, aber die Widerstandskraft von Kindern erheblich stärken.
Fazit: „Ein emotional feindseliges Zuhause zu vermeiden, ist entscheidend“
Die Quintessenz der Cambridge-Studie lautet: Kinder, die in einem emotional feindseligen Klima aufwachsen, tragen ein deutlich höheres Risiko, seelische Probleme zu entwickeln – und zwar unabhängig von sozialem Status oder Geschlecht. Konsequenz ohne Strenge und Wärme ohne Nachsicht scheinen hingegen die beste Kombination zu sein.
„Feindseliger Erziehungsstil ist ein erheblicher Risikofaktor für die Entwicklung psychischer Symptome bei Kindern, während konsequente Erziehung als Schutzfaktor wirken kann“, fassen die Forschenden zusammen.
Quelle: Katsantonis, I., & Symonds, J. E. (2023). Population heterogeneity in developmental trajectories of internalising and externalising mental health symptoms in childhood: differential effects of parenting styles. Epidemiology and Psychiatric Sciences, 32, e16. Cambridge University Press. DOI: 10.1017/S2045796023000094
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