Website-Icon News4teachers

“Schafft keinen Mehrwert”: Erster Lehrkräfteverband fordert, auf Arbeitszeit-Erfassung im Schuldienst zu verzichten

Anzeige

BUTZBACH. Der erste schert aus: Während Lehrkräfte-Verbände bundesweit seit Jahren eine verlässliche Arbeitszeit-Erfassung fordern – gestützt auf Grundsatzurteile des Europäischen Gerichtshofs und des Bundesarbeitsgerichts –, lehnt der Verband der Lehrer Hessen (vdl) eine solche plötzlich ab. Der Anlass: eine aktuelle Arbeitszeit-Untersuchung aus Sachsen. Die legt nahe, dass Lehrkräfte im Schnitt womöglich gar nicht zu viel arbeiten. Nach Rechnung des Kultusministeriums jedenfalls nicht.

Arbeitszeiterfassung? Nein, danke. Illustration: Shutterstock

Überraschende Worte aus Butzbach: Der vdl Hessen hält nichts von Forderungen, die Arbeitszeit von Lehrkräften künftig systematisch zu erfassen. Die Maßnahme würde keinen Fortschritt, sondern neue Bürokratie bringen, heißt es nach der Klausurtagung des Verbands im Städtchen am Rande des Taunus. Schon vor rund zwanzig Jahren habe es in Hessen eine Untersuchung der Arbeitszeit von Lehrkräften gegeben – ohne dass diese greifbare Verbesserungen für die Kollegien gebracht hätte.

Der Alltag an Schulen lasse sich ohnehin nicht in Tabellen erfassen: Lautstärke, Heterogenität, soziale Probleme, gestiegene Verwaltungsaufgaben – all das präge die Realität weit stärker als jede rechnerische Sollzeit. „Eine Statistik kann die Individualität des Lehrerberufs nicht abbilden“, meint Landesvorsitzender Jörg Leinberger. Stattdessen sollten Politik und Verwaltung endlich die tatsächliche Belastung der Lehrkräfte in den Blick nehmen – und nicht die bloße Stundenzahl.

Anzeige

Auch der stellvertretende Landesvorsitzende Claus Eschenauer hält die Debatte für verfehlt: „Wer den Beruf wirklich verstehen will, muss sich mit der Arbeitsbelastung befassen – nicht mit Stoppuhren. Eine Stunde Unterricht mit einer lebhaften Klasse ist körperlich und mental anstrengender als eine Stunde am Schreibtisch. Das lässt sich nicht in Minuten erfassen.“

Bezug auf Sachsen – mit fragwürdiger Schlussfolgerung

In einer Pressemitteilung verweist der vdl Hessen auf die jüngste Arbeitszeitstudie aus Sachsen und behauptet, die dortige Erhebung habe gezeigt, dass Lehrkräfte ohnehin weit über 40 Stunden pro Woche arbeiten würden – und dass eine Untersuchung der Arbeitszeit keine neuen Erkenntnisse bringe.

Diese Darstellung verzerrt das Ergebnis der Studie allerdings. Zwar arbeiten einzelne Lehrkräfte in Spitzenzeiten durchaus mehr als 40 Stunden pro Woche. Im Durchschnitt kommt die von Sachsens Kultusministerium beauftragte Untersuchung des Beratungsunternehmens Prognos allerdings sogar zu einem gegenteiligen Befund: Vollzeitkräfte arbeiten demnach im Jahresdurchschnitt nicht über-, sondern sogar leicht unter ihrer Sollarbeitszeit.

Zwar leisteten Lehrkräfte den Angaben zufolge in Unterrichtswochen Mehrarbeit – im Schnitt rund 2,5 Stunden pro Woche –, diese werde jedoch in den Ferien weitgehend ausgeglichen. Im Mittel arbeiten Vollzeitkräfte demnach 33,1 Stunden pro Woche (einschließlich Urlaubszeiten) – rund eine Viertelstunde weniger als vorgesehen. Lediglich Teilzeitkräfte und Schulleitungen weisen laut Studie eine nennenswerte Mehrarbeit auf.

Auffällig ist zudem die große Spannweite innerhalb der Kollegien: Laut Prognos variiert die tatsächliche Wochenarbeitszeit unter den Vollzeitkräften erheblich – zwischen rund 25 und über 50 Stunden. Zwischen dem unteren und oberen Viertel der Lehrkräfte liegt ein Unterschied von fast acht Stunden pro Woche. Sachsens Kultusminister Conrad Clemens (CDU) sprach dennoch von einer „ausgeglichenen Bilanz“ und kündigte an, künftig freiwillige Arbeitszeitkonten einzuführen, um flexible Deputate zu ermöglichen – keine Rede von einer Senkung der Unterrichtsverpflichtung.

Heftige Kritik an Methode und Interpretation

Die Ergebnisse sind zwar hochumstritten – deuten aber darauf hin, dass die Rechnung der Kultusministerien im Rahmen einer durchgängigen Arbeitszeiterfassung je nach Methodik und Zählweise anders ausfallen könnte als von den meisten Lehrkräften erwartet. Vertreter des Sächsischen Lehrerverbandes (SLV), der GEW und des Philologenverbands Sachsen zweifeln an der Aussagekraft der Prognos-Daten. Der SLV-Vize René Michel kritisierte: „Der sehr fein ausdifferenzierte Aufgabenkatalog hat sicher zu Verwirrungen geführt und Eintragungsfehlern beigetragen. Diese Zahlen dürfen nicht missbraucht werden, um die Arbeitsbelastung kleinzureden.“

Auch die GEW Sachsen warnte vor einer Untererfassung: „Gerade in den stressigsten Phasen des Schuljahres war die Studie das Letzte, was Lehrkräften wichtig war.“ Zudem habe das Ministerium bei Eintragungsfehlern Konsequenzen angedroht – was viele davon abgehalten habe, alle Zeiten vollständig einzutragen.

Studien aus anderen Bundesländern waren zu ganz anderen Ergebnissen gekommen. In Berlin etwa dokumentierte eine Untersuchung der Universität Göttingen 2025 rund 100 Stunden Mehrarbeit pro Jahr für Lehrkräfte, ein Drittel überschritt regelmäßig die gesetzliche 48-Stunden-Grenze. In Hamburg wurde im selben Jahr eine durchschnittliche Wochenarbeitszeit von fast 42 Stunden festgestellt – mit einem alarmierend hohen Burnout-Risiko. Ob das in der Praxis dann von den Kultusministerien aber auch so erfasst würde?

„Diese Statistik ist teuer – und nutzlos“

Der Zweifel erklärt womöglich die Linie des vdl Hessen: Der Verband will offensichtlich keine Arbeitszeiterfassung, der er ohnehin nicht traut. „Wir sehen in solchen Erhebungen keinen Fortschritt, sondern eine Verschwendung von Zeit und Geld“, so Leinberger.

Der Aufwand sei immens, die Aussagekraft gering. Zudem fürchtet der Verband, dass eine verpflichtende Zeiterfassung die ohnehin knappe Flexibilität im Lehrerberuf weiter einschränken würde. „Gerade die flexible Gestaltung der Arbeitszeit ist eine der wenigen verbleibenden Entlastungen. Diese jetzt zu gefährden, wäre der falsche Weg“, warnt der zweite stellvertretende Vorsitzende Timo Marx.

Anstatt in Stoppuhren und Datenbanken zu investieren, fordert der vdl politische Taten: mehr Personal, kleinere Klassen, multiprofessionelle Teams und eine echte Entlastung im Schulalltag. „Wir nehmen dieses Geld lieber für unsere Schülerinnen und Schüler!“, betont Leinberger. „Eine Arbeitszeiterfassung schafft keinen Mehrwert für die pädagogische Arbeit, sondern bindet Ressourcen, die an anderer Stelle dringend gebraucht werden – etwa für bessere Lernbedingungen oder eine Entlastung im Schulalltag.“ News4teachers 

“Weder rechtlich noch pädagogisch zu rechtfertigen”: Arbeitszeit von (Vollzeit-)Lehrkräften unterscheidet sich erheblich

Anzeige
Die mobile Version verlassen