MÜNCHEN. Im Vorfeld des heute (Mittwoch) beginnenden Gipfeltreffens der deutschen UNESCO-Kommission zum Thema Inklusion kocht der Streit um die Umsetzung hoch. Heftige Kritik kam vom Bayerischen Lehrer- und Lehrerinnenverband (BLLV). Die Schulen würden im Stich gelassen – das sorge für zahlreiche Konflikte, so teilte der Verband mit.
Inklusion werde für immer mehr Schulen zum Belastungsfaktor. Beim BLLV mehrten sich Fälle von Lehrkräften, die sich überfordert fühlen oder ihre Sorge darüber äußern, bei den gegebenen Voraussetzungen weder dem behinderten Kind noch den anderen Mitschülern gerecht werden zu können. „Wie brisant das Thema ist, zeigen die in unserer Rechtsabteilung aufschlagenden Fälle“, sagte BLLV-Präsident Klaus Wenzel.
Wenzel warf der bayerischen Staatsregierung vor, Eltern, Kinder und Lehrer im Stich zu lassen. „Gelungene Inklusion steht und fällt mit einer vernünftigen Ausstattung. Es ist nicht mit einer Unterschrift unter eine UN-Konvention getan, erforderlich sind vielmehr konkrete Taten.” Zwar bestehe in Bayern eine gesetzliche Grundlage. Versäumt worden sei dabei allerdings, mit Eltern und Lehrkräften zu kommunizieren, um Ängste abzubauen. Darüber hinaus müsse vor allem auch die Kompetenz der Lehrer gestärkt und Inklusion in der Lehrerbildung eine zentrale Rolle spielen. Schließlich müssten ausreichend finanzielle Mittel bereitgestellt werden. Wenzel: „Helfende und hilfreiche Inklusion gibt es nicht zum Nulltarif.“
Auch die bayerische Bioethik-Kommission, die sich im Auftrag der Staatsregierung unter Ministerpräsident Horst Seehofer (CSU) des Themas „Behindertenpolitik“ angenommen hat, stellt Bayern bei der Inklusion in Sachen Finanzausstattung ein schlechtes Zeugnis aus. In einem Positionspapier kritisiert die Kommission, die bisherigen sonderpädagogischen Angebote reichten nicht aus. Um den Inklusionsauftag zu finanzieren, müssten die erforderlichen Gelder bereitgestellt werden. „Diese Voraussetzungen einer erfolgreichen Inklusionsentwicklung sind bisher nicht ausreichend erfüllt“, heißt es in dem Papier. Zudem forderte die Kommission, behinderten Kindern den Zugang zu Realschule und Gymnasium deutlich zu erleichtern. In der 16-köpfigen Kommission sitzen vor allem Mitglieder von Kirchen und Wissenschaft. Die Opposition forderte Taten von der Staatsregierung.
Staatskanzleichefin Christine Haderthauer (CSU) nannte das Papier anschließend eine lohnende, aber «unbequeme Lektüre». Inklusion sei aber nicht nur Staatsaufgabe, auch die Bürger seien gefragt. «Politik kann nicht fortschrittlicher sein als die Gesellschaft», sagte sie. Das bezog sich auf Fälle, in denen Eltern gesunder Kinder sich dagegen wehren, dass ihr Nachwuchs gemeinsam mit behinderten Kindern unterrichtet wird. Das Kultusministerium gab eine Presseerklärung heraus, in dem es die Kritik des BLLV zurückwies – und unter anderem den Begriff „Einzelinklusion“ gebraucht. Der Bayerische Elternverband (BEV) stellte daraufhin „mit Befremden“ fest, dass das Bildungsministerium noch immer nicht verstanden habe, was Inklusion (lateinisch „inclusio“, Zugehörigkeit, die Red.) bedeute. Einen Begriff wie “Einzelinklusion” sei per definitionem nicht möglich. Es sei auch nicht möglich, Kinder mit Behinderung zu “inkludieren”, befand die Landesvorsitzende Maria Lampl spitz.
Was von den Schulen, insbesondere den Grundschulen, verlangt werde, sei nicht mehr vertretbar, kritisierte Wenzel. Die Argumente, die betroffene Eltern dazu bewegten, ihr Kind auf einer Regelschule unterzubringen, seien zwar legitim und nachvollziehbar. Nicht akzeptierbar sei aber, dass die Politik die Schulen zwinge, diese Kinder an den Regelschulen zu integrieren, obwohl diese dafür weder personell, finanziell, noch räumlich ausgestattet seien. Derzeit gehe die Umsetzung der Inklusion zu Lasten der Schüler und Lehrer – und zu Lasten betroffener Familien. Das dürfe nicht dauerhaft so bleiben.
Die Situation sei für alle Beteiligten äußerst schwierig, erklärte der Leiter der BLLV-Rechtsabteilung, Hans Peter Etter. „Weil die Staatsregierung alle Betroffenen allein lässt, häufen sich die Konflikte: Eltern haben den verständlichen Wunsch, dass ihr behindertes Kind optimale Förderung bekommt und viele sehen den Weg dorthin im Besuch einer Regelschule. Lehrerinnen und Lehrer haben die berechtigte Sorge, dass sie angesichts der ohnehin schon mangelhaften Ausstattung ihrer Schulen, den Unterrichtsausfällen und dem Lehrermangel, den Anforderungen, die ein behindertes Kind an sie stellt, nicht gerecht werden können.“
Hinzu komme, dass vielen die Erfahrung oder eine professionelle Vorbereitung fehlen würde, so Etter. „Behinderte Schüler spüren die angespannte Atmosphäre und leiden – nicht behinderte Schüler sind verunsichert und verlieren ihre Unbedarftheit, die im Miteinander so wichtig wäre.“ Er, Etter, sitze zwischen allen Stühlen, könne Eltern verstehen, aber natürlich auch Lehrkräfte, die sich in verzweifelten Briefen und Mails an ihn wenden und um Hilfe bitten würden.
„Die Dimension der Problematik ist manchmal erschütternd. Uns sind Fälle bekannt, wo in Regelklassen mehrere stark behinderte Kinder inkludiert werden und die Lehrkraft nach kurzer Zeit am Ende ihrer Kräfte ist, weil sie die Belastung unter den aktuellen Voraussetzungen gar nicht bewältigen kann“, schilderte Etter. So werde Inklusion zu einem Belastungsfaktor, der nicht mehr zu vertreten sei. Der Dienstherr habe ja auch Lehrkräften gegenüber eine Fürsorgeverpflichtung – „in vielen Fällen ist die nicht mehr erfüllt.“ News4teachers