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Studie “Chancenspiegel”: Wenig Fortschritte bei Gerechtigkeit und Ganztagsschulen

BERLIN. 16 Bundesländer – 16 Schulsysteme mit großen Unterschieden. Doch eines haben alle gemeinsam: In Sachen Chancengleichheit haben die deutschen Schulen immer noch großen Nachholbedarf.

Die Chancengerechtigkeit im deutschen Schulsystem ist immer noch mangelhaft. Trotz Verbesserungen in den vergangenen Jahren ist der Bildungserfolg eines jungen Menschen weiterhin stark abhängig von seiner sozialen Herkunft. Dies zeigt der am Donnerstag veröffentliche neue «Chancenspiegel» der Bertelsmann-Stiftung. Neuntklässler aus höheren Sozialschichten haben zum Beispiel in Mathematik einen Wissensvorsprung von bis zu zwei Jahren gegenüber ihren Klassenkameraden aus bildungsfernen Familien.

Wissenschaftler der Universitäten in Dortmund und Jena analysieren jährlich für die Stiftung, wie gerecht und leistungsstark das jeweilige Schulsystem der einzelnen 16 Länder ist. Als positiv stellt die Studie heraus, dass die Zahl der jungen Menschen, die die Schule ohne Abschluss verlassen, bundesweit zurückgegangen ist und zwar von 6,9 Prozent (2009) auf 6 Prozent (2012). Zugleich ist der Anteil derjenigen Jugendlichen gestiegen, die das Abitur oder die Fachhochschulreife erwerben und damit studieren können. Zwischen 2009 und 2012 stieg dieser Anteil von 46,7 auf 54,9 Prozent.

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Der Chancenspiegel zeigt erneut große Unterschiede zwischen den einzelnen Bundesländern. Allerdings sei kein Land in allen Bereichen «Spitze oder Schlusslicht», heißt es darin. Erstmals haben die Forscher zudem Unterschiede innerhalb der einzelnen Länder untersucht und damit auch ein erhebliches Gefälle zwischen bestimmten Regionen und zwischen Stadt und Land festgestellt. Analysiert wurden von den Wissenschaftlern die «Integrationskraft» der Schulen, die «Durchlässigkeit» zwischen den einzelnen Schulformen, die «Kompetenzförderung» und die «Zertifikatsvergabe».

Nur mühsam kommt nach der Studie der Stiftung der Ausbau der Ganztagsschule voran. 2012 besuchten 32,3 Prozent der Schüler eine Schule mit Nachmittagsangeboten (2011: 30,6 Prozent). «Der insgesamt langsame Ausbau deckt bei weitem nicht die Nachfrage der Eltern», sagte Stiftungsvorstand Jörg Dräger. Nach Angaben der Forscher wünschen sich 70 Prozent der Eltern ein solches Angebot.

In einer Ganztagsschule bleibt Zeit für Projekte. Foto: flickingerbrad / Flickr (CC BY 2.0)

Nur 14,4 Prozent der Schüler besuchen Ganztagsschulen, in denen der Schulunterricht über den gesamten Tag gemeinsam im Klassenverband erteilt wird. Gerade diese Schulform mit verpflichtendem Ganztagsunterricht biete jedoch gute Rahmenbedingungen, alle Schüler individuell und optimal zu fördern.

Als Beispiel für die großen Bildungsunterschiede innerhalb einzelner Bundesländer verweisen die Forscher unter anderem auf Bayern, wo landesweit nur 4,9 Prozent der Jugendlichen die Schule ohne Abschluss verlassen. Regional schwankt dieser Anteil aber zwischen 0,7 Prozent und 12,3 Prozent. Mit entscheidend sei dabei auch das jeweilige Schulangebot vor Ort. In Sachsen erwerben zum Beispiel 44,7 Prozent der Schüler eine Hochschulreife. Die Spannbreite in den Kommunen liegt dabei zwischen 32 und 63 Prozent.

Die Methode des “Chancenspiegels” ist nicht unumstritten. Der Deutsche Philologenverband hält den «Chancenspiegel» für ungeeignet, Qualitätsaussagen zu den Bildungssystemen zu treffen. So erklärte Verbandschef Heinz-Peter Meidinger: „Der Chancenspiegel spiegelt nicht die Chancengerechtigkeit bzw. Chancenungerechtigkeit wider, sondern er spiegelt nur etwas vor, nämlich einen objektiven Bewertungsmaßstab für die Bildungssysteme der Länder zu haben. Das ist aber trotz eines beeindruckenden Tabellen- und Diagrammaufwands nicht der Fall.” Meidinger verwies darauf, dass beispielsweise Abiturquoten nichts über die jeweilige Studierfähigkeit aussagten. Beispielsweise unterschlage die Bertelsmann-Stiftung, dass Abiturienten aus verschiedenen Bundesländern sehr
unterschiedliche Erfolgsquoten bei Studienabschlüssen aufwiesen. Auch sage die Höhe der Inklusionsquote gar nichts darüber aus, wie intensiv und erfolgreich Kinder mit Behinderungen in den jeweiligen Bundesländern gefördert würden.

Der Deutsche Lehrerverband stößt ins selbe Horn. „Was die Bertelsmann Stiftung hier publiziert, ist teilweise nicht seriös”, erklärte Verbandspräsident Josef Kraus. So erfasse “die Bertelsmann-Studie bei der Analyse der sozialen Hintergründe von Schülern nicht, dass sich das deutsche Bildungswesen durch eine ausgesprochene vertikale Durchlässigkeit auszeichnet. Auf jeden Abschluss gibt es einen Anschluss. Die Studie dagegen legt Schulleistungsstudien zugrunde, in denen sich die ausgeprägte vertikale Durchlässigkeit des deutschen Schulsystems zum Beispiel über die zweiten Bildungswege nicht abbildet. Die tatsächlichen Bildungsbiographien erheblicher Schüler­anteile kommen somit nicht zum Tragen. Rund die Hälfte aller Studierberechtigten hat kein Gym­nasium besucht, sondern den Weg zur Studierberechtigung auf anderen Wegen erworben. Unter diesen jungen Leuten sind Kinder aus nicht akademischen Haushalten sogar stark vertreten.” Die Bertelsmann-Stiftung diskreditiere mit ihrem “Alarmismus”  Bildungswege außerhalb des Gymnasiums “und den ganzen Bereich anspruchsvoller beruflicher Bildung implizit als minderwertig”, sagte Kraus.

Nachdenklicher reagierte Udo Beckmann, Vorsitzender des Verbands Bildung und Erziehung (VBE). Er betonte (mit Blick auf Nordrhein-Westfalen): “Von Chancengerechtigkeit kann keine Rede sein.” News4teachers / mit Material der dpa

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