Ein Kommentar von ANDREJ PRIBOSCHEK.
BERLIN. Eigentlich ein Unding: Da muss ein Lehrerverbandschef (Meidinger) an die Länder appellieren, die Schulen bei der Verteilung der Bundesmittel für die Flüchtlinge nicht zu vergessen – dabei ist es (fast) schon eine Binsenweisheit, dass Integration vor allem über Bildung gelingt. Oder eben scheitert.
Diese vielen jungen Menschen, die auf ein friedliches und selbstbestimmtes Leben in Deutschland hoffen, sind eine riesige Chance für unser Land. Die Hunderttausenden von Kindern, die in diesen Wochen und Monaten Deutschland erreichen, machen in kurzer Zeit das, was die Familienpolitik der letzten Jahrzehnte mit Milliardensummen nicht erreicht hat: Sie stoppen die Vergreisung Deutschlands. Und das ist, um mit Berlins ehemaligem Bürgermeister Klaus Wowereit zu sprechen, gut so.
Die Zahlen werden allerdings in beeindruckender Geschwindigkeit immer größer. Ein paar Wochen lang war von 400.000 Flüchtlingen die Rede, die wahrscheinlich dieses Jahr nach Deutschland kommen würden. Als vor 14 Tagen der SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel die Million aufrief, galt das als unvorstellbar. Heute steht in der „Bild“-Zeitung zu lesen, dass die Behörden bereits mit 1,5 Millionen Menschen für 2015 rechnen. Der Anteil schulpflichtiger Kinder wird auf 30 Prozent geschätzt, so dass in diesem Jahr womöglich 500.000 Kinder in die deutschen Schulen kommen könnten, die besonderer Förderung bedürfen, die insbesondere Deutsch als Fremdsprache lernen müssen. Und man muss kein Prophet sein, um vorherzusagen: Der Flüchtlingszustrom wird mit dem Jahreswechsel allenfalls mäßig abebben, sodass auch in den nächsten (beiden?) Jahren enorm viele Menschen nach Deutschland kommen werden.
Damit diese gesellschaftliche Frischzellenkur nicht mit langfristigen sozialen Verwerfungen erkauft werden muss, sind jetzt Investitionen in die Bildung nötig, und zwar massive. Gelingt es uns, diesen vielen Kindern vom Start weg eine Perspektive für ein lebenswertes Leben in Deutschland zu geben, sollte uns um die Zukunft unseres Landes nicht bange sein. Doch das muss uns erst mal gelingen. Eine einfache Rechnung zeigt, wie groß der Kraftakt ist, der noch zu leisten sein wird. Für das gerade angebrochene Schuljahr wurden und werden von den Bundesländern nach derzeitigem Stand mittlerweile, großzügig geschätzt, 7.000 zusätzliche Lehrerstellen geschaffen. Bei dem aktuell kalkulierten Mehr von 500.000 Schülern kämen also rund 70 davon auf jede neue Lehrkraft. 70!
Klar ist, dass dies die Schulen in Deutschland vor die größte Herausforderung seit Jahrzehnten stellt. Inklusion? Schien noch vor wenigen Wochen das bildungspolitische Großthema Nummer eins zu sein. Das ist nunmehr (fast) schon passé. Integration, so heißt jetzt die nächste Mammutaufgabe, vor der die Lehrer in Deutschland stehen – freilich ohne, dass Sie den vorherigen Herkulesjob bereits hätten erledigen können.
Jetzt müssen alle Kräfte für die gewaltige Aufgabe in den Schulen gebündelt werden. Und das bedeutet auch, die ideologischen schulpolitischen Schlachten, die vor wenigen Wochen geschlagen wurden, ruhen zu lassen – bis auf weiteres.
Förder- und Sonderschulen abschaffen? Noch im Sommer war das im Zusammenhang mit der Inklusion eine zwar zweifelhafte, aber eine in vielen Bundesländern mehr oder weniger offen betriebene Politik. Angesichts der aktuellen Berichte kann jedoch niemand mehr ernsthaft bezweifeln, dass wir für die Eingliederung von sprachlich massiv zu fördernden und teilweise schwer traumatisierten Flüchtlingskindern die Kapazitäten und Kompetenzen gerade auch der Förderschulen benötigen. Wer jetzt (wie aktuell die Wissenschaftler des Leibniz-Forschungsverbundes „Bildungspotenziale“) fordert, alle Flüchtlingskinder im Grundschulalter sofort – also ohne sprachliche und gegebenenfalls psychologische Eingliederung – in die Grundschulen zu stecken, hat offenbar nicht die leiseste Ahnung davon, wie es bereits jetzt in den Kollegien gärt. Und wer als Schulpolitiker jetzt noch die Abrissbirne schwingt, hat wohl den Ernst der Lage nicht begriffen.