BERLIN. Wie lange kann es sich Deutschland eigentlich noch leisten, dass die Schule, und damit das Zukunftsthema Nummer eins, für die Bundesregierung ein verbotenes Terrain ist? Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) sprach beim „Forschungsgipfel“ in Berlin über den Nachholbedarf bei der Digitalisierung hierzulande, bei dem die Bildung zweifellos eine Schlüsselrolle spielt – und sagte allen Ernstes: „Ich darf als Bundeskanzlerin über Schulen nicht sprechen, das fällt nicht in meine Zuständigkeit.“ Dass sie es dann doch tat (zumindest kurz), zeigt, wie sehr ihr das Thema auf den Nägeln brennt. Kein Wunder: Deutschland ist dabei, seine Chancen zu verspielen, wenn der Unterricht weiterhin eine größtenteils computerfreie Zone bleibt.
Dass es mit der digitalen Bildung in Deutschland nicht allzu weit her ist, beleuchtete – einmal mehr – eine Umfrage im Vorfeld des „Forschungsgipfels“. Social Media? Big Data? Industrie 4.0? Nur ein Bruchteil der Bevölkerung kann mit solchen Schlüsselbegriffen der Digitalisierung von Wirtschaft und Gesellschaft etwas anfangen. Dass auch die vermeintlichen „digital natives“ keineswegs medienkompetent sind, hatte zuvor die ICIL-Studie aufgezeigt: Deutsche Achtklässler liegen danach im internationalen Vergleich bei den computer- und informationsbezogenen Kompetenzen nur im Mittelfeld – vergleichbar mit Russland und damit deutlich von der Spitze entfernt.
So stellt die Kanzlerin bei ihrem gestrigen Auftritt lapidar fest: „Ich würde ganz einfach sagen, die Schlacht ist noch nicht geschlagen.“ Merkel räumte ein, dass es auch bei ihr selbst Unsicherheiten über den Status Deutschlands bei der Digitalisierung gebe. „Mir ist nicht ganz klar, in welchen Bereichen sind wir top.“ Als Beispiele für eine positive Entwicklung nannte sie die „Industrie 4.0“ – die Verzahnung industrieller Produktion mit moderner Informationstechnologie – und die „Digitale Agenda“ der Bundesregierung. Allerdings umschifft auch dieses Programm das Thema (Schul-)Bildung weiträumig. Das vor gut zehn Jahren von der damaligen großen Koalition im Bund aus CDU und SPD in der Verfassung verankerte Kooperationsverbot stellt die Schulen allein unter die Hoheit der Bundesländer.
Neue Methodik des Lernens
Etwas hilflos befand Merkel gestern dann auch, dass die digitalen Medien die Methodik des Lernens verändern würden – es aber keine „selbstverständliche Sache“ sei, wenn die Schüler dem Lehrer den Umgang mit diesen Medien erst erklären müssten. Bei der Lehrerbildung müsse gegengesteuert werden, und daran arbeite das Bundesbildungsministerium. Aber: Kein Wort von der Kanzlerin zur „mittelalterlichen“ IT-Ausstattung der Schulen (VBE-Chef Udo Beckmann). Kein Wort von ihr zum bislang äußerst bescheidenen Engagement der Länder in Sachen digitaler Bildung.
Stattdessen: ein Appell an Wirtschaft und Gesellschaft, die immer tiefer in den Alltag vordringende Digitalisierung mit positiven Gefühlen zu begleiten und voranzutreiben. „Alle wird es irgendwann erreichen“, sagte sie. Auch die Wissenschaft müsse dabei „Mitnahme-Arbeit“ leisten. So gelte es, die Einstellung der Menschen etwa zu digitalen Technologien oder zum Robotereinsatz zu verbessern. Merkel betonte, „dass wir den Standort Deutschland für Startups attraktiver machen wollen, aber auch müssen“. Die geringe Zahl von Internetfirmen in Deutschland sei “ein Nachteil”. Auf europäischer Ebene gebe es Defizite gegenüber Asien und den USA beispielsweise wegen eines zerklüfteten Telekommunikationsmarktes.
Für die Regierung sagte die Kanzlerin zu, die Rahmenbedingungen weiter zu verbessern, etwa im Sektor automatisierte und vernetzte Mobilität. Es gebe aber schon „Verlässlichkeit der Finanzierung“, man habe sich dem Ziel von drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) für Forschung und Entwicklung „ganz gut genähert“. Derzeit investiert Deutschland 2,9 Prozent des BIP – für viele Experten noch zu wenig. „Unseren Wohlstand werden wir uns nur erhalten können, wenn wir diese Innovationskraft auch weiter behalten“, sagte Merkel.
Mahnung von Zetsche
Daimler-Chef Dieter Zetsche forderte mehr Mut von den Entscheidern in Politik, Wissenschaft und Wirtschaft – und sein Statement ließ sich auch als Mahnung an Merkel lesen, endlich mehr Engagement für die digitale Bildung in den Schulen zu zeigen. Zetsche: „Gerade in Zeiten der digitalen Revolution gilt: Der Weg des geringsten Widerstandes ist oft der gefährlichste. Gerade jetzt haben wir ein ganzes Universum an Möglichkeiten vor uns – auch wenn manche die Digitalisierung als Bedrohung für unsere Branchen betrachten. Wir sehen sie als größte Bereicherung seit der Erfindung des Automobils.“
Der «Forschungsgipfel» wurde zum zweiten Mal veranstaltet vom Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft, der Leopoldina Nationale Akademie der Wissenschaften und der Expertenkommission Forschung und Innovation. Diese hatte in ihrem Jahresgutachten 2016 kürzlich festgestellt, dass Deutschland etwa bei der Förderung des Wachstumssektors Serviceroboter oder bei der Nutzung digitaler Chancen für Firmen und Verwaltungen nicht optimal aufgestellt sei. So hätten die Firmen „mit wenigen Ausnahmen in den neuen Bereichen der digitalen Wirtschaft bislang keine Stärken aufgebaut“. Sorge bereite auch, „dass ein Großteil des Mittelstands den digitalen Wandel noch nicht mit der erforderlichen Intensität verfolgt“.
Wie denn auch, wenn es an der Grundlage – digitaler Bildung – fehlt?
News4teachers/mit Material der dpa