BERLIN. Die Meldung war für Berlin ein Schock. Die Zahl der Jugendlichen, die in der Hauptstadt die Schule ohne Abschluss verließ, ist im vergangenen Jahr auf einen Rekordwert geklettert: Jeder neunte scheiterte. Die Berliner Bildungsverwaltung unter Senatorin Scheeres (SPD) hat offenbar reagiert – die zentralen Abschlussprüfungen für die Zehntklässler in Mathematik fielen nun so leicht aus, dass sich selbst Schüler veralbert fühlten, berichtet der „Tagesspiegel“. Schon die Mathe-Prüfungen im diesjährigen Zentralabitur waren als zu einfach kritisiert worden. Der Philologenverband sieht darin einen bundesweiten Trend.
Im Schuljahr 2012/13 waren es in Berlin 9,2 Prozent der Schüler, die keinen Abschluss machten. Davor, im Schuljahr 2011/12, waren es sogar nur 7,4 Prozent gewesen. Und jetzt, also im Schuljahr 2014/15: satte 10,9 Prozent – ein unrühmlicher Rekord. Große Unterschiede gab es einem Bericht des „Rundfunks Berlin-Brandenburg“ (rbb) zufolge zwischen Kindern mit deutscher und nicht-deutscher Herkunftssprache: Während 7,4 Prozent der Jugendlichen mit Deutsch als Muttersprache keinen Abschluss schafften, waren es unter denen mit einer anderen Herkunftssprache erschreckende 18,6 Prozent.
Kritik aus der eigenen Partei
Der SPD-Abgeordnete Joschka Langenbrinck, Parteifreund von Schulsenatorin Sandra Scheeres, zeigte sich, als die Zahlen im Februar auf seine Kleine Anfrage hin veröffentlicht wurde, „entsetzt“ über die Entwicklung. Diese müsse gestoppt werden. „Wir müssen anfangen, die Bildung in Berlin zu gestalten und nicht nur zu verwalten”, forderte der Sozialdemokrat. Vor allem die Grundschulen müssten deutlich besser ausgestattet werden. „Wir brauchen besser bezahlte und auch mehr Grundschullehrer“, erklärte Langenbrinck. Auch müsse eine Brennpunktzulage für Lehrer und Erzieher in bestimmten Kiezen eingeführt werden.
Die Bildungsverwaltung hatte aber augenscheinlich eine eher kurzfristig wirkende Maßnahme gegen das Schülerscheitern im Blick. Gymnasiallehrer beklagen jedenfalls im aktuellen Abitur „wachsweiche Prüfungen“ in Mathematik, das für mäßige und schlechte Schüler als besonderes Problemfach gilt. „Die Fragen waren einfach: So lässt sich eine Aufgabe der Geometrie und Stochastik in der Regel fast ausschließlich mit Mitteln der Mittelstufe lösen“, so zitiert der „Tagesspiegel“ einen Fachbereichsleiter Mathematik an einem Gymnasium in Westend. Unter seinen Kollegen im Bezirk sei es „unstrittig, dass der Schwierigkeitsgrad streng monoton fallend ist“. Ganze Themengebiete seien gestrichen worden: „Sinus und Cosinus kommen in der Analysis in Funktionsuntersuchungen nicht mehr vor, auch keine Logarithmen in der Analysis, und auch nicht gebrochen rationale Funktionen“.
Dem Eindruck, „dass die Bildungsverwaltung ihre Bilanz schönen will“, widersprach diese jedoch entschieden. Die Aufgaben seien von einer Kommission „geprüft und genehmigt“ worden, die „in nahezu gleicher personeller Besetzung“ seit vielen Jahren bestehe. Mit Zehntklässlerwissen hätten die Abituraufgaben „nicht annähernd erfolgreich bearbeitet werden“ können, erklärte eine Behördensprecherin gegenüber dem Blatt.
“Dieses Jahr ist Pillepalle”
Doch die zentralen Abschlussprüfungen am Ende der Klasse 10 – an denen auch die Gymnasien teilnehmen – geben dem Verdacht neue Nahrung. Die Durchfallerquote sei an ihrer Schule um fast 50 Prozent gesunken, so berichtet eine Schulleiterin gegenüber dem „Tagesspiegel“. Doch die Freude darüber sei im Kollegium gedämpft, „denn wir wissen, was dahinter steht“. An einer anderen Schule heißt es der Zeitung zufolge: „Schon beim Öffnen der Aufgaben haben die Mathematiklehrer gesagt, dass das dieses Jahr Pillepalle ist.“ Auf besonderen Unmut der Lehrerschaft stieß eine Aufgabe auf Grundschulniveau: Drei Ziffern (2,3,6) sind gegeben. Zu beantwortende Frage: Welches ist „die größte dreistellige Zahl, die aus diesen Ziffern gebildet werden kann“ (Ergebnis: 632)?
Bei der Bildungsverwaltung hieß es dem „Tagesspiegel“ zufolge, dass die Aufgaben wie stets „vorab pilotiert“ wurden. Eine signifikante Häufung „einfacher“ Aufgaben sei dabei nicht beobachtet worden. Zur Aufgabe auf Grundschulniveau erklärte die Behördensprecherin dem Bericht zufolge, „in prüfungsdidaktischer Hinsicht“ könne es angezeigt sein, „durch eine einfache, einführende Fragestellung die Aufmerksamkeit der Schüler auf bestimmte Gesichtspunkte zu lenken, die für die folgende Bearbeitung der folgenden Aufgaben wichtig sind“.
Der bayerische Realschullehrerverband hingegen befand, in der Realschule in Bayern sei eine derartige Abschlussprüfung „undenkbar“. Viele Aufgaben lägen auf dem Niveau „maximal der siebten Klasse“. Agentur für Bildungsjournalismus
Hier geht es zu den kritisierten Mathematik-Aufgaben der aktuellen Abschlussprüfung.
Erst in dieser Woche – anlässich der Präsentation des Bundesbildungsberichts – hatte Philologen-Chef Heinz-Peter Meidinger vor einer Verwässerung der Abschlüsse in Deutschland gewarnt. „Es mehren sich die Anzeichen, zum Beispiel Befunde von Studien, steigende Abbruchquoten in vielen Studienfächern, aber auch Beobachtungen an Hochschulen und bei Arbeitgebern, dass die Qualität der Abschlüsse mit der gestiegenen Quantität nicht Schritt gehalten hat”, so hatte der Verbandsvorsitzende erklärt. “Zu befürchten ist, dass dadurch nicht nur Hauptschul- und Realschulabschlüsse entwertet werden, weil ein Verdrängungswettbewerb nach unten stattfindet, sondern auch das Abitur als Hochschulzugangsberechtigung mittel- und langfristig in Frage gestellt wird, wenn hinter der Studienberechtigung immer häufiger keine Studienbefähigung mehr steht.“