OLDENBURG. Nach dem umstrittenen Freiheitsberaubungs-Urteil gegenüber einem Lehrer hat nun ein deutsches Gericht Partei für einen unter Druck geratenen Pädagogen ergriffen: Es verurteilte einen Vater – Polizist von Beruf – dafür, den Biologie-Lehrer seines Sohnes „unschuldig verfolgt“ zu haben. Allerdings waren selbst in diesem krassen Fall zwei Instanzen nötig, um den wildgewordenen Hauptkommissar zur Rechenschaft zu ziehen. Und: Das Gericht sah lediglich eine minderschwere Schuld des Angeklagten – was einmal mehr die Frage aufwirft, ob Ausfälle gegenüber Lehrkräften grundsätzlich von Richtern in Deutschland als zumindest ein bisschen entschuldbar gewertet werden.
Der aktuelle Fall, über den die „Nordwest Zeitung Oldenburg“ berichtet, ist nicht dazu angetan, das ohnehin allzu häufig konfliktbeladene Verhältnis zwischen Eltern und Lehrkräften zu verbessern. Die Geschichte spielt an einer Außenstelle eines renommierten niedersächsischen Gymnasiums, wo der Sohn des Angeklagten seinerzeit die 6. Klasse besuchte. Auf dem Stundenplan stand Biologie, unterrichtet von einem 63-jährigen Pädagogen, der offenbar auch schon zuvor seine liebe Mühe mit dem Jungen gehabt hatte.
So auch an dem Tag: Der Schüler störte mal wieder so massiv den Unterricht, dass er für fünf Minuten vor die Tür musste. Der Junge nutzte die Auszeit, um mit seinem Handy seinen Vater zu kontaktieren. Der hatte sich extra für diesen Tag Urlaub genommen – weil er, wie er später vor Gericht erklärte, Ärger befürchtet hatte. Er meinte (und meint wohl noch), der Bio-Lehrer habe seinen Sohn „auf dem Kieker“. Unmittelbar nach der Nachricht von seinem Sohn über den erneuten Ärger eilte der der Vater zur Schule, um den Lehrer zur Rede zu stellen. Als der im nun folgenden hitzigen Gespräch befand, der 53-Jährige solle seinen Sohn gefälligst besser erziehen, packte den Vater augenscheinlich die Wut – und versetzte sich selbst, wie er dem verdutzen Lehrer erklärte, in seinen Dienst als Hauptkommissar.
Was nun folgte, dürfte ein Albtraum-Szenario für Lehrkräfte sein. Denn der Gesprächsinhalt änderte sich schlagartig – plötzlich war der Pädagoge ein polizeilich Beschuligter: Ob er getrunken habe, er habe glasige Augen, einen schwerfälligen Gang und rieche nach Alkohol, so attackierte der Polizist den Lehrer. Er sei ja wohl mit dem Auto zur Schule gekommen. „Du kommst hier nicht weg“, soll der Polizist dann gedroht haben – tatsächlich rief er einige Kollegen in die Schule, die den Pädagogen einem Alkoholtest unterzogen (allerdings von dem Streit zuvor nichts wussten). Ergebnis der Kontrolle: 0,0 Promille. Tatsächlich hatte sich der Lehrer trotz eines entzündeten Hüftgelenks zum Unterricht geschleppt.
Der Angeklagte erklärte später vor Gericht, er habe „Gefahr im Verzug“ gesehen. Das glaubte ihm die Staatsanwaltschaft nicht: Sie sah den Tatbestand „Verfolgung Unschuldiger“ erfüllt – ein Verbrechen, das mit einer Mindeststrafe von einem Jahr Haft geahndet wird. Wäre der Polizeibeamte in diesem Sinne schuldig gesprochen werden, hätte er seinen Beruf und die Pension verloren. So weit kam es zwar nicht. Das Landgericht Oldenburg war aber trotzdem davon überzeugt, dass der Angeklagte dem Lehrer „eins auswischen“ wollte.
Während des heftigen Streits habe der Angeklagte dann aus dem „Vater-Modus“ in den „Polizei-Modus“ geschaltet, so befand die Richterin. Torkelnder Gang oder glasige Augen? „Diese Kriterien gab es nicht, auch nicht in der Wahrnehmung des Angeklagten“, meinte die Richterin dem Zeitungsbericht zufolge – entschied allerdings auf einen minderschweren Fall. Das Urteil lautet zehn Monate Haft auf Bewährung und 3.000 Euro Strafe, wovon 1.000 Euro der Angeklagte an den Lehrer zahlen muss. Da die Verurteilung unter einem Jahr blieb, kann der Polizist im Dienst bleiben und verliert auch nicht seine Pensionsansprüche. In erster Instanz war er sogar freigesprochen worden
Vor zwei Wochen war in nordrhein-westfälischen Neuss ein Lehrer wegen Freiheitsberaubung verurteilt worden. Er hatte sich vor die Klassenzimmertür gesetzt, um Schüler daran zu hindern, den Raum zu verlassen, bevor sie eine aufgegebene Stillarbeit erledigten. In der vergangenen Woche war ein 15-jähriger Schüler lediglich zu 20 Arbeitsstunden und einer Strafarbeit verurteilt worden, der seiner Lehrerin eine Handgranaten-Attrappe vor die Füße geworfen und dabei „Allahu akbar“ gerufen hatte. Die Reihe von Urteilen wirft die Frage auf: Sind Lehrkräfte im Dienst rechtlich genügend geschützt? Zweifel sind erlaubt. Agentur für Bildungsjournalismus