GOSLAR. Der Besuch des Philologentages ist für die Spitze des niedersächsischen Kultusministeriums Pflicht, so wie der Auftritt der bösen Hexe im Kasperle-Theater. Eine Freude ist das Gastspiel für die Anti-Heldin selten. Denn zumeist gibt es reichlich Haue – so auch heute wieder.
Zu einer Generalabrechnung mit der Schulpolitik der rot-grünen Landesregierung hat der niedersächsische Philologenverband seine Jahrestagung in Goslar genutzt. Der Landesvorsitzende des Gymnasiallehrer-Verbandes, Horst Audritz, kritisierte am Mittwoch, es gebe einen «verantwortungslosen Bildungsabbau». Dem Kultusministerium warf er «Erleichterungspädagogik» vor.
Als Beispiel nannte der Chef des Verbandes, dem rund 8000 Lehrer angehören, die Senkung der Anforderungen in der gymnasialen Oberstufe. So gebe es weniger Klausuren, nur noch eine verbindliche Fremdsprache und die Fachhochschulreife werde «zu deutlich herabgesetzten Preisen vergeben», sagte Audritz.
Auch sei die vom Kultusministerium als «modern» und «innovativ» gelobte sogenannte Präsentations-Prüfung nicht geeignet, um in der mündlichen Abiturprüfung eigene Kenntnisse nachzuweisen, sagte Audritz. Zudem biete diese Form der Prüfung keine Chancengerechtigkeit. Wer aus einem bildungsnahen Umfeld stamme oder Geld für kommerzielle Hilfe bei der Vorbereitung zur Verfügung habe, sei klar im Vorteil.
Zudem sei der Stundenanteil «der anspruchsvollen naturwissenschaftlichen Fächer» im Sekundarbereich I. reduziert worden. Die sogenannte Kompetenz-Orientierung, bei der «Lerninhalte gleichgültig und Grundlagenwissen nicht mehr wichtig», seien, nannte Audritz einen «Irrweg». Alles dies führe zu einer «Inflationierung qualifizierter schulischer Abschlüsse».
Der Philologen-Vorsitzende bemängelte auch, der Wegfall der Schullaufbahnempfehlung nach der Grundschule sei ein Fehler. Die Gymnasien müssten nun Schüler aufnehmen, die nicht die Voraussetzungen für das Abitur mitbrächten. Schüler, die dem Unterricht auf gymnasialem Niveau «in keiner Weise folgen können», würden «zwangsläufig permanent frustriert», sagte Audritz. Zudem sei die Überweisung von «eindeutig überforderten Schülern auf eine für sie geeignete Schulform sehr erschwert worden».
Inklusion? Ja, aber…
Der Philologen-Vorsitzende bekräftigte seine schon vorab erhobenen Bedenken gegen die Inklusion, den gemeinsamen Unterricht von Schülern mit und ohne Behinderung. Der Philologenverband bejahe zwar die Zielsetzung der UN-Konvention, wonach behinderte Menschen das Recht auf die volle Teilhabe an allen Bildungsmöglichkeiten haben, sagte Audritz. An Gymnasien würden deshalb selbstverständlich seit langer Zeit auch behinderte Kinder und Jugendliche unterrichtet. «Wir sehen allerdings keinen Sinn in der Beschulung von behinderten Kindern und Jugendlichen am Gymnasium, bei denen nicht die geringste Chance besteht, dass sie die staatlich festgelegten Ziele dieser Schulform jemals erreichen», nämlich das Abitur.
Der Sozialverband Deutschland (SoVD) warf dem Philologenverband «rückwärtsgewandtes Denken» vor. Er habe «nicht den Eindruck, dass die Philologen der Inklusion in Niedersachsen eine echte Chance geben wollen», sagte der Landesvorsitzende Adolf Bauer.
Auch Kultusministerium Frauke Heiligenstadt verteidigte die Inklusion. «Wir können in Niedersachsen mit einer Portion Stolz sagen, dass bei uns keine Schule für Kinder mit Behinderung verschlossen ist», sagte die SPD-Politikerin in Goslar. Die Landesregierung investiere bis zum Jahr 2020 rund 1,7 Milliarden Euro für die Ausstattung und Unterstützung inklusiver Schulen sowie für die Einstellung und Ausbildung zusätzlicher Sonderpädagogen.
Nach Heiligenstadts Angaben besuchen derzeit von landesweit 15 378 Kindern, die in öffentlichen Schulen inklusiv unterrichtet werden, 374 ein Gymnasium. Landesweit gibt es 257 öffentliche Gymnasien mit knapp 221 000 Schülerinnen und Schülern.
Breiten Raum nahm in Goslar erneut das Thema «Lehrerarbeitszeit» ein. Philologen-Chef Audritz kritisierte, dass Lehrer ohne zeitlichen Ausgleich immer mehr zusätzliche Aufgaben aufgebürdet bekämen. Jüngstes Beispiel sei die vom Kultusministerium verordnete «kompetenzorientierte Berufs- und Studienorientierung» die jede Schule in jeweils eigene detaillierte Konzepte umsetzen müsse. Dabei müssten vor allem Gymnasiallehrer jetzt deutlich mehr arbeiten als die für Beamte geltenden 40 Stunden pro Woche.
Ministerin Heiligenstadt kündigte in Goslar eine Entlastung der Schulen durch zusätzliche Sozialarbeiter, mehr Geld für Computerspezialisten und klare Regelungen für Verwaltungskräfte an. Eine entsprechende Vereinbarung mit den kommunalen Spitzenverbänden stehe kurz vor der Unterschrift. Von Matthias Brunnert, dpa

