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VBE-Gutachten zur Inklusion: Zahl der Schüler mit emotional-sozialen Entwicklungsstörungen wächst dramatisch – und die Probleme werden klein geredet

BERLIN. Die Zahl der Kinder und Jugendlichen mit diagnostizierten emotional-sozialen Entwicklungsstörungen hat sich in den vergangenen zwölf Jahren in Deutschland nahezu verdoppelt – und sie bereiten den Regelschulen zunehmend Probleme. Denn im Zuge der voranschreitenden Inklusion müssen immer mehr solcher sogenannter „ESE-Schüler“  an Regelschulen unterrichtet werden, ohne dass dort genügend besonders qualifizierte Sonderpädagogen bereitstünden. Zu diesen Ergebnissen kommt eine Expertise, die der Berliner Psychoanalytiker und Pädagoge Prof. Bernd Ahrbeck im Auftrag des VBE erstellt hat. „Für die Beschulung dieser Kinder in inklusiven Lerngruppen braucht es die Doppelbesetzung mit Lehrkraft und Sonderpädagoge und die Zusammenarbeit in multiprofessionellen Teams zur intensivpädagogischen Beschulung“, fordert VBE-Vorsitzender Udo Beckmann angesichts des Befundes.

Kinder mit dem Befund “ESE” benötigen intensivpädagogische Förderung. Foto: Christos Tsoumplekas / flickr (CC BY-NC 2.0)

Anhand von Zahlen der Kultusministerkonferenz ist dem Bericht zufolge nachzuvollziehen, dass 2005 über 46.000 Schülerinnen und Schüler (2010 schon 62.500) in Deutschland einen attestierten Unterstützungsbedarf im Bereich der „Emotionalen und sozialen Entwicklung“ hatten, während es 2015 über 85.500 waren. Das entspricht einer Steigerung von 86 Prozent in zehn Jahren. Gleichzeitig gibt es laut Ahrbeck die Tendenz, das Phänomen zu verniedlichen – auch von Behördenseite. „Begrifflich ist oft von Verhaltensauffälligkeiten oder Verhaltensstörungen die Rede, zunehmend auch von Kindern mit ‚herausforderndem‘, ‚originellem‘ oder auch ‚überraschendem‘  Verhalten.“ Aus Sorge, Kinder durch Fachbegriffe zu „etikettieren“ und zu „diskriminieren“ würden  personenbezogene  Diagnosen  immer öfter allenfalls noch in „weicher“ Form als erlaubt gelten – mit der Folge, dass gravierende Störungen bagatellisiert würden. Tatsächlich aber handele es sich um eine stark beeinträchtigte Schülergruppe.

“Erhebliche Belastungen”

Wörtlich heißt es in der Expertise: „Um leichte Anpassungsprobleme handelt es sich nicht. Lebensgeschichtlich weisen sie (die Kinder, d. Red.) erhebliche Belastungen auf, die zu Bindungsstörungen, unzureichend  entwickelten psychischen Strukturen, gravierenden inneren Konflikten und nicht selten Traumatisierungen geführt haben. Symptomatisch handelt es sich im  jüngeren  Lebensalter  um  Hyperaktivitäts-Aufmerksamkeitsstörungen von Krankheitswert, eine innere Struktur- und Regellosigkeit  mit aggressiv ausagierendem Verhalten und massive Angststörungen. Im späteren Lebensalter kommen dissoziale und delinquente Entwicklungen hinzu, oft gepaart mit früh einsetzendem Drogenmissbrauch und Schulabsentismus. Weiterhin spielen depressive Beeinträchtigungen und soziale Einkapselungen eine wichtige Rolle. Häufig ist ihre persönliche Problematik in ein schwieriges familiäres und soziales Umfeld eingebunden, das sich für eine Weiterentwicklung nur als begrenzt förderlich erweist.“

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Wie kaum eine andere Personengruppe, so betont Ahrbeck „stellen diese Schülerinnen und Schüler die Unterrichtenden vor schwierige, mitunter kaum lösbare pädagogische Aufgaben. (…) Die Gründe dafür sind vielfältig. Sie liegen zum einen in den sozialen Störungen, die sie häufig  verursachen, und darin, dass der Toleranzrahmen der Umwelt (verständlicherweise) begrenzt ist. Vor allem dann, wenn Störungen langfristig währen und die Beeinträchtigung Anderer, von Mitschülern wie Lehrpersonen, überhandnimmt.“

Ein pädagogischer Zugang zu dieser Personengruppe sei auch dadurch erschwert, dass sie häufig ein erhebliches Maß an persönlicher Zuwendung und Geduld benötigten, die im pädagogischen Alltag oft nicht aufzubringen seien. „Zusätzlich erschwerend ist, wenn das kindliche Verhalten unverständlich bleibt, was häufig vorkommt. Innere Probleme und Notlagen werden so in Szene gesetzt, dass sie den dahinter stehenden Sinngehalt verdecken und dadurch schwer entschlüsselbare Beziehungskonstellationen entstehen. Die Kinder und Jugendlichen entziehen  sich  deshalb  konventionellen  pädagogischen  Bemühungen.“ Fazit des Wissenschaftlers: „Aus fachlicher Sicht erweist es sich als zwingend notwendig, dass im notwendigen Umfang  akademisch  hoch  qualifizierte  Sonderpädagogen  zur  Verfügung  stehen. Das ist gegenwärtig nicht der Fall.“

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Ohnehin sei eine allzu dogmatische Umsetzung der Inklusion mit Blick auf diese Betroffenengruppe höchst problematisch.  „Die gemeinsame Beschulung von Kindern mit und ohne Behinderung stellt einen hohen Wert dar. Viele Schülerinnen und Schüler mit emotional-sozialem Förderbedarf können davon profitieren, aber ganz sicher nicht alle. Der prinzipielle Verzicht  auf  spezielle  Beschulungsformen  (Klassen/Schulen)  und  die  Aufgabe  von Wahlfreiheiten sind aus fachlicher Sicht und im Sinne des Kindeswohls nicht vertretbar“, so meint der Professor.

VBE-Chef Beckmann betont: „Momentan stimmen die von der Politik zur Verfügung gestellten Bedingungen einfach nicht! Es braucht intensivpädagogische Förderung, um Kindern mit attestiertem Förderbedarf und den vielen Kindern mit psychischen Problemen das gemeinsame Lernen zu ermöglichen. Erforderlich ist ebenfalls, dass Raumkonzepte umgesetzt werden, die individualisierten Unterricht und Förderung in Kleingruppen ermöglichen. Außerdem müssen weitere Professionen einbezogen werden. Das Arbeiten in multiprofessionellen Teams ist insbesondere für eine angemessene Förderung von Kindern mit dem Förderschwerpunkt ‚Emotionale-soziale Entwicklung‘ unabdingbar.“ Agentur für Bildungsjournalismus

Hier geht es zu der Expertise.

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