Eine Analyse von Laura Millmann, Redakteurin von News4teachers.
DÜSSELDORF. Inklusion, Integration – und mehr: Die Belastung von Grundschul-Lehrkräften ist zum Teil höher als die von Kolleginnen und Kollegen der weiterführenden Schulen. Trotzdem konnten Lehrerinnen und Lehrer an Grundschulen von A13 bislang nur träumen. Die jüngste Entscheidung des Berliner Senats hat jedoch Signalwirkung: Ab dem Schuljahr 2017/2018 werden dort alle Grundschullehrkräfte, die ab August 2014 ihr Referendariat begonnen haben, nach A13 bzw. E13 vergütet – Vorbild für ganz Deutschland?
Die Aktion ist beispiellos: Mehr als 50 Lehrer reichten beim hessischen Kultusministerium eine Überlastungsanzeige ein – und die meisten dieser Brandbriefe kamen aus Grundschulen. Hatten zunächst rund 120 Schulen in Hessen mit solchen Brandbriefen ans Ministerium ihre Überforderung insbesondere in Sachen Inklusion zu Protokoll gegeben, so waren es nun einzelne Lehrkräfte, die sich beim Dienstherren über ihre Lage beschweren. Das erfordert Mut. Und ein hohes Maß an Verzweiflung.
Die Kolleginnen und Kollegen wiesen arbeitsrechtlich auf mögliche Risiken durch die Überbeanspruchung hin. Im Klartext: Die Lehrkräfte fürchten um ihre Gesundheit – und gaben das gegenüber dem Ministerium offiziell zu den Akten. Von den massiv überlasteten Lehrerinnen und Lehrern unterrichten 37 an einer Grundschule, so musste das Ministerium auf die Kleine Anfrage eines Abgeordneten hin einräumen. Die überwiegenden Gründe für die Belastung während des Unterrichts seien ein gestiegenes Arbeitspensum, Mehrarbeit durch Inklusion, dreckige Schulen mit baulichen Mängeln und erschwerte Arbeitsbedingungen wegen eines sozial schwierigen Umfelds.
Wenn eine Schule – oder eine einzelne Lehrkraft – meldet, dass sie überlastet ist und ihre pädagogischen Aufgaben nicht mehr erfüllen kann, dann ist das keine Kleinigkeit. Wir erinnern uns: 2006 geriet die Berliner Rütli-Schule im Problemstadtteil Neukölln bundesweit in die Schlagzeilen, weil sie der Gewalt auf dem Schulhof nicht mehr Herr wurde – und dies in einem Brief an die Senatsverwaltung mitteilte. Jetzt ist es also die Welle von Überlastungsanzeigen in Hessen, die ein Schlaglicht auf die Situation der Lehrkräfte bundesweit wirft, und zwar insbesondere an den Grundschulen.
Gesundheitliche Belastung
Das permanente Gefühl der Überlastung hat Folgen. So kam eine repräsentative Studie der Krankenkasse DAK unter Grundschul-Lehrkräften in ganz Deutschland zu besorgniserregenden Befunden. Die meisten Lehrkräfte (87 Prozent) sind mit ihrem Beruf zufrieden. Doch die gesundheitliche Belastung ist hoch: Jeder Vierte macht sich sehr große oder große Sorgen, dass er aufgrund der körperlichen und psychischen Berufsanforderungen schon vor dem Pensionsalter aus dem Beruf ausscheiden muss. Als besonders belastend bezeichneten die befragten Grundschul-Lehrer den Umgang mit verhaltensauffälligen Schülern (64 Prozent), Lärm (61 Prozent) und fehlende Erholungspausen im Schulalltag (54 Prozent). Auch „Präsentismus“ ist an deutschen Grundschulen an der Tagesordnung: Fast drei Viertel der befragten Pädagoginnen und Pädagogen sind im vergangenen Jahr mindestens einmal krank zur Arbeit gegangen, 55 Prozent davon sogar mehrmals.
Dass Grundschul-Lehrkräfte sich offenbar stärker noch als Lehrkräfte in der Sekundarstufe belastet fühlen, hat tatsächlich nachvollziehbare Gründe. Keine andere Schulform ist so stark mit der Inklusion von besonders förderbedürftigen Kindern und der Integration von Flüchtlingskindern beschäftigt wie die Primarstufe, nirgends sonst ist die Heterogenität der Schülerschaft so groß. Unlängst kam eine Studie der Bertelsmann Stiftung zum Ergebnis: „Unverändert gilt in Deutschland: Je höher die Bildungsstufe, desto geringer sind die Chancen auf Inklusion. (…) Die Grundschulen nehmen immer mehr Förderschüler auf. Doch sobald Kinder mit und ohne Handicap eine weiterführende Schule besuchen, müssen sie in der Regel getrennt lernen. Während der Inklusionsanteil in den Grundschulen 46,9 Prozent (2008/09: 33,6 Prozent) beträgt, fällt er in der Sekundarstufe auf 29,9 Prozent (2008/09: 14,9 Prozent)“, so wird berichtet. Ähnliches dürfte für Hunderttausende von Flüchtlingskindern gelten, deren erste schulische Anlaufstelle in Deutschland in der Regel die Grundschule ist – der damit der Großteil der sprachlichen und sozialen Integration überlassen bleibt.
Doch die Grundschulen sind nicht nur stärker belastet durch die aktuellen Entwicklungen im Bildungssystem als die weiterführenden Schulformen – sie haben auch noch weniger Ressourcen zur Verfügung, um die Herausforderungen zu meistern. In jedem Bundesland liegen die Ausgaben für die Schülerinnen und Schüler der Sekundarstufen I und II grundsätzlich höher als für die der Grundschulen: „Dem bundesdurchschnittlichen Grundschulwert von 5.600 Euro standen 2013 in den Realschulen 5.900 Euro, in den Gymnasien und Gesamtschulen jeweils 7.500 Euro und in den Schulen mit mehreren Bildungsgängen 7.700 Euro gegenüber“, so steht es in einem Gutachten, das der Bildungsforscher Prof. Klaus Klemm von der Universität Duisburg Essen im Auftrag des Grundschulverbandes erstellt hat.
Der Landesverband Nordrhein-Westfalen des VBE hat eine weitere Studie in Auftrag gegeben, deren Ergebnisse tendenziell auch auf die anderen Bundesländer übertragbar sein dürften. Danach prägen Unterrichtsausfall und Personalprobleme den Alltag an den Grundschulen im Land. So hat mehr als jedes dritte Kollegium (37,95 Prozent) nicht die Lehrkräfte, die ihm nach dem von der Landesregierung festgelegten Personalschlüssel zustehen, heißt es in einer Pressemitteilung des VBE. Zwei Drittel der Grundschulen (62,65 Prozent) gaben außerdem an, dass sie zur Vermeidung von kurzfristigem Unterrichtsausfall keine personelle Reserve hätten. Bei einer durchschnittlichen Lerngruppengröße von 24,13 Schülerinnen und Schüler wundere es nicht, dass 69,9 Prozent der befragten Lehrkräfte angeben, dass die Schule nicht die Förderung anbieten kann, die die Schülerinnen und Schüler benötigen, um individuell gefördert werden zu können. „Das ist ein Desaster, wenn man bedenkt, dass sich in der Grundschule die gesamte Talentbreite von Kindern findet“, sagte Beckmann. Sein Fazit: Die Grundschule ist das Stiefkind der Politik.
GEW-Chefin Tepe im N4t-Interview: „Hoffe, dass bis 2020 alle Grundschullehrkräfte A13 haben”
Das lässt sich bislang auch am Gehalt der Lehrkräfte festmachen. “Nach dem Motto ‚Kleine Kinder – kleines Geld, große Kinder – großes Geld‘ werden Grundschullehrkräfte bis heute schlechter bezahlt als die Lehrerinnen und Lehrer an den anderen Schularten“, sagt GEW-Vorstandsmitglied Ilka Hoffmann.
Die Lehrerverbände GEW und VBE machen dagegen jetzt mobil – und verlangen unisono eine finanzielle Gleichstellung von Grundschullehrkräften gegenüber Kollegen anderer Schulformen. „Grundschullehrerinnen werden noch immer strukturell benachteiligt und durch die Bezahlung nach Schuhgröße der unterrichteten Kinder finanziell schlechter gestellt“, kritisiert VBE-Chef Udo Beckmann.
Das scheint sich jetzt zu ändern. Berlin ist das erste Bundesland, das zumindest jüngeren Grundschullehrkräften A13 in Aussicht stellt. Das hat der Senat allerdings nicht allein deshalb beschlossen, um der Belastung von Grundschullehrkräften Rechnung zu tragen. Sondern: Die Bundeshauptstadt ist besonders vom Lehrermangel insbesondere in der Primarstufe gebeutelt. Die schlechte Kombination hohe Belastung/niedrigere Bezüge wirkt sich offenbar aus. Nur noch 18 Prozent der dafür in Berlin neu eingestellten Lehrkräfte haben das Grundschullehramt studiert – die Mehrzahl sind Seiteneinsteiger.
Weil aber immer mehr Bundesländer gleichfalls vom Lehrermangel betroffen sind, ist davon auszugehen: Berlin wird kein Einzelfall bleiben. Agentur für Bildungsjournalismus
