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Warnschuss für die Politik: Rechnungshof mahnt offiziell an, Tempo der Inklusion an (Grund-)Schulen zu drosseln

KIEL. Zu wenig Lehrer und Sonderpädagogen, ungeeignete Schulräume, Mängel bei der Barrierefreiheit: Der Landesrechnungshof Schleswig-Holstein hat die Inklusion an Grundschulen des Landes unter die Lupe genommen – und massive Defizite festgestellt. Der Bericht, dessen Ergebnisse auf andere Länder übertragbar sein dürften, ist der erste seiner Art in Deutschland. Die GEW fühlt sich an ihrer Kritik an der praktischen Umsetzung der Inklusion bestätigt. 

Der Landesrechnungshof stellt massive Defizite bei der Umsetzung der Inklusion in den Grundschulen fest. Foto: Shutterstock

Das hohe Tempo bei der Einführung von Inklusionsunterricht an Schleswig-Holsteins Schulen muss nach Ansicht des Landesrechnungshofs gedrosselt werden. Statt die Inklusionsquote weiter zu erhöhen, sollten erst bestehende gravierende Mängel bei den Rahmenbedingungen behoben werden, sagte die Präsidentin des Landesrechnungshofes (LRH), Gaby Schäfer, am Freitag in Kiel. Die Quote von etwa 70 Prozent sage noch nichts über die Qualität der Inklusion aus. Schäfer stellte den LRH-Bericht «Inklusion an Schulen» vor, den bundesweit ersten eines Landesrechnungshofs zu diesem Thema. Im Mittelpunkt des Berichts stehen die Grundschulen.

Mit Blick auf die Finanzschwäche Schleswig-Holsteins konstatierte Schäfer: «Die notwendigen personellen und sächlichen Ressourcen sind im System Schule auch auf mittlere Sicht nicht vorhanden.» Allein bei den Grundschulen fehlten viele Lehrer und etwa 1500 Sonderpädagogen.

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Da Sonderpädagogen im Norden nur in Flensburg ausgebildet werden, reichen dem Bericht zufolge deren Absolventen – etwa 100 im Jahr – nicht einmal aus, um die in Pension gehenden Sonderpädagogen zu ersetzen. Die Lücke werde sich auch nicht durch Lehrkräfte aus anderen Bundesländern schließen lassen. Dabei will die Landesregierung bis 2024 jährlich 70 neue Sonderpädagogen-Stellen schaffen, also 490 insgesamt.

Das Bildungs- und Wissenschaftsministerium betonte, die Europa-Universität in Flensburg habe im Bachelorstudiengang Sonderpädagogik die Zahl der Studienplätze von 120 auf 160 angehoben und im Masterstudiengang auf 82 Plätze. Und die Uni Flensburg erhalte 2018 eine zusätzliche Professur im Bereich Sonderpädagogik.

Zu den Reformvorschlägen des LRH gehört, dass künftig nicht nur in der ersten und zweiten Klasse, sondern auch in der dritten und vierten Klasse sogenannte Präventionsstunden (Tandemstunden mit Lehrer und Förderschullehrkraft) eingeführt werden. Die bisher zwei Präventionsstunden pro Woche in den beiden ersten Klassen reichten auch nicht aus. Notwendig wären auch ein verbindliches Zeitbudget für die notwendige Kooperation von Sonderpädagogen und Grundschullehrern.

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«Wir brauchen Zeit, um uns abzustimmen und auf die Kinder zuzugehen – für die direkte Förderung ist keine Zeit», fasste eine Mitarbeiterin der Studie den Tenor der hoch engagierten Lehrkräfte an den befragten Grundschulen zusammen.

Viele Schulen sind der Studie zufolge baulich für den gemeinsamen Unterricht von behinderten und nicht behinderten Schülern nicht hinreichend geeignet. Es fehle etwa an Barrierefreiheit (Fahrstühlen) oder Kleingruppenräumen. Die für den Schulbau zuständigen Kommunen könnten den finanziellen Aufwand dafür nicht allein schultern. Die Regierung müsse zur Unterstützung ein umfangreiches Schulbauprogramm in Millionenhöhe auflegen. Und es sollten Musterraumprogramme konzipiert und eine fachliche Beratungsstelle des Landes gegründet werden.

Außerdem schlägt der LRH einen Modellversuch für die Grundschulen vor. Dabei sollen beim jeweiligen Schulamt die verschiedenen Kräfte – Lehrer, Sonderpädagogen, Schulbegleiter, schulische Assistenzen und Erzieher – koordiniert und bedarfsgerecht eingesetzt werden.

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Bildungsministerin Karin Prien (CDU), seit Juni im Amt, würdigte den LRH-Bericht als «kritische Analyse zum Stand der nicht bis zum Ende durchdachten, aber schnell eingeführten Inklusion». Inklusion dürfe nicht alleiniges schulpolitisches Ziel sein: «Mehr Unterricht an den Grundschulen, die Unterrichtsversorgung an allen Schulen und vieles mehr stehen auf unserer Agenda mindestens gleichwertig ganz oben.»

Zudem verwies Prien darauf, dass neben den 490 zusätzlichen Stellen für Sonderpädagogen die schulischen Assistenzsysteme neu geordnet werden und eine bessere Bedarfsorientierung in der Lehrkräfteversorgung angestrebt werde. Zur Umsetzung der Inklusion gebe es Gespräche mit den kommunalen Spitzenverbänden. Der Vorschlag einer zentralen Beratungsstelle ziele in die richtige Richtung. Die SPD – die bis Juni das Bildungsministerium innehatte – lobte den Bericht als gute Grundlage für eine Versachlichung der Inklusionsdebatte. Der LRH mahne zu Recht eine Antwort auf die Frage an, wo die Ziele dieser Landesregierung liegen, sagte der bildungspolitische Sprecher der SPD, Martin Habersaat. dpa

 

Das meint die GEW

In einer Pressemitteilung der GEW heißt es: “Seit vielen Jahren setzt sich die Bildungsgewerkschaft GEW für eine bessere personelle Ausstattung der Inklusion an den Schulen in Schleswig-Holstein ein. Jetzt erhält sie Unterstützung von eher unerwarteter Seite. Der Landesrechnungshof hat nämlich in seinem heute in Kiel vorgestellten Bericht festgestellt, dass 1568 Lehrerstellen fehlen, um an den Schulen die sonderpädagogische Förderung sicherzustellen.

‘Landesrechnungshof und GEW liegen bei Berechnungen ja nicht oft auf einer Linie. Deshalb erfüllt es uns natürlich mit einer gewissen Genugtuung, dass der Landesrechnungshof unsere jahrelange Forderung nach zusätzlichen Stellen für Sonderpädagoginnen und Sonderpädagogen mit seinem Bericht untermauert’, äußerte sich die GEW-Landesvorsitzende Astrid Henke zum Rechnungshofbericht.

Die bisherigen Pläne der schwarz-grün-gelben Regierungskoalition reichen aus ihrer Sicht nicht aus, um die sonderpädagogische Förderung in Regelschulen und Förderzentren zu stärken. ‘Die Jamaika-Koalitionäre wollen innerhalb von sieben Jahren nur rund ein Drittel der benötigten Sonderschullehrerinnen und –lehrer einstellen. Das ist einfach zu wenig. Mit dieser schlappen Zielmarke dürfen wir uns nicht zufrieden geben. Schließlich geht es um Kinder und Jugendliche, die Anspruch auf sonderpädagogische Förderung haben’, so Astrid Henke wörtlich.

Mit der Schaffung von Stellen allein sei es aber nicht getan, denn Sonderpädagoginnen und Sonderpädagogen fehlten an allen Ecken und Kanten, sagte die GEW-Landesvorsitzende. Um dem Mangel abzuhelfen, plädierte sie für:

  • die Bereitstellung von höheren Ausbildungskapazitäten,
  • die Etablierung eines qualifizierenden weiterbildenden Studiums während der Arbeitszeit für Lehrkräfte anderer Schularten,
  • die Schaffung besserer Arbeitsbedingungen, zum Beispiel durch die Einführung von Kooperationsstunden für Grundschulen und Gemeinschaftsschulen.

„Wir müssen die Arbeitsbedingungen in Schleswig-Holstein für Sonderpädagoginnen und –pädagogen so attraktiv gestalten, dass alle Lust haben, in Schleswig-Holstein zu bleiben oder nach Schleswig-Holstein zu kommen.“

Zustimmung findet bei der GEW-Landesvorsitzenden der Vorschlag des Landesrechnungshofs, die Prävention in den Grundschulen unabhängig vom festgestellten Förderbedarf zu stärken. Das sei ein guter Ansatz, dürfe aber nicht zu Lasten der Kinder in den Förderzentren oder in den Gemeinschaftsschulen gehen. Interessant sei auch die Anregung des Rechnungshofs, Modelle für Schulbegleitung und Schulassistenz zu entwickeln.” 

 

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