DÜSSELDORF. Insbesondere in den Grundschulen herrscht ein akuter Lehrermangel – und der wird sich noch verschärfen. Die Antwort der Kultusministerien auf die Situation ist bislang recht phantasielos. Vor allem werden Seiteneinsteiger rekrutiert. In Sachsen beispielsweise haben fast zwei Drittel der zum Schulhalbjahr neu eingestellten Lehrer keine grundständige Ausbildung. Dabei liegt eine große Personalressource brach, wie unser Gastautor Oliver Keßels feststellt: die Lehramtsstudierenden. Ein verstärkter und vor allem längerer Einsatz könnte beiden Seiten helfen, den Schulen, die Unterstützung bekommen, und den Studentinnen und Studenten selbst, die dabei viel lernen können, meint Keßels – der selbst ein junger Lehrer an einer Grundschule ist.
Vor kurzem veröffentlichte die Bertelsmann-Stiftung eine Studie und prognostizierte, dass bis 2025 allein an Grundschulen 35.000 Lehrkräfte fehlen werden. Die aktuelle Situation an Deutschlands Schulen lässt erahnen, was auf alle Beteiligten des Bildungssystems zukommt. Problematisch wird die Situation vor allem deswegen, weil die Lehrerausbildung in der Regel sechseinhalb Jahre dauert. Selbst wenn es der Politik gelingen würde, genügend Studierende ab sofort für das Lehramt zu begeistern, wären diese erst Anfang 2025 vollständig ausgebildet. Momentan wird versucht, mit pensionierten Lehrkräften und Quereinsteigern dem Mangel entgegenzuwirken. Kurzfristig gewiss eine sinnvolle Maßnahme, die aber langfristig das Problem nicht in den Griff bekommen kann. Gleichzeitig wird die Anzahl an Schulkindern pro Klasse immer größer und Lehrkräfte an die Grenzen ihrer Ressourcen getrieben. In Zeiten der Inklusion und anderer Herausforderungen des Lehreralltags, die täglich wachsen, muss sich nicht nur das Bildungssystem ändern, sondern auch die Lehrerausbildung überdacht werden.
Wenn erfahrene Lehrerinnen oder Lehrer über ihr eigenes Studium laut nachdenken, hört man oft die Diskrepanz zwischen Theorie und Praxis heraus. Die Universitäten haben die Aufgabe, Studierenden die Theorie für das Berufsleben in den Schulen zu vermitteln. Dazu gehört auf der einen Seite Fachwissen für das jeweils später zu unterrichtende Fach. Darüberhinaus benötigt es auf der anderen Seite pädagogische und didaktische Grundlagen, damit dieses Fachwissen auch an die Schulkinder weitergegeben werden kann. Dieses Know-how ist sicherlich das Fundament auf dem die Arbeit einer Lehrkraft aufgebaut wird. Die große Herausforderung liegt aber darin, Theorie und Praxis miteinander sinnvoll zu verknüpfen, um nachhaltige Erkenntnisse bereits im Studium gewinnen zu können.
Verpasste Chancen
Diese frühen Chancen werden von den Universitäten jedoch häufig verpasst. Ein wenig überspitzt formuliert, bildet in der Regel das Bestehen von Prüfungsleistungen das Maximalziel für Studierende – im besten Fall mit guten Noten. Diese Noten werden über Klausuren oder andere Prüfungsleistungen erreicht. Nun stellt sich die Frage, was diese Noten über eine angehende Lehrerin oder einen angehenden Lehrer eigentlich aussagen. Besteht man eine Klausur, ist man in der Lage, Wissen auswendig auf den Punkt zu bringen. Bei einer Hausarbeit muss sich mit einer Fragestellung auseinandergesetzt werden, zu der man selbstständig recherchiert und wohl überlegte Formulierungen schreibt. Klausuren haben allerdings oft keinen anhaltenden Effekt, weil nicht der Erkenntnisgewinn, sondern lediglich das Erreichen einer Mindestpunktzahl das Ziel darstellt. Hausarbeiten hingegen regen zum kreativen und intensiven Nachdenken zu einer bestimmten Theorie an, scheitern aber dann an einem konkreten Praxisbezug.
Ein Beispiel soll diese Problematik verdeutlichen. Einen Teil des Mathematikstudiums im Lehramt bildet das „Entdeckende Lernen“. Kurz zusammengefasst sollen Studierende in der Theorie erfahren, wie man mathematische Inhalte für alle Sinne greifbar gestalten kann, um Kindern vielfältige Zugänge zu ermöglichen. Dabei werden Lernprozesse von Heranwachsenden genauer betrachtet und in einen mathematischen Kontext gebracht. Anschließend soll dieses Wissen anhand von Fallbeispielen angewendet werden. Das Fachwissen hat sicherlich eine gerechtfertigte Bedeutung und auch der theoretische Umgang damit ist wichtig. Leider wird aber wieder auf eine praktische Anwendung verzichtet. Warum sollen Studierende nicht die Möglichkeit haben, eigene Ideen zu entwickeln und unter realen Bedingungen auszuprobieren?
In verschiedenen Praxiselementen des Studiums gibt es Möglichkeiten, die Institution Schule besser kennenzulernen. Leider sind diese aber auf wenige kurzweilige Praktika reduziert. In dieser Zeit sollen sich Studierende sinnvollerweise jedoch überwiegend mit ihrer eigenen Person auseinandersetzen und eine eigene Postion im Lehreralltag finden. Theorie und Praxis werden dann in Form von Berichten oder ähnlichen Arbeiten kurz zusammengebracht.
Seit wenigen Jahren gibt es an vielen Universitäten darüberhinaus das Praxissemester. Dabei haben Studierende die Aufgabe, sich mit fachbezogenen Forschungsthemen praktisch und theoretisch zu beschäftigen. Dafür müssen sie zunächst über mehrere Monate hinweg verschiedene Aufgaben im Schulalltag übernehmen und dürfen einzelne Unterrichtssequenzen durchführen. Gleichzeitig entwickeln sie Gedanken zu einem konkreten Thema, welche sie dann in einer realistischen Kulisse in der Praxis überprüfen können. Ihre Erkenntnisse werden dann zusammengefasst, mit Fachwissen angereichert und anschließend vorgestellt. All das klingt sinnvoll und das ist es bestimmt auch. Leider findet das Praxissemester erst kurz vor dem Ende des Studiums statt, weshalb bereits im Vorfeld viele Chancen verpasst werden.
Probieren geht über Studieren
Warum wird das Potenzial von motivierten angehenden Lehrkräften nicht genutzt? Überarbeitet man die Lehrausbildung in ihrem Kern, könnte die Theorie auf ein Nötigstes reduziert werden, um überflüssige Inhalte verschwinden zu lassen. Das hätte den Vorteil, dass Studierende mehr Zeit für Praxiselemente hätten und auf langweilige Klausuren verzichten könnten. Im Folgenden soll ein Modell vorgestellt werden, das die Lehrerausbildung revolutionieren und attraktiver gestalten kann.
Ein Bachelorstudium dauert sechst Semester. In den ersten beiden Semestern sollen pädagogische und didaktische Grundlagen geschaffen werden. Zentral geht es dabei um die Fragen: Was ist Lernen? Was ist guter Unterricht? Welche Aufgaben haben Lehrkräfte? Gleichzeitig soll auch nötiges fachspezifisches Wissen vermittelt und an didaktische Fragestellungen angeknüpft werden. Ab dem zweiten Semester spielt dann auch das wissenschaftliche Arbeiten eine wichtige Rolle. Studierende sollen dabei lernen, sich selbstständig Wissen anzueignen und unter wissenschaftlichen Anforderungen darzustellen. Auf Klausuren zur Leistungsüberprüfung soll während des gesamten Studiums verzichtet werden. Stattdessen sollen Studierende die Möglichkeit haben, eigene Gedanken zu formulieren und diese schriftlich oder mündlich vorzutragen. Das soll stures Auswendiglernen vermeiden und zu einer kreativen Auseinandersetzung mit Inhalten führen. Ab dem dritten Semester sollen die Studierenden dann in Schulen eingesetzt werden. Das dritte Semester soll lediglich zum Hospitieren und zum Austausch mit erfahrenen Lehrkräften genutzt werden. Problematisch könnte es werden, weil nicht alle Städte über Universitäten verfügen und Studierende deswegen nicht gleichmäßig verteilt werden könnten. Zu viele Praktikantinnen oder Praktikanten an einer Schule könnten dann Unruhe mit sich bringen und die Lernatmosphäre beeinträchtigen. Eine Lösung könnte sein, dass die Studierende die Praxiselemente in ihren Heimatorten absolvieren und ihnen das Pendeln zum Studienort zeitlich ermöglicht wird. Die Universitäten haben nun die Aufgabe, weiteres Fachwissen zu vermitteln und pädagogische Grundlagen an die Praxiserfahrungen zu knüpfen. Folgende Fragen sollten von den Studierende dabei berücksichtig werden: Was habe ich beobachtet? Wie ist die zuständige Lehrkraft damit umgegangen? Wie würde ich damit umgehen? Was sagt die Fachwelt?
Ab dem vierten Semester sollen Studierende dann die Möglichkeit haben, Unterrichtssequenzen unter Anleitung einer erfahrenen Lehrkraft zu übernehmen und sich fachlich mit den jeweiligen Themen zu beschäftigen. Im fünften und sechsen Semester sollen die Studierenden erfahren, wie man Schülerinnen und Schüler dort abholen kann, wo sie gerade stehen. Konkret geht es um Fördermaßnahmen und der Auseinandersetzung mit dem Kind als solches. Welche Voraussetzungen hat das Kind? Welche Faktoren bestimmen den Lernerfolg? Welche Fördermaßnahmen können ergriffen werden? Welche außerschulischen Förderinstitutionen gibt es?
Einzelne Schüler fördern
Studierende könnten in dieser Phase eine große Unterstützung sein, weil sie explizit einzelne Schülerinnen oder Schüler fördern und damit zur Verbesserung der Lernatmosphäre beitragen. Mit der schriftlichen Bachelorarbeit sollen sich Studierende zum Abschluss des Bachelors intensiv mit einem Thema theoretisch auseinandersetzen, aber auch die absolvierten Praxiselemente reflektieren können.
Der anschließende und obligatorische Master-Studiengang soll im ersten Semester vor allem Raum für weiteres fachspezifisches Wissen ermöglichen. Ab dem zweiten Semester steht dann die Vorbereitung des Referendariats im Fokus. Studierende sollen sich überwiegend mit der Unterrichtsvorbereitung -durchführung und -nachbereitung auseinandersetzen und immer mehr Aufgaben im Schulalltag übernehmen können. Das bereits gewonnene Fachwissen soll dabei gefestigt und nur noch gering erweitert werden. Die Masterarbeit am Ende des Studiums soll dann die gleiche Funktion wie die Bachelorarbeit erfüllen. Das Anschließende Referendariat kann anschließend mindestens um ein halbes Jahr verkürzt werden.
Dieses Modell verkürzt die Ausbildungsdauer zwar nur gering, aber Lehrkräfte können durch das Mitwirken durch Studierende entlastet werden. Dennoch besteht auch die Gefahr, dass Studierende bereits früh überfordert werden, weil sie zu viele Aufgaben übernehmen sollen, denen sie in einer frühen Phase ihrer Ausbildung nicht gewachsen sind. Außerdem könnten erfahrene Lehrkräfte die Betreuung von Studierenden als zusätzliche Belastung empfinden. Es braucht also klare Regeln für alle Beteiligten und eine detailliertere Formulierung für dieses Modell. Studierende, die sich selbst finanzieren, müssen auch die Möglichkeit haben, Geld zu verdienen. Es gibt also noch einige Herausforderungen, die zu bedenken sind. Vor allem inhaltlich fehlt es dem Model an Reife, die noch entwickelt werden muss. Dennoch sollte das Credo jetzt schon lauten: Mehr Praxis und weniger überflüssige Theorie. Oliver Keßels
Oliver Keßels hat auf News4teachers auch schon einen Beitrag über seine Erfahrungen im Umgang mit Flüchtlingskindern berichtet.