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Die rechtsstaatliche Demokratie ist eine hoch komplexe Staatsform, deren Regeln erlernt werden müssen – aber wie?

BERLIN. Darf ich immer sagen, was ich denke? Oder hat Meinungsfreiheit Grenzen? Bedeutet Demokratie, die Mehrheit hat immer Recht? Oder gibt es unveränderliche Prinzipien, die auch eine Abstimmung nicht außer Kraft setzen kann? Was bedeutet “Repräsentation”? Und was “Gewaltenteilung”? Ist ein Kompromiss ein Zeichen von Schwäche? Eine rechtsstaatliche Demokratie wie unsere ist eine hoch komplexe Staatsform, deren Regeln von jungen Menschen erlernt werden müssen. Doch die Schule, so beklagt der renommierte Psychologe und Bildungswissenschaftler Georg Lind, hat nach PISA ihren Fokus auf die leicht messbaren Kategorien verlegt – zulasten der Demokratie-Erziehung. Was ist zu tun? In einer vierteiligen Reihe auf News4teachers entwirft Lind eine neue Methodik.

Demokratische Prinzipien in der Schule zu vermitteln, braucht Zeit. Foto: Shutterstock

Demokratie-Erziehung  – Teil 1: Demokratie als moralisches Ideal

Demokratie kommt mo­men­tan weltweit in Bedräng­nis, auch bei uns. Nach wie vor wollen die meisten Menschen Demokratie als moralisches Ideal (Sen 1999; McFaul 2004). Aber viele sind unzufrieden mit den real existierenden Demokratien. Es scheint, dass Bürger und Politi­ker von dieser Form des Zusammenlebens zunehmend überfordert sind. Um diesen Trend aufzuhalten oder gar um­zukehren, werden viele Vorschläge gemacht, die von strengeren Ge­set­zen gegen anti-demo­kra­tische Bewe­gungen bis hin zu der Forderung von mehr Geld und Personal für die poli­tische Bildung und Demo­kratieerziehung reichen.

In den letzten Jahren wurde gerade auf diesem Gebiet auch einiges unternommen, meis­tens aber wenig erfolgreich. Übersehen wird oft, dass es neue Ansätze der Moral­erziehung bedarf. Viele der praktizier­ten, wohl­gemein­ten Methoden haben sich als unzu­reichend und ineffektiv herausgestellt. Manche haben sich nur punktuell, in so genannten Leuchtturm­projekten bewährt, wo bestimmte personelle und finanzielle Voraus­setzungen erfüllt waren. Sie können daher nicht einfach kopiert werden. Bevor wir mehr Geld und Personal fordern, sollten wir über­legen, was wir mit Demokratie­erzie­hung eigentlich er­reichen wollen und wie man das am besten macht. Ich stelle hier eine Me­tho­de der Demokratie-Erziehung vor, die effektiv ist, ohne dass dafür System­ände­rungen oder Einschrän­kungen des Stunden- und Stellenplans notwendig sind, und die kaum Zeit kostet, die also die Möglichkeit eröffnet, alle Menschen zu erreichen. Obwohl es sie schon eine Weile gibt, wird sie kaum wahrgenommen und genutzt, vielleicht weil man verkennt, dass Demokratie in den Köpfen und Herzen der Men­schen anfängt (Nowak 2013), und nicht in den Institutionen der Gesellschaft.  In einer Demokratie muss die Änderung der Verhält­nisse von den Menschen ausgehen und nicht von Politikern und Experten. Diese sind aber notwendig, um die Menschen zu befähigen, die Verhältnisse durch Denken und Diskussion, also friedlich zu ändern.

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Demokratie-Kompetenz: Eine moralische Aufgabe der Schule

Unter den Idealen, die Erziehung anleiten, ist das moralische Ideal eines demokratischen Zusam­­menlebens das zentralste, aber auch das am schwersten zu erreichende. Lehrer, Eltern und Schüler fragen sich, wie der Gegensatz zwischen dem demokratischen Freiheitsver­sprechen und dem auto­kratischen Selbstverständnis traditioneller Erziehung aufgelöst werden kann. Wie kann man Her­anwachsende zu mündigen Demokraten erziehen, wenn die Metho­den der Erziehung sie in Un­mündigkeit halten? Wie kann man sie ermutigen, selbst zu denken und bestehende Normen und Erwartungen zu hinterfragen, ohne dass sie dadurch zu anarchis­tischen Rebellen oder liber­tären Individualisten werden, die in demokratischen Grundwerten wie Gerechtigkeit und Soli­da­rität eine Behinderung ihrer Selbstentfaltung oder ihres wirt­schaft­lichen Erfolgs sehen?

Für Sokrates war die Hauptaufgabe der Erziehung, das Bestehende zu hinterfragen, auch die Erziehung selbst: Ist Tugend lehrbar? Was ist Tugend über­haupt? Alle Menschen wollen das Gute; ihnen fehlt es aber meist am Können. Sollte Erzie­hung daher nicht eher das Können fördern, statt auf die Vermittlung von Werten, die bereits im Menschen angelegt sind?

Sokrates war der Auffassung, dass Erziehung keine Antworten geben, sondern nur Fragen stel­­len kann. Die damalige Regierung von Athen hielt diese Art der Erziehung für An­stif­tung zu Rebellion und Anarchie und für eine Gefahr für die Gesellschaft, und verurteilte Sokra­­tes daher zu Tode. Dabei stellte er keineswegs alles in Frage. Als Freunde ihm anboten, ihm zur Flucht zu ver­helfen, weigerte sich Sokrates zu fliehen. Seine Begründung vermittelt eine mäch­­tige mora­lische Botschaft: mit seiner Flucht, so Sokrates, würde er Recht und Ordnung in Frage stellen, für die er sich immer engagiert habe.

Möglicherweise erkannte er selbst die Gefahr seiner Fragen, wenn sie auf Bürger treffen, die noch keine Fähigkeit zum eigenen Denken entwickelt haben. Bei ihnen können kritische Fragen, wie Hannah Arendt (2007) zu Sokrates anmerkte, zur Ablehnung der bestehenden Normen führen, ohne dass sie eigene, innere Normen, also echte Moral an deren Stelle setzen können.

Dies aber stellt hohe Anforderungen an die moralisch-demokratische Kompetenz, das heißt die Fähigkeit jedes Einzelnen, Probleme und Konflikte, die bei einer Orientierung des eigenen Verhaltens an Moralprinzipien unvermeidlich auftreten, allein durch Denken und Diskussion zu lösen, statt durch Gewalt, Betrug oder Unterwerfung unter Andere, denen man die Last der Ver­ant­wortung (und damit auch Macht) überträgt.

Wie der indisch-amerikanische Philosoph Amartya Sen (1999) feststellt, sind es so ein­fach er­scheinende Dinge, wie das Reden und Zuhören, die ein demokratisches, selbstregiertes Zusam­men­leben erst ermöglichen. In einer Demokratie, so Sen, muss jeder Bürger fähig sein, mit Ande­ren zu reden und ihnen zuzuhören, wenn es um wichtige Dinge geht. Die Bürger müssen, so auch Darling-Hammond und Ancess (1996), “fähig sein, rivalisierende Vorstellun­gen vernünftig zu dis­kutieren und sich zwischen ihnen zu entscheiden, individuelle und sozi­ale Güter abzuwägen, wenn sie das demokratische Ideal angesichts der komplexen Heraus­for­derungen aufrechterhalten wollen, mit denen alle Gesellschaften konfrontiert sind.” (S. 154, meine Übers.) Diese Fähigkeit fehlt vielen Menschen, wie schon Sokrates feststellte, und wie unsere Studien zeigen, weil sie offen­­­bar zu wenige Gelegenheiten haben, sie zu entwickeln. (Lind 2002; 2015)

Für diese Gelegenheiten zur Entwicklung von Demokratiekompetenz muss heute vor allem die Schule sorgen, sowohl durch Allgemeinbildung als auch durch Demokratie­erzie­hung.

Der Autor
Georg Lind. Foto: Glenda Lind

Dr. Georg Lind, emeritierter apl. Professor der Psychologie, forscht und lehrt seit vier Jahrzehnten zur Frage, was Menschen dazu befähigt, Probleme und Konflikte durch Denken und Diskussion zu lösen, und wie man diese Fähigkeit messen und effektiv fördern kann. Er hat den Moral Competence Test (MCT) zur Messung dieser Fähigkeit und auch die Konstanzer Methode der Dilemma-Diskussion (KMDD), sowie ein Konzept zur Vermittlung dieser Methoden an Lehrkräfte entwickelt. Seine Methoden werden bereits weltweit eingesetzt, aber noch zu wenig, um die Demokratie nachhaltig zu sichern. Infos zu Literatur, Symposien und Fortbildung finden sich auf seiner Webseite: www.uni-konstanz.de/ag-moral/

Kontakt: georg.lind@uni-konstanz.de

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