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„Dilettantismus und Schaufensterpolitik“: Grundschulverband wehrt sich mit einer Streitschrift gegen eine rückwärtsgewandte Bildungsrevolution

FRANKFURT/MAIN. Es reicht! Der Vorstand des Grundschulverbandes, darunter die Professoren Erika Brinkmann, Hans Brügelmann und Jörg Ramseger, wehrt sich gegen „populäre Vorurteile“ gegen die Grundschulen – und eine darauf bauende reaktionäre Bildungspolitik. Von „fragwürdigem Dilettantismus und Schaufensterpolitik“ ist die Rede – und davon, dass die Situation der Lehrerinnen und Lehrer immer schwieriger werde, Unterstützung aber ausbliebe. Statt verantwortungsvolle Handlungsstrategien zu entwickeln, würden ohne empirische Grundlage mal eben Methoden verboten. Die Wissenschaftler und Grundschulpraktiker halten gängigen Ressentiments gegen die Grundschule und ihre pädagogische Arbeit einen „Faktencheck“ entgegen, den News4teachers aufgrund der Bedeutung der Debatte in den nächsten Tagen ausführlich dokumentiert – und zur Diskussion einlädt. Hier ist Teil eins: die Ausgangslage.

Seit fünf Jahren steigt die Belastung für die Grundschullehrer enorm an – aber für schlechtere Schülerleistungen sollen deren Lehrmethoden schuld sein? Foto: Shutterstock

„Immer wieder aufkeimende Forderungen nach »mehr Frontalunterricht«, »mehr Vergleichstests«, nach »Schönschreiben« oder »mehr Noten« sind deutliche Anzeichen für das Aufkommen einer »konservativen Revolution« (Alexander Dobrindt) auch in Bildungspolitik und Pädagogik“, so meinen die Autoren der Schrift.

„Solche Forderungen offenbaren jedoch, dass die Kritiker tatsächlich keine Kenntnis vom Alltag in den Klassenzimmern haben – und ihnen überdies wissenschaftliche Expertise gleichgültig ist. Populistisches Geplänkel wird auf dem Rücken der Kinder ausgetragen, aber auch zulasten der Kolleginnen und Kollegen in den Schulen. Denn Vorurteile, Mythen und Fehlschlüsse verleiten zuweilen die bildungspolitisch Verantwortlichen dazu, möglichst schnell »Entschlossenheit im Handeln« zu demonstrieren, »Maßnahmenpakete« zu schnüren, und »Masterpläne« zu entwerfen. Das zeigt dann eher fragwürdigen Dilettantismus und Schaufensterpolitik als verantwortungsvolle und unterstützende Handlungsstrategien.“ Lehrerinnen und Lehrer fühlten sich von Bildungspolitik und -verwaltung im Stich gelassen.

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Gemeint sind hier vor allem Baden-Württembergs Kultusministerin Susanne Eisenmann (CDU), die „Schreiben wie Hören“ untersagt hat, sowie Schleswig-Holsteins neue Bildungsministerin Karin Prien (ebenfalls CDU), die einen „Masterplan Grundschule“ angekündigt hat, obwohl aktuelle Vergleichsstudien Schleswig-Holsteins Viertklässlern Leistungszuwächse in den vergangenen Jahren attestieren. (News4teachers berichtete über die Zusammenhänge – hier.)

So beklagen die Vertreter des Grundschulverbands, dass sich Bildungspolitik mitunter stärker an „fake news“ als an Fakten orientiere. „Themen wie die Handschrift, die Rechtschreibung oder der »Absturz« in den Rankings der Testinstitute bedienen bestens kulturpessimistische Befürchtungen um die Bildung der nachfolgenden Generationen und ihre »Marktchancen«. Diese Befürchtungen verlangen keine Belege, sie halten sich auch gegen begründete empirische und pädagogische Einwände standhaft im kollektiven Bewusstsein“, heißt es.

“Pauschalurteile und Stammtischparolen”

Natürlich müsse sich die Grundschule, wie jede andere gesellschaftliche Einrichtung auch, hinterfragen lassen. Aus guten Gründen. „Es gibt gute und weniger gute Schulen, kompetente und engagierte Lehrerinnen und Lehrer, aber auch solche, die ihre Aufgabe nicht ernst genug nehmen. Rechenschaft über die eigene Arbeit und ihre Grundlagen zu geben, sollte im öffentlichen Dienst selbstverständlich sein. Auch Schulen und Lehrpersonen müssen sich mit externer Kritik auseinandersetzen. Konstruktiv wird diese Kritik aber nur, wenn sie sachkundig begründet ist. Pauschalurteile und Stammtischparolen bewirken das Gegenteil und sind schädlich für gelingende pädagogische Prozesse und vertrauensvolle Kommunikation zwischen Eltern und Schule.“

Genau das finde leider derzeit statt. „Journalisten, Politiker, Verbandsfunktionäre und auch Eltern, Großeltern und anderweitig von schulischer Bildung »Betroffene« erklären sich zu Experten in Grundschulfragen, ohne sich in jedem Fall fachkundig gemacht zu haben. Diese Haltung offenbart sich selbst in Fachdiskussionen, bei denen sich Akteure anderer Fachgebiete zu Wort melden, ohne ihren eigenen Laienstatus in spezifischen Fragen zu markieren. Das treibt dann Sumpfblüten wie: Wer sich von seinen Schülerinnen und Schülern »duzen« lasse, dessen Kinder wiesen schlechtere Rechtschreibleistungen auf.“ Damit beziehen sich die Autoren auf Prof. Wolfgang Steinig. „Kinder, die ihre Lehrkraft siezen, formulieren anspruchsvoller“, behauptet der (grundschulferne) Germanist, der seine umstrittenen Thesen unlängst auf einem Forum des Kieler Bildungsministeriums vorstellen durfte. (Hier geht es zu einem Bericht über Steinigs Thesen.)

Dass so viele Menschen glauben, kompetent in Sachen Grundschulpädagogik mitreden zu können, liege auch im fehlenden Respekt gegenüber Grundschullehrerinnen und -lehrern begründet, meint nun der Grundschulverband. „Die damit ausgelöste negative Dynamik des öffentlichen Diskurses um Grundschularbeit bleibt auch deshalb stabil, weil die spezifische Expertise von Grundschullehrkräften – Fachleute zu sein für das Lernen von Kindern – zu wenig Anerkennung findet. Die mangelnde Anerkennung der Professionalität von Grundschullehrerinnen und -lehrern suggeriert im Paket mit der öffentlichen und oberflächlichen Verbreitung von Plattitüden und Falschmeldungen letztlich, dass sich jeder, der früher einmal Schülerin oder Schüler war, zu entsprechenden Themen äußern und eine eigene Einschätzung über pädagogische und fachliche Entwicklungen abgeben kann.“ Heraus komme oftmals eine Verklärung der Vergangenheit, die lediglich auf einer gefühlten Realität basiere.

„Zum Beispiel übersieht der Vorwurf, Grundschule mache Kinder zu »Versuchskaninchen« unbedachter und voreiliger »Experimente«, dass für die Überlegenheit der »alten« Methoden mitnichten empirische Belege vorliegen – welche auch nie gefordert wurden. Trotzdem spricht da niemand von »Experimenten«.“ Kritik an Methoden der Grundschule komme auch von Vertretern aus den weiterführenden Schulen, im Wesentlichen aus dem Gymnasium. Damit feuern die Grundschulvertreter eine Breitseite gegen den Deutschen Lehrerverband sowie den Philologenverband, deren Spitzen immer wieder Verbote offener Lehrmethoden in der Grundschule fordern. (Auch darüber berichtete News4teachers – zum Beispiel hier.) „Damit wird schlichtweg die eigene Verantwortung für die veränderten Herausforderungen durch veränderte Entwicklungsbedingungen weggeschoben. Rechtschreibung z. B. ist – genau wie Lesen und Schreiben – keine Angelegenheit der Grundschule allein: Nach dem 4. Schuljahr sind diese Kompetenzen nicht »abgeschlossen«, das Lernen daran muss weitergehen“, so schreiben die Autoren.

Auch Eltern bekommen ihr Fett weg. „Eine Gruppe, die sich regelmäßig kritisch fordernd zu Wort meldet, wenn es um die Bildung ihrer Kinder geht, verhält sich schulpolitisch und pädagogisch erstaunlich konservativ. Alles, was in der eigenen Schulzeit erlebt wurde, verklärt sich anscheinend in der Rückschau. Neuerungen sind erst einmal verdächtig und könnten, so die Befürchtung, den Weg ins Gymnasium behindern.“ Darf sich Grundschule angesichts solcher Empörungen nicht entwickeln, so fragen die Autoren – um sogleich selbst zu antworten: „Im Gegenteil, sie muss es dringend, weil Grundschulkinder individuelle Begleitung beim Lernen brauchen! Dies Eltern begreiflich zu machen verlangt eine intensivere Kommunikation über notwendige und sinnvolle Veränderungen.“

Der Grundschulverband ist laut Wikipedia der mit etwa 12.000 Personen mitgliederstärkste, politisch tätige Fachverband für Grundschullehrerinnen und Grundschullehrer in Deutschland. Gegründet wurde er 1969als Arbeitskreis Grundschule in Frankfurt am Main. Der Grundschulverband versteht sich laut Eigendarstellung als “gemeinnützige und überparteiliche bundesweite Basisinitiative”. Seine Mitglieder sind Grundschulen, Lehrerinnen und Lehrer, Studierende, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sowie weitere an der Grundschule interessierte Personen und Institutionen. bibo / Agentur für Bildungsjournalismus

Im nächsten Teil geht es um konkrete Vorurteile gegenüber der Grundschule – und die Argumentation des Grundschulverbandes dagegen.

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