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Inklusion: Haben geistig Behinderte einen Anspruch auf einen Platz am Gymnasium? Experte sagt: Nein!

BREMEN. Der Fall bringt eine überfällige Debatte in Gang: Eine Schulleiterin, die Direktorin eines Bremer Gymnasiums, verklagt die eigene Dienstherrin, die Schulsenatorin Claudia Bogedan. Grund für die Klage vor dem Verwaltungsgericht der Hansestadt: die Inklusion. Das Gymnasium soll sich für geistig beeinträchtigte Schüler öffnen, die wohl keine Chance haben, das Abitur zu erreichen. Dagegen wehrt sich die Schulleiterin. (News4teachers berichtete.) Hans Wocken, einer der renommiertesten Inklusions-Experten in Deutschland, nimmt sich im folgenden Gastbeitrag der Frage an, ob es einen rechtlichen Anspruch für behinderte Kinder auf den Besuch eines Gymnasiums gibt. Seine Antwort fällt eindeutig aus.

Gibt es Grenzen für die schulische Inklusion? Foto: Shutterstock

Inklusion und Gymnasium aus rechtlicher Sicht

Die Klage eines Bremer Gymnasiums gegen die behördliche Weisung, an der Schule eine inklusive Klasse mit 19 gymnasial empfohlenen Schülern und fünf Schülern mit einer geistigen oder körperlichen Behinderung einzurichten, hat ein sehr lebhaftes und kontroverses Echo in den Medien ausgelöst. Die Kommentare (z. B. Christian Füller und Michael Felten auf “Spiegel online”) und die Internet-Foren kreisten vorwiegend um das Thema, ob eine Inklusion von Schülern mit geistiger Behinderung in einem Gymnasium pädagogisch machbar, vorteilhaft und sinnvoll ist. Neben der Diskussion dieser hochspannenden pädagogischen Frage sind die juristischen Probleme nicht minder bedeutsam. An dieser Stelle sollen zwei juristische Teilfragen angesprochen werden: 1. Rechtmäßigkeit und 2. Legitimation.

Das erste Kriterium der Rechtmäßigkeit zielt auf folgende Frage: Darf eine Bildungsbehörde – mit Bezugnahme auf Gesetze, Verordnungen und Erlasse –  eine Schule dienstlich anweisen und verpflichten, eine inklusive Klasse an einem Gymnasium einzurichten? Es geht nicht also um die Frage, ob eine Inklusion von Schülern mit geistiger Behinderung Sinn macht, sondern darum, ob sie rechtens ist.

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Das Gymnasium beruft sich bei der Klage auf den Paragrafen 20 des Bremer Schulgesetzes. Der hier relevante Absatz 3 sei vollständig zitiert:

„Das Gymnasium führt in einem achtjährigen Bildungsgang zum Abitur. Sein Unterrichtsangebot ist auf das Abitur ausgerichtet. Der Unterricht im Gymnasium berücksichtigt die Lernfähigkeit der Schülerinnen und Schüler mit einem erhöhten Lerntempo auf einem Anforderungsniveau, ermöglicht aber auch den Erwerb der anderen Abschlüsse. Schülerinnen und Schüler in der Sekundarstufe I des Gymnasiums müssen mindestens zwei Fremdsprachen erlernen.“

Nach Auffassung der Schulleiterin ist das Unterrichtsangebot eines Gymnasiums klar auf das Abitur ausgerichtet. Der Erwerb des Abiturs kann von Kindern und Jugendlichen mit einer geistigen Behinderung nicht erwartet werden; sie sind weder den curricularen Anforderungen gewachsen noch können sie sich an den anspruchsvolleren Lernprozessen gewinnbringend beteiligen.

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Der Bremer Fall macht deutlich, dass es dringend an der Zeit ist, die schulische Inklusion breit in Deutschland zu diskutieren. Denn: Die zentralen Grundfragen des gemeinsamen Unterrichts von behinderten und nicht-behinderten Schülern sind bis heute ungeklärt. Inwieweit sind die Gymnasien verpflichtet, sich zu beteiligen? Wo sind die Grenzen der Inklusion? Was ist überhaupt das von der Politik anvisierte Ziel – eine Radikal-Inklusion oder eine Inklusion light? Und was davon ist mit der UN-Behindertenrechtskonvention vereinbar? Niemand weiß das so recht. Klar ist nur: So fährt die Inklusion vor die Wand.

News4teachers hat nun ein Dossier herausgegeben – Titel: „Das Inklusions-Chaos“ –, das die Probleme journalistisch beleuchtet und versucht, Antworten auf offene Fragen zu geben. Uns geht es darum, eine öffentliche Diskussion anzustoßen, die der Inklusion endlich den Rang gibt, der ihr gebührt: Es ist kein exotisches Nischenprojekt, um das es hier geht, sondern die größte Bildungsreform der vergangenen Jahrzehnte. Unser Ansatz ist kritisch, aber konstruktiv. Wir suchen nach Wegen, wie die Inklusion doch noch gelingen kann. Diskutieren Sie mit! Das Dossier ist auf netzwerk-lernen.de gratis herunterladbar – hier geht’s hin.

Eine genaue Lektüre der § 20 lässt eine derartige Auslegung des Schulgesetzes, ein Gymnasium sei nur und ausschließlich für abiturfähige Schüler zuständig, als verengt und einseitig erscheinen. Der Paragraf 20 fordert nämlich sowohl eine besondere Förderung der Hochbegabten als auch die Möglichkeit zum „Erwerb der anderen Abschlüsse“. Damit wird das Gymnasium als eine Schulform konzipiert, die unter einem Dach gleichsam mehrere Bildungsgänge anbietet.

Diese Lesart vertritt auch die Bremer Schulbehörde. Sie wird beispielsweise gestützt von dem Landesbeauftragten für Menschen mit Behinderungen Joachim Steinbrück. Es gehe nicht darum, ob Schüler mit Behinderungen den Anforderungen des gymnasialen Bildungsganges gewachsen seien. „Es geht darum, nach Lernzielen differenziert zu unterrichten“. Und ähnlich der bildungspolitische Sprecher der Grünen, Matthias Güldner: „Gymnasien sind im Grundsatz verpflichtet, alle Schulabschlüsse anzubieten“.

Das Bremer Schulgesetz – so meine Schlussfolgerung – erwartet mithin von einem inklusiven Gymnasium nicht, dass Jugendliche mit geistigen Behinderungen zwei Fremdsprachen erlernen und zum Abitur geführt werden. Die traditionsreiche, außerordentlich hartnäckige Alltagsvorstellung, dass Schule und Unterricht immer zielgleiches Lernen bedeuten, dürfte die missliche, ja falsche Interpretation des § 20, 3 nahegelegt haben. Die Einrichtung von inklusiven Klassen an Gymnasium ist dann rechtens, wenn der §20,3 im Sinne eines zieldifferenten Lernens zu verstehen ist. Die dienstliche Anweisung zur Einrichtung einer Inklusionsklasse an einem Gymnasium in Bremen ist durch das Bremer Schulgesetz, das von der Bremer Bürgerschaft in einem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren verabschiedet worden ist, rechtens und legal – so das Prüfergebnis der Rechtmäßigkeit.

Zweitens soll gefragt werden, ob die einschlägigen Passagen des Bremer Schulgesetzes auch durch die Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen (BRK) begründet werden können. Die zugespitzte Frage soll lauten: Haben Schülerinnen und Schüler mit Behinderungen, insbesondere mit Lernbeeinträchtigungen und geistigen Behinderungen, ein Recht (!) auf den Besuch eines Gymnasiums? Man beachte wiederum, dass ich eine juristische Frage stelle und auch – unter bewusster Vernachlässigung pädagogischer Erwägungen – eine juristische Antwort geben werde.

Die Behindertenrechtskonvention (BRK) ist kraft ihrer Ratifizierung durch die Bundesrepublik Deutschland auch ein innerstaatlich geltendes Recht. Künftig müssen deutsche Gerichte in allen gerichtlichen Verfahren, die einen inhaltlichen Bezug zur Inklusionsthematik haben, bei den richterlichen Entscheidungen nicht allein die einschlägigen bundes- und länderspezifischen Rechtsordnungen berücksichtigen, sondern die Urteile auch im Lichte der BRK fällen und begründen.

Die BRK bestimmt in Art. 24, Abs. 2: Bei der Verwirklichung des Rechts auf inklusive Bildung stellen die Vertragsstaaten sicher, dass „Menschen mit Behinderungen nicht aufgrund von Behinderung vom allgemeinen Bildungssystem ausgeschlossen werden und dass Kinder mit Behinderungen nicht aufgrund von Behinderung vom unentgeltlichen und obligatorischen Grundschulunterricht oder vom Besuch weiterführender Schulen ausgeschlossen werden“.

Diese Bestimmung ist eindeutig; sie verbietet unmissverständlich eine Sonderschulpflicht, nicht die Sonderschule selbst. Positiv formuliert bedeutet das Verbot der Sonderschulpflicht ein Recht auf den Besuch einer allgemeinen Schule. Allgemeine Schulen sind die Grundschule, die Hauptschule, die Realschule, das Gymnasium und ähnliche Schulformen, die aber anders benannt werden und phantasievolle Namen tragen (Gemeinschaftsschule, Stadtteilschule, Oberschule u.ä.). Sonder- und Förderschulen sind allgemeinbildende Schulen, aber keine allgemeinen Schulen – eine hochbedeutsame Unterscheidung, die von den Inklusionskritikern und -gegnern gerne und immer wieder durcheinandergebracht wird.

Bedeutet das Recht auf den Besuch auf den Besuch einer allgemeinen Schule nun, dass alle Schülerinnen und Schüler, auch diejenigen mit Lernbeeinträchtigungen, die freie Wahl haben, welche allgemeine Schule sie besuchen wollen? Haben lern- und geistig behinderte Schüler auch ein Recht auf den Besuch eines Gymnasiums?

Diese „Gretchenfrage“ ist in der bildungspolitischen und juristischen Fachwelt strittig und wird nicht einmütig beantwortet. Meine eigene persönliche Antwort lautet: Nein! Es gibt kein allgemeines, für alle Schülerinnen und Schüler, ob mit oder ohne Behinderungen, geltendes Recht auf den Besuch eines Gymnasiums. In allen Bundesländern Deutschlands gilt die Regel, dass nur diejenigen Schülerinnen und Schüler das einklagbare Recht auf den Besuch eines Gymnasiums haben, die für diese Schulform auch die erforderliche Eignung und Begabung mitbringen.

Ich bin mir sehr wohl darüber im Klaren, dass meine Rechtsposition nicht allgemein geteilt und vielleicht mit einiger Verwunderung, Enttäuschung oder gar Entrüstung aufgenommen wird. Zur Begründung meiner derzeitigen juristischen Positionierung mag ein einfaches Gedankenexperiment dienen:

Haben Hauptschüler oder Realschüler einen Rechtsanspruch auf den Besuch eines Gymnasiums? Die Antwort lautet in beiden Fällen Nein!

Für die Wahl einer allgemeinen Schule der Sekundarstufe gilt das Gebot der Gleichberechtigung. Alle Schülerinnen und Schüler müssen die gleichen Anforderungen an ihre Eignung und Begabung mitbringen. Wollte man zwar den Schülern mit Behinderungen das Recht auf den Besuch eines Gymnasiums einräumen, den Hauptschülern und Realschülern aber versagen, wäre dies ein eklatanter Fall einer Ungleichbehandlung, also einer Diskriminierung von nichtbehinderten Schülern. Eine derartige Ungleichbehandlung von behinderten und nichtbehinderten Schüler würde auch wohl vom Rechtsempfinden vieler Menschen nicht getragen, sondern mit Kopfschütteln quittiert.

Ein gutes Beispiel für eine juristisch korrekte Formulierung des „Schulwahlrechts“ scheint mir das Bayerische Erziehungs- und Unterrichtsgesetz (BayEUG) zu sein. In Artikel BayEUG 30a, Abs. 5 heißt es: „Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf müssen an der allgemeinen Schule die Lernziele der besuchten Jahrgangsstufe nicht erreichen, soweit keine schulartspezifischen Voraussetzungen bestehen.“ Die sog. „schulartspezifischen Voraussetzungen“ gelten für alle Schülerinnen und Schüler ohne jeglichen Unterschied. Diese juristische Position, dass es in der Sekundarstufe eines gegliederten Schulwesens kein freies Schulwahlrecht gibt, sondern die Wahl einer Schulform für alle Schüler gleichermaßen an individuelle Lern- und Leistungsvoraussetzungen gebunden ist, ist allein relevant und gültig im Kontext eines gegliederten, dem meritokratischen Leistungsprinzip verpflichteten Schulsystems. In einem inklusiven Schulsystem erübrigt sich die Frage ebenso wie auch die juristische Position.

Der vollständige Text des Artikels ist auf der Seite von Hans Wocken www.hans-wocken.de abrufbar. Hier geht’s hin.

Der Autor
Hans Wocken. Foto: privat

Dr. Hans Wocken gilt als einer der renommiertesten deutschen Experten in Sachen Inklusion. Er hat Bücher zum Thema verfasst (“Das Haus der inklusiven Schule”) und gehört der deutschen UNESCO-Kommission “Inklusion” an. Wocken ist Sonderpädagoge und emeritierter Professor für Lernbehindertenpädagogik und Integrationspädagogik an der Universität Hamburg.

Er selbst schreibt über sich: “Zu den nachhaltigsten Erlebnissen in meiner Zeit als wissenschaftlicher Assistent gehört ein Besuch der Laborschule Bielefeld; sie war für mich ein Schlüsselerlebnis und hat an der Wiege meines pädagogischen Denkens und Handelns gestanden. Hier habe ich zum ersten Mal mit eigenen Augen gesehen, dass Schulen anders können. Seither bin ich viel auf Achse gewesen. Auf Bildungsreisen nach Schweden, Italien, Dänemark, in die Schweiz und aus Besuchen von Alternativschulen habe ich mehr gelernt als aus vielen schlauen Büchern. Und auf diesen Reisen habe ich in Italien und in Skandinavien zum ersten Mal mit eigenen Augen ‘Integration’ gesehen.”

News4teachers-Dossier – gratis herunterladbar: „Das Inklusions-Chaos”

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