Behauptung 1: Die Schülerleistungen werden immer schlechter
Ein allgemeiner Leistungsverfall sei empirisch nicht belegbar, erklärt der Grundschulverband, das Vorurteil in dieser Form schlicht falsch. Um überhaupt sinnvolle Vergleiche anstellen zu können, müsse genauer gefragt werden: Welche Fächer und/oder Kompetenzbereiche sind gemeint? Bezieht sich das Urteil auf das Ende der Grundschulzeit, auf mittlere Abschlüsse, auf das Abitur oder auf Leistungen in Beruf und Alltag? Welche Zeitpunkte werden jeweils zum Vergleich herangezogen: das Jahr 2000, 1950 oder noch früher? Untersuchungen mit standardisierten Tests in repräsentativen Stichproben gebe es erst seit rund 20 Jahren. Aber auch deren Befunde beschränkten sich auf wenige Fächer und in diesen nur auf leicht testbare Bereiche wie die Rechtschreibung, aber nicht auf die inhaltliche und sprachliche Qualität von Texten.
„Aber selbst in der Rechtschreibung sind die Ergebnisse widersprüchlich bzw. in hohem Maße interpretationsbedürftig“, schreiben die Autoren. „ So werden die Vergleiche mit mindestens einer Erhebung zwischen 1945 und 2000 schon forschungsmethodisch heutigen Ansprüchen an Stichprobenziehung, Wahl der Instrumente und Erhebungsbedingungen nur bedingt gerecht. Von 16 Untersuchungen fanden vier eine Verschlechterung der Leistungen, drei eine Verbesserung und neun entweder konstante oder schwankende Leistungen. Für die Unterschiede kann es – neben den forschungsmethodisch bedingten Einschränkungen – ganz unterschiedliche Gründe geben: verschiedene Zeiträume, Altersgruppen, Aufgaben (z. B. Diktat vs. themengebundener Aufsatz vs. freier Text).“ Für den aktuell besonders bedeutsamen Zeitraum zwischen 2000 und 2016 gebe es fünf forschungsmethodisch solidere Studien – „aber ebenfalls mit unterschiedlichen Ergebnissen: je zweimal verschlechterte bzw. verbesserte und einmal konstante Leistungen.“
„Im Lesen haben sich die Leistungen von Erwachsenen langfristig in Deutschland (…) verbessert, oder genauer: Jüngere Menschen lesen besser als diejenigen, die in den angeblich »guten alten Zeiten« zur Schule gegangen sind“, so heißt es. Für Mathematik seien dagegen wegen der veränderten Inhalte beziehungsweise Schwerpunkte („zum Beispiel stärkere Gewichtung von Kopfrechnen früher versus gewachsene Bedeutung von mathematischem Modellieren und Problemlösen im Alltag und in der Schule heute“) aussagekräftige Vergleiche kaum möglich.
Behauptung 2: Offener Unterricht ist nichts für die Schwachen
Wenn über freies Schreiben am Schulanfang, über entdeckendes Lernen in Mathematik oder offenen Sachunterricht diskutiert werde, seien Pauschalurteile („Offener Unterricht ist leistungsfeindlich“, „Freiarbeit benachteiligt schwache Schulkinder“, „Frontalunterricht ist lerneffektiver“) schnell bei der Hand, monieren die Wissenschaftler. Tatsächlich scheine der grundlegende Überblick des neuseeländischen Bildungsforschers John Hattie, der XXX Studien ausgewertet hatte, solchen Urteilen recht zu geben – auf den ersten Blick.
„So hat im Mittel der ausgewerteten Studien »Open Education« keine Vorteile gegenüber traditionellen Formen des Unterrichts, während systematisierte »direkte Instruktion« mit einer Effektstärke von 0.6 deutlich besser abschneidet.“ Andererseits aber, und hier „zerbröckelt dieses scheinbar so klare Bild“, wiesen Lernformen wie „kooperatives Lernen“, „Kleingruppenarbeit“, „Schülerdiskussionen“ oder, „wechselseitige Unterstützung von Schülerinnen und Schülern untereinander sehr hohe Effektstärken auf. Der Widerspruch lasse sich damit erklären, dass Hattie in der Sammelkategorie „Oben Education“ eben höchst unterschiedliche Ansätze zusammengefasst habe. Der Durchschnittswert sage also wenig aus. Ohnehin sei die Praxis in den Grundschulen viel komplexer und vielgestaltiger, als es in einer plumpen Gegenüberstellung von „offenem“ und „klein- und gleichschrittigem“ Unterricht zum Ausdruck komme.
„Gerade im Blick auf ihre Bedürfnisse muss man fragen: Was heißt eigentlich »mehr Struktur«? Manche meinen mit »Struktur« einen fachsystematischen Aufbau des Unterrichts, z. B. in Mathematik vom Zählen über das Addieren und Subtrahieren hin zum Multiplizieren und Dividieren. Andere denken an einen didaktisch-methodischen Lehrgang in Form kleiner Schritte, z. B. beim Schriftspracherwerb: erst nach und nach Buchstaben kennenlernen und ihnen Laute zuordnen, dann sinnlose Silben lesen, dann erst zwei-, später mehrsilbige Wörter mit Konsonant-Vokal-Wechsel, anschließend Wörter mit Konsonantenhäufungen und erst danach Sätze, deren Wörterzahl ebenfalls schrittweise gesteigert wird, ehe die Kinder mit kleinen Texten konfrontiert werden“, so heißt es in dem Papier.
Bei vielen offenen Lernformen könne also von Strukturlosigkeit keine Rede sein. So oder so: Von zentraler Bedeutung für die Qualität des Unterrichts sei es in jedem Fall, die „Grundprinzipien erfolgreichen Lernens“ zu beachten, nämlich:
- inhaltliche Bezüge auf persönliche Interessen zu schaffen, zum Beispiel Lesen von selbst gewählten Texten;
- an persönliche Erfahrungen der Schüler anzuknüpfen, etwa durch Mathematisieren von Situationen aus vertrauten Lebensbereichen
- den individuell „nächsten Schritt“ zu ermöglichen etwa entwicklungsbezogene Anmerkungen zu Rechtschreibfehlern zu geben.
Die Didaktik offenen Unterrichts biete ein breites Repertoire an Aktivitäten, die so flexibel einsetzbar seien, dass sie den individuellen Lernbedürfnissen einzelner Schüler entsprächen.
Behauptung 3: Falsches Schreiben prägt sich ein
„Empirische Vergleiche verschiedener Ansätze der Lese- und Schreibförderung waren bisher wenig ergiebig“, so stellen die Autoren fest. „Sie sind schon forschungsmethodisch außerordentlich schwierig, weil sich die Anwendung eines »Ansatzes« oder einer »Methode« im Unterricht nicht – wie der Einsatz eines Medikaments – kontrollieren lässt. So wird »derselbe« Ansatz (z. B. das Schreiben mit der Anlauttabelle) von verschiedenen Lehrpersonen oft sehr unterschiedlich umgesetzt. Die einen geben den Kindern keine Rückmeldung zu ihren Schreibversuchen, andere schreiben den Kindertext in »Buchschrift« daneben, wieder andere lassen die Kinder von Anfang an – parallel zum freien Schreiben – häufige Wörter systematisch üben. Außerdem kann der weiterführende Unterricht von Klasse zu Klasse jeweils unterschiedlich aussehen: bloßes Grundwortschatztraining, Einüben von expliziten Regeln, systematisches Überarbeiten eigener Texte, regelmäßige Rechtschreibgespräche – oder verschieden gewichtete Kombinationen aus diesen, evtl. noch weiteren Aktivitäten. Deshalb finden sich für jeden »Ansatz« am Ende der Grundschulzeit sehr unterschiedliche Ergebnisse, die keine Allgemeinurteile erlauben“, heißt es in der Streitschrift.
Allerdings: Der verbreitetste Einwand gegen ein Schreiben mit der Anlauttabelle im Anfangsunterricht, Kinder würden sich durch das lautorientierte Verschriften ihrer Aussprache orthografisch falsche Schreibungen einprägen, sei empirisch nicht haltbar, wie eine Vielzahl von Studien belege. Hingegen biete das freie Schreiben im Anfangsunterricht drei wichtige Vorteile:
- “Die Kinder können die Schriftsprache als ein mächtiges Instrument nutzen und erleben, um ihre persönlichen Vorstellungen bzw. Erfahrungen anderen mitzuteilen, und gewinnen damit eine hohe Motivation sich den Anstrengungen des Lesen- und Schreibenlernens zu stellen.”
- “Durch ständige Analyse und Synthese begreifen sie die alphabetische Struktur unserer Schriftsprache und festigen die einzelnen Laut-Buchstaben-Beziehungen.”
- “Das Verschriften der Wörter auf dem jeweiligen Könnensstand ermöglicht ein selbstständiges Individualisieren trotz Entwicklungsunterschieden von bis zu drei Jahren am Schulanfang.”
Wichtig sei aber dann, sobald das alphabetische Prinzip verstanden sei und seine Umsetzung beherrscht werde, mit Aktivitäten zu beginnen, bei denen es auf die richtige Schreibung ankommt. „Das fängt bei der Überarbeitung der eigenen Texte (zunächst nur besonders wichtiger Wörter) an, geht über Rechtschreibgespräche zu Strategien und Faustregeln bis hin zum gezielten Üben besonders häufiger Wörter“, so schreiben die Autoren. Fazit: „Entgegen vielfach geäußerten Vorurteilen behindert das lautorientierte Schreiben am Anfang die Rechtschreibentwicklung nicht, wenn die Kinder schon im Laufe der ersten Klasse Schritt für Schritt auf orthografische Besonderheiten hin orientiert werden.“ bibo / Agentur für Bildungsjournalismus
Hier geht es zu der vollständigen Streitschrift des Grundschulverbandes.