Das Institut ordnet in einem neuen Papier die Ergebnisse von Studien in einem Faktencheck ein und informiert über wissenschaftlich fundierte Lese- und Schreibförderung. Zunächst mal warnen die Autoren vor monokausalen Erklärungsansätzen – wie der Behauptung, allein „Schreiben wie Hören“ sei ursächlich für schlechtere Schreibleistungen von Schülern. „Lese- und Schreibleistungen sind Teil eines komplexen Wirkungsgeflechts“, erklären die Wissenschaftler. „Dazu gehören individuelle Voraussetzungen, die Lehrkraft, die Unterrichtsmethode, das familiäre Umfeld sowie der sprachliche und der soziale Hintergrund.“
Selbst wenn man nur ein einziges Kriterium für die Schreibkompetenz betrachtet – die Orthografie – ist das Bild keineswegs eindeutig. „Der Vergleich von Rechtschreibleistungen über mehrere Jahrzehnte hinweg ist (..) mit Vorsicht zu interpretieren, da Veränderungen der Lebenswelt, der Lehrpläne und des Unterrichts (z. B. die Rechtschreibreform) berücksichtigt werden müssen. So werden heute häufig andere Schwerpunkte im Deutschunterricht gesetzt. Kreative und frei geschriebene Texte sind in der Schule oftmals bedeutsamer als die Rechtschreibleistung, auch wenn die gesellschaftlichen Erwartungen hierzu im Konflikt stehen: Hier werden schriftliche Leistungen oft überwiegend nach der Anzahl orthografischer Fehler bewertet – weniger nach ihrem Inhalt, z. B. bei einer Bewerbung.“
Doch selbst wenn man den Einwand beiseitelässt: Bisherige Studien kommen zu unterschiedlichen Ergebnissen. Die Bildungsforscherin Elke Sander verglich 2006 die Rechtschreibleistungen von Kindern in Düsseldorfer Grundschulen mit 20 bzw. 40 Jahre zuvor erbrachten. Dabei kam sie zu dem Ergebnis, dass die Orthografie sich grundsätzlich nicht verschlechtert habe. Der Germanistik-Professor Wolfgang Steinig hingegen konnte in seinen Daten eine Verschlechterung der Rechtschreibleistungen feststellen. Er hatte Texte untersucht, die Kinder in den Jahren 1972, 2002 und 2012 jeweils zu einem kurzen Film verfasst hatten.
Für die vergangenen knapp 20 Jahre ist das Bild deutlicher, weil verlässlichere Daten vorliegen. Große Bildungsstudien (wie IGLU, PISA oder die IQB-Bildungstrends) zeigen danach, dass sich die Leseleistungen bezogen auf die gesamte Schülerschaft sogar verbessert haben – oder zumindest weitgehend stabil geblieben sind. Verschlechtert hat sich allerdings zuletzt der Bereich Rechtschreibung, wie der IQB-Bildungstrend für Grundschüler am Ende der vierten Klasse zeigt. Die Studie, die Vergleichszahlen von 2012 und 2017 liefert, hat auch deshalb eine bundesweite Debatte ausgelöst, weil sich im Vergleich zwischen den Bundesländern Verschiebungen gezeigt haben: Länder, die vormals gut abgeschnitten hatten, wiesen schlechtere Ergebnisse auf – Baden-Württemberg vor allem. Fakt ist auch: Im internationalen Vergleich zeigen Grundschulkinder am Ende der vierten Klasse in 20 Staaten bessere Leistungen als deutsche Kinder. Dort nimmt Deutschland einen schlechteren Platz ein als zuvor.
Die Konsequenz? „Wir müssen schauen, wie wir die schwächeren Schüler, die immerhin rund ein Fünftel ausmachen, bestmöglich fördern und unterstützen können“, sagt der Direktor des Mercator-Instituts, Prof. Dr. Michael Becker-Mrotzek.
Zwei Faktoren mit Einfluss auf die Lese- und Schreibleistungen sind der Migrationshintergrund und die soziale Herkunft. So erzielen Kinder aus Einwandererfamilien schlechtere Leistungen als solche ohne Migrationshintergrund. Das ist jedoch nicht naturgegeben: Der Abstand hat sich seit den ersten großen Bildungsstudien im Jahr 2001 verringert. Außerdem wird der Unterschied kleiner, wenn der soziale Hintergrund berücksichtigt wird: Der Leistungsrückstand reduziert sich im Vergleich mit Schülern aus ähnlichen finanziellen, Bildungs- und Familienverhältnissen. Damit zeigt sich, so betonen die Wissenschaftler des Mercator-Instituts: Bildungserfolg hängt vor allem vom sozialen Hintergrund ab. „Anstatt die Debatte immer wieder auf migrationsbedinge Unterschiede zu lenken, muss der Einfluss der sozialen Herkunft auf die Lese- und Schreibleistungen verringert werden. Heterogenität im Klassenzimmer hat viele Facetten, darauf müssen wir alle Lehrkräfte vorbereiten“, fordert Becker-Mrotzek.
Der vorgelegte Faktencheck seines Instituts gibt auch einen Überblick über wissenschaftlich fundierte Fördermöglichkeiten. „Sprachliche Bildung beginnt schon im Elementarbereich: Reimen und Silben klatschen beispielsweise bereiten auf das spätere Lesen und Schreiben lernen vor“, erläutert Dr. Simone Jambor-Fahlen, Autorin und stellvertretende Abteilungsleiterin am Mercator-Institut. In der Grundschule spielt dann das Erlernen basaler Fertigkeiten eine wichtige Rolle, etwa flüssiges Lesen: Wer flüssig liest, kann sich besser auf die Inhalte des Textes konzentrieren. „Wir wissen aus der Forschung, dass zur Förderung Lautlesetrainings besonders wirksam sind, zum Beispiel, wenn stärkere und schwächere Schüler im Tandem gleichzeitig laut lesen“, ergänzt die Wissenschaftlerin. Agentur für Bildungsjournalismus
Hier geht es zum Faktencheck des Mercator-Instituts.
Wie Politiker die Wut der Eltern auf die Grundschulen anheizen – und damit allen Lehrern schaden