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Die “Instant-Inklusion” ist gescheitert! Ein Lehrer (und betroffener Vater) antwortet auf die Streitschrift von Wocken

DÜSSELDORF. Die Debatte um die Inklusion bewegt die Lehrerschaft in Deutschland. Die dreiteilige Streitschrift von Prof. Hans Wocken, einem der renommiertesten Experten zum Thema in Deutschland also, auf News4teachers ist ein Riesenthema in vielen Kollegien. “Es beschäftigt die Kollegien immer noch sehr! Erst kürzlich forderten die Lehrkräfte einer Kölner Gesamtschule, die Inklusion mangels Ressourcen wieder auszusetzen”, so berichtet Tillmann Nöldeke, selbst Lehrer an einer Gesamtschule – und Vater eines behinderten Kindes. Nöldeke ist zudem Autor eines Buches zum Thema. Und er hat eine Replik auf Wocken verfasst, die wir in zwei Teilen veröffentlichen. Hier ist der erste.

Eine Inklusion, die nichts kostet, ist nicht zu machen. Also muss mehr Geld her. Foto: Shutterstock

Das Scheitern der Instant-Inklusion

Wer die Krise der schulischen Inklusion verstehen will, muss Felten und Wocken lesen: Der eine schreibt ein Buch darüber, weshalb Inklusion eine böse „Falle“ sei, die unser ach so schönes Bildungssystem „ruiniert“. Der andere gefällt sich in Spiegelfechterei über das Recht auf Inklusion und polemisiert gegen die Inklusionsgegner. Beiden scheint es vor allem um eines zu gehen: jeweils von ihrer Warte aus Recht zu behalten. (Links zu Beiträgen von Felten und Wocken finden Sie am Fuß dieses Beitrags, die Redaktion.)

Gerade von Wocken als „Integrations-Pionier“, der die Inklusion verteidigen will, kann, nein muss man mehr erwarten. Beispielsweise eine ehrliche Analyse der Barrieren und Fehlentwicklungen, die das gemeinsame Lernen in der Praxis bislang oft so schwierig macht. Und dann natürlich Vorschläge, was zu tun ist, um diese Hindernisse sukzessive zu überwinden.

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Wer einen nüchternen Blick auf die Schwierigkeiten wirft, mit denen schulische Inklusion zu kämpfen hat, kann sich nur wundern, wie manche Bundesländer überhaupt auf die Idee kommen konnten, sie per Dekret unter den Bedingungen der Kostenneutralität durchsetzen zu wollen. Ist es doch wissenschaftlich belegt, dass Inklusion für sich allein genommen keineswegs unsere Schulen besser macht. Wer auch nur ein bisschen Ahnung hat von der schulischen Wirklichkeit einerseits und den Anforderungen an inklusive Pädagogik, für den ist eigentlich klar, dass sie nur gelingen kann, wenn sich die Schulen dieser Aufgabe mit ganzer Kraft stellen und gleichzeitig die erforderlichen Ressourcen zur Verfügung haben.

Inklusion: Ganz oder gar nicht

Inklusion ist in Verruf geraten. War das Ganze ein riesengroßer Irrtum? „Geht“ Inklusion einfach nicht? Oder ist an dem schlechten Image eher eine gewisse Hysterie der Skeptiker schuld, gepaart mit mangelndem Veränderungswillen in den Schulen? Tillmann Nöldeke zeigt in seinem Buch “Inklusion: Ganz oder gar nicht” auf, woran Inklusion „krankt“ und wie sie gelingen kann. Hier lässt sich das Buch bestellen oder herunterladen (kostenpflichtig).

Der Befund ist erschreckend: Jenseits der Schulversuche in den Pionierjahren sind Schulen nachweislich schlecht vorbereitet auf Inklusion und verfügen über mangelhafte Ressourcen und Konzepte. Individuelle Förderung ist nicht Regel, sondern Ausnahme.
Nach der Bruchlandung solcher „Inklusion light“ braucht es dringend die Strategie einer „Inklusion 3.0“, die ein gewinnbringendes gemeinsames Lernen für alle Kinder an sehr vielen Schulen ermöglicht. Tillmann Nöldeke gibt hierzu Antworten mit Blick auf Ziele, Ressourcen und Change-Management.

So ist es auch alles andere als eine Überraschung, wenn sich jetzt in der Praxis zeigt: Jenseits der Schulversuche in den Pionierjahren und einzelner Leuchttürme sind die Schulen nachweislich schlecht vorbereitet auf die Inklusion und verfügen über mangelhafte Ressourcen. Es fehlen die Zeit und manchmal auch der Wille, das Kollegium auf die neue Aufgabe positiv einzustimmen und gemeinsam ein durchdachtes pädagogisches Konzept zu erarbeiten. Die Lehrerinnen und Lehrer werden unzureichend fortgebildet und stehen vor einer Reihe von Zusatzaufgaben, die sie in einem ohnehin überlasteten Schulalltag häufig überfordern. Die Klassen sind zu groß und der Unterricht findet viel zu selten im Team-Teaching statt. Individuelle Förderung ist nicht Regel, sondern Ausnahme.

Besonders für die Förderschüler ist diese Art der schulischen Inklusion mit hohen Risiken verbunden: Es drohen Überforderung, Isolation, (heil-)pädagogisch falsche Behandlung und mangelnde Förderung mit Folgen, die für das Lernverhalten, den Lernerfolg und die Persönlichkeitsentwicklung der Kinder dramatisch sein können. Ein gelingendes Leben, Bestätigung im Beruf, gesellschaftliche Anerkennung und Teilhabe werden so gerade gefährdet.

Leere Verheißung

Ausgerechnet in sozialen Brennpunkten und überall dort, wo Schulen besonders viele Kinder aus bildungsfernen Elternhäusern und mit Lernschwierigkeiten unterrichten, ist außerdem damit zu rechnen, dass Inklusion zu einem Absinken des allgemeinen Lernniveaus führt. Die versprochene Chancengerechtigkeit erweist sich derzeit noch als leere Verheißung, während immer mehr Kinder in den Regelschulen scheitern und froh sein müssen, wenn sie dann noch eine intakte Förderschule finden, die sich ihrer annimmt.

Die stagnierende Zahl von Kindern, die in Förderschulen unterrichtet werden, muss vor diesem Hintergrund auch als »Abstimmung mit den Füßen« gewertet werden: Obwohl sich gerade Eltern behinderter Kinder den gemeinsamen Unterricht grundsätzlich wünschen, schicken sie ihre Kinder doch lieber auf die Förderschule, weil sie das inklusive Angebot einfach noch nicht überzeugt. Ist damit nun aber schon die ganze Inklusion gescheitert, noch bevor sie überhaupt so richtig losging? Keineswegs. Gescheitert ist schlecht gemachte Inklusion, die von vornherein mit unhaltbaren Versprechungen angetreten war:

Diese beiden Behauptungen haben sich nun als falsch herausgestellt. Die dritte Begründungsfigur für das gemeinsame Lernen von Kindern und Jugendlichen ist dessen ungeachtet jedoch nach wie vor richtig:

Mir scheint genau das die einzig überzeugende Begründung zu sein für das gemeinsame Lernen, und sie leuchtet gleich doppelt ein: Separation in Förderschulen widerspricht nicht nur dem inklusiven Grundgedanken, sondern sie ist auf der Seite behinderter Menschen noch zu häufig auch der Einstieg in eine Parallelgesellschaft relativ fernab des normalen Lebens im Wohnheim und in der Werkstatt für Behinderte. Für alle sich als »normal« definierenden Menschen ist es dagegen der Beginn eines Lebens unter sich, das sich mit Behinderung nicht auseinandersetzt und dem eine echte Begegnung mit den betroffenen Menschen häufig verwehrt bleibt. Deshalb setzen Inklusionsfans so viel Hoffnung gerade in die Schule.

Hier geht es zu Teil zwei des Beitrags von Tillman Nöldeke.

Der Autor

Tillmann Nöldeke ist verheiratet und hat zwei Kinder – eines davon ist Inklusionskind. Das Thema Inklusion beschäftigt ihn nicht nur privat, sondern auch beruflich – als Lehrkraft für Biologie und Philosophie mit langjähriger Erfahrung im „inklusiven“ Alltag einer Brennpunktschule und als freier Journalist. Er ist Mitglied im Verband Sonderpädagogik (vds).

“Inklusion ist ein leidenschaftliches Bekenntnis zu Vielfalt” – aber die müssen Lehrer auch wollen! Eine Streitschrift

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