MÜNCHEN. Im vergangenen Schuljahr wiederholten allein in Bayern rund 50.000 Schülerinnen und Schüler die Klasse: 4.500 davon bereits in der Grundschule, fast 13.000 im Gymnasium. „Fernab von der Frage, ob dies pädagogisch sinnvoll ist, bedeutet das Nicht-Versetzen immense Mehrkosten für den Freistaat“, sagte die Präsidentin des Bayerischen Lehrer- und Lehrerinnenverbandes (BLLV), Simone Fleischmann, in München. Der BLLV schätzt, dass für das Bundesland dadurch jährliche Kosten von insgesamt rund 440 Millionen Euro verursacht werden – eine Studie, die sich auf ganz Deutschland bezog, war auf eine Summe von mehr als 1,8 Milliarden Euro pro Jahr gekommen. Kritik am Sitzenbleiben hatten zuvor schon prominente Bildungswissenschaftler geäußert.
Bayern gehört zu den Bundesländern mit der höchsten Sitzenbleiberquote: Nach der Schulstudie „Sitzenbleiber-Atlas“ dominiert Bayern die Top 15 der Sitzenbleiber-Hochburgen, also der Kommunen mit den höchsten Wiederholerquoten in Deutschland. Zehn der 15 Städte kommen aus dem Freistaat (siehe unten).
Nach Ansicht von BLLV-Präsidentin Fleischmann lassen die Zahlen nur einen Schluss zu: „Wir müssen junge Menschen besser fördern. Die Lehrerinnen und Lehrer brauchen dafür mehr Zeit.“ Ziel müsse es auch sein, dafür zu sorgen, dass jeder Schüler an der von ihm bzw. seinen Eltern gewählten Schulart verbleiben kann. In einem reichen Bundesland wie Bayern sei es nicht akzeptabel, dass Jahr für Jahr Tausende von Schülerinnen und Schülern ihre Schule wieder verlassen und in vielen Fällen „nach unten“ durchgereicht werden.
„Wir brauchen dringend eine Diskussion darüber, wie an unseren Schulen gelernt werden soll und welchen Lern- und Leistungsbegriff wir zugrunde legen“, sagte Fleischmann und betonte, dass Bildungs- und Erziehungsarbeit immer auch Beziehungsarbeit sei. Erfolgreiches Lernen setze Verstehen voraus. „Und wer verstehen will, muss verstanden werden. Dazu benötigen Pädagoginnen und Pädagogen wesentlich mehr Zeit.
Deutschland in der “Spitzengruppe”
Nach Angaben des Bildungsforschers Andreas Schleicher gibt Deutschland im internationalen Vergleich zusammen mit Belgien, den Niederlanden, Frankreich und Spanien das meiste Geld für Klassenwiederholer aus. „Deutschland liegt weiterhin in der Spitzengruppe bei den Sitzenbleibern“, berichtete der Bildungsdirektor der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) in einer Debatte vor gut einem Jahr.
Der Dortmunder Bildungsforscher Prof. Wilfried Bos stellte seinerzeit fest: „Sitzenbleiben bringt nichts.“ Normalerweise würden die Schüler in den ersten Wochen besser, fielen dann aber wieder zurück und kämen am Ende oft nur mit Mühe und Not durch. „Das muss man früher diagnostizieren», unterstrich der Direktor des Dortmunder Instituts für Schulentwicklungsforschung. „Lehrer müssten schon im Oktober merken: Das Kind kommt nicht mit, versteht etwa den Dreisatz nicht. Sie müssten Ressourcen haben, einzugreifen, statt schwächere Schüler mitzuschleppen und erst im Januar einen Blauen Brief zu schicken. Das ist das Versagen von Schule.“
Lediglich in Ausnahmefällen könne Sitzenbleiben sinnvoll sein. „Manche Schüler brauchen in der Pubertät einen Schuss vor den Bug.“ Die „Ehrenrunde“ komplett abzuschaffen, nütze allein aber auch nichts, wenn die Ressourcen zur Förderung nicht zur Verfügung gestellt würden. News4teachers
Auch auf der Facebook-Seite von News4teachers entbrennt dazu eine heiße Debatte:
Sitzenbleiben ist längst nicht mehr nur eine Frage des fehlenden Wissens und Könnens. Vielmehr entscheiden auch der Wohnort und die Schulart über das Wohl und Wehe der Schüler. Dies ist Ergebnis einer Studie, die 2016 im Auftrag des Verbraucherportals billiger.de erstellt wurde. Ein weiteres Ergebnis der Untersuchung: Allein für die in der Studie berücksichtigten 122 Städte belaufen sich die Kosten für den Steuerzahler auf hochgerechnet 1,8 Milliarden Euro, nimmt man Daten der OECD (Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung) als Berechnungsgrundlage.
Untersucht wurde das Schuljahr 2014/15 und zwar in den 122 größten und wichtigsten Städten, die in der Regel über 100.000 Einwohner haben. Für die Untersuchung wurden zahlreiche Quellen herangezogen, darunter die Kultusministerien und deren Schul- und Kommunalbehörden sowie die Statistischen Ämter des Bundes und der Länder. Zudem wurde auch bei einigen Schulen direkt angefragt. Auf diese Weise kamen mehr als 2.100 Datensätze zusammen, mit denen das Sitzenbleiber-Ranking gebildet werden konnte. Untersucht wurden Grund-, Haupt-, Real- und Gesamt- bzw. Gemeinschaftsschulen sowie Gymnasien. Hierfür wurden Cluster gebildet, um die unterschiedlichsten Schularten überhaupt vereinheitlicht unter einem Raster darstellen zu können.
Das Ergebnis verblüfft: Deutschlandweit unterscheiden sich die ermittelten Sitzenbleiber-Quoten erheblich. So blieben in den untersuchten bayerischen Städten teilweise viermal mehr Schüler sitzen als etwa in Aalen, Flensburg oder Konstanz. Die Berechnungen berücksichtigen sowohl Nichtversetzte als auch freiwillige Wiederholer eines Schuljahres.
Deutschlands Sitzenbleiber-Atlas zeigt deutlich: Coburger Schüler bleiben am häufigsten sitzen. Mit 38 Klassenwiederholungen je 1.000 Schüler (224 Nichtversetzte gesamt im Schuljahr 14/15) sichert sich die Stadt in Oberfranken den unrühmlichen ersten Platz. Knapp dahinter rangiert Fürth mit 37 Sitzenbleibern je 1.000 Schüler (395 Nichtversetzte gesamt) auf Platz zwei, gefolgt von Hof (ebenfalls 37 Sitzenbleiber je 1.000 Schüler; 189 Nichtversetzte gesamt).Insgesamt betrachtet dominiert Bayern die Top 15 der Sitzenbleiber-Hochburgen. Zehn der 15 Städte kommen aus dem Freistaat. Als erste nicht-bayerische Stadt hat es Hanau auf den fünften Platz des Sitzenbleiber-Rankings geschafft. In der hessischen Stadt gab es im Untersuchungszeitraum, dem Schuljahr 2014/2015, rund 35 Wiederholer je 1.000 Schüler (409 Nichtversetzte gesamt).
Gemäß den Studien-Kriterien zählt das niedersächsische Salzgitter ebenfalls zu den Top-Hochburgen der Sitzenbleiber. Im Schnitt drehten hier knapp 33 Schüler je 1.000 Schulpflichtiger noch mal eine Ehrenrunde (322 Nichtversetzte gesamt). Auch die Städte Schwerin (32 Wiederholer je 1.000 Schüler, 269 Nichtversetzte gesamt) und Gießen (32 Wiederholer je 1.000 Schüler, 357 Nichtversetzte gesamt) gehören zu den Sitzenbleiber-Hauptstädten.
Klassenprimus der Studie ist Aalen in Baden-Württemberg. Dort blieb im Schuljahr 2014/15 über die vier untersuchten Schularten hinweg (Grund-, Haupt-, Realschule sowie Gymnasium; eine Gesamtschule existiert dort nicht) kaum jemand sitzen. Auf 1.000 Schüler kommen in Aalen gerade einmal 9 Sitzenbleiber (62 Nichtversetzte gesamt im Schuljahr 2014/15). Damit erreichte in der Stadt nur etwa jeder Hundertste das Klassenziel nicht. Auch das schleswig-holsteinische Flensburg (9 Sitzenbleiber je 1.000 Schüler, 100 Nichtversetzte gesamt) oder das baden-württembergische Konstanz am Bodensee (10 Wiederholer je 1.000 Schüler, 84 Nichtversetzte gesamt) verzeichnen eine vorbildlich niedrige Sitzenbleiber-Quote von unter einem Prozent.
Ebenso gut sieht es im Osten der Republik aus: Jena (11 Wiederholer je 1.000 Schüler, 108 Nichtversetzte gesamt) und Suhl in Thüringen (12 Sitzenbleiber je 1.000 Schüler, 26 Nichtversetzte gesamt) gehören zu den 15 besten Städte mit den wenigsten Repetenten. Des Weiteren hat die nordrhein-westfälische Stadt Paderborn mit einer Abweichung von 39 Prozent unter dem Studien-Schnitt (12 Wiederholer je 1.000 Schüler) absoluten Vorbildcharakter unter den sogenannten Streber-Städten.
Berlin und Hamburg locker
Ebenfalls zu den Top-Städten gehört – überraschenderweise – Berlin. Zwar hatte die Bundeshauptstadt im vergangenen Schuljahr 2014/15 mit 4.182 berücksichtigten Schülern die höchste Anzahl an Sitzenbleibern in ganz Deutschland, diese verteilen sich jedoch auf 317.022 Schüler. Demnach kommt Berlin auf eine erstaunlich niedrige Sitzenbleiber-Quote von gerade einmal 1,32 Prozent. Würde man jedoch den ermittelten bundesweiten Studien-Schnitt von 1,97 Prozent als Grundlage für Berlin nehmen, käme die Hauptstadt rein theoretisch auf rund 6.245 Sitzenbleiber.
Der Grund für die starke Normabweichung liegt vor allem in Berlins lockerer Schul- und Versetzungspolitik. Ein Sitzenbleiben an Sekundarschulen ist dort nämlich gar nicht mehr möglich. Diese seit 2010 existierende Schulform vereint Haupt-, Real- und Gesamtschule. Lediglich an Gymnasien müssen die Schüler noch um ihre Nichtversetzung fürchten. Einen Schritt weiter in der Abschaffung des Sitzenbleibens ist der Stadtstaat Hamburg. Dort rückt nahezu jeder Schüler automatisch in die nächste Jahrgangsstufe vor.
Weitere Schulen mit besonders wenigen Sitzenbleibern sind: Lübeck (13 Sitzenbleiber je 1.000 Schüler), Oldenburg (13 Sitzenbleiber je 1.000 Schüler), Münster (13 Sitzenbleiber je 1.000 Schüler), Kiel (13 Sitzenbleiber je 1.000 Schüler), Hamburg (13 Sitzenbleiber je 1.000 Schüler), Dresden (14 Sitzenbleiber je 1.000 Schüler) sowie Gera (14 Sitzenbleiber je 1.000 Schüler). Im Studien-Schnitt blieben im Schuljahr 2014/15 etwa 20 von 1.000 Schülern sitzen.