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“Nicht zu schaffen”: In der Debatte um die Situation in Grundschulen knallt es gewaltig

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FRANKFURT/MAIN. Eine gute Bildung, Chancengleichheit und qualifizierte, entspannte Lehrer: Diesen Wunsch würden wohl die meisten Eltern den Erstklässlern mit in die Schultüte stecken. Die Realität beschreiben Experten an den meisten Grundschulen jedoch anders. Beispiel Hessen: Hier kocht die Debatte um Lehrermangel, die Überlastung des pädagogischen Personals und die Unterrichtsqualität gerade hoch.

Schönwetter ist in den Grundschulen schon lange vorbei.                                           Foto: fateish / flickr / CC BY-SA 2.0

Farid, Jaron und Nele stehen auf der Bühne der Einschulungsfeier und halten stolz ihre mit Pferden, Dinos oder Raumschiffen verzierten Schultüten im Arm. Die Eltern machen Fotos mit ihren Handys. Gemeinsam werden die Drei in den kommenden Jahren in einer hessischen Grundschule unterrichtet werden.

Nach Angaben des hessischen Kultusministeriums warten auf sie sehr gute Bedingungen, um sich zu entwickeln: Ausreichend Lehrer, Unterstützung durch Sozialpädagogen, Angebote zur individuellen Förderung und ausreichende Ganztagsangebote. «Unsere Schulen starten so gut versorgt wie nie zuvor in das neue Schuljahr», sagte Kultusminister Alexander Lorz (CDU) im Juli. Das werde besonders beim Ausbau des Ganztagsangebots deutlich. Mittlerweile böten rund 70 Prozent aller Schulen im Land ganztägige Angebote an.

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Experten kritisieren jedoch einen deutlichen Lehrermangel an Grund- und Förderschulen, Überlastung, fehlende echte Ganztagsangebote und daraus resultierende Chancenungleichheit: Mit großer Wahrscheinlichkeit wird sich – unabhängig von der Begabung – Akademikerkind Nele in vier Jahren auf einem Gymnasium wiederfinden. Auf die afghanischen Flüchtlingsjungen Farid und Jaron mit voll arbeitenden Eltern im Niedriglohnsektor wartet wohl die Hauptschule.

«Ich kann es mir nicht mehr leisten, auf jedes Kind einzugehen», sagt die 38-jährige Grundschullehrerin Nicole K. Die verbeamtete Pädagogin will ihren echten Namen nicht nennen, da sie sonst Konsequenzen befürchtet. Rund 75 Kinder unterrichtet sie in mehreren Klassen an einer Grundschule im Rhein-Main-Gebiet, sie und ihre drei jüngeren Kolleginen fielen bereits wegen der Diagnose Burn-out monatelang aus. «Wenn du deinen Job liebst und ihn ernst nimmst, reibt dich die Situation auf.» Eine Bindung zu den Kindern zu haben und ihnen strukturbedingt nicht so helfen zu können, wie man es eigentlich könnte und gerne möchte, sei psychisch sehr belastend.

Pro Klasse mit rund 25 Kindern habe sie rund fünf Kinder mit Lese- und Rechtschreibschwäche, rund drei Kinder mit ADS oder ADHS und zwei Kinder mit sozial-emotionalen Störungen. Dazu kommen noch mögliche Flüchtlings- oder Inklusionskinder. Sie alle hätten besonderen Förderbedarf: «Das ist nicht zu schaffen.» Am Ende litten alle – auch die begabten Schüler, für die sie dann keine Zeit habe.

Hilferufe und Schönfärberei

Besonders Grundschulen in Hessen brauchen mehr Lehrer, sind sich Eltern-, Schüler- und Lehrerverbände einig. «Das Kultusministerium rechnet alles schön, weil Landtagswahl ist», sagt der Vorsitzende des hessischen Landeselternbeirates, Korhan Ekinci. Die Politik habe die Situation noch gar nicht als Problem erkannt, da werde es auch mit der Lösung schwierig, sagt die Vorsitzende der GEW, Birgit Koch. Dabei berichteten Kollegen aus allen Teilen des Bundeslandes dasselbe. «Wir Elternvertreter bekommen Hilferufe von Schulleitern, die keine Ansprechpartner mehr finden», sagt Ekinci.

Der Einsatz von Quereinsteigern mit fachlicher Qualifikation oder von Gymnasiallehrern an Grundschulen ist für Eltern, Lehrer und Schüler keine Lösung. Da fehlten oft die pädagogische und didaktische Qualifikation, die besonders an Grundschulen wichtig sei. Es gebe Berichte von Lehrkräften ohne pädagogischen Hintergrund, die Kinder autoritär anschreien, keine Transparenz in der Notengebung haben und das gesamte Klassenklima zerstören, sagt Landesschulsprecherin Emely Dilchert. Nicht jeder sei dafür gemacht, vor einer Klasse zu stehen: «Das sind wirklich Horrorgeschichten, ich übertreibe da nicht.» Auch sie fordert, Lehrer zu entlasten und den Beruf attraktiver zu gestalten: «Das, was gemacht wird, um mehr Lehrer an die Schulen zu holen, reicht von vorne bis hinten nicht.»

Stetig zunehmende Verwaltungsaufgaben, viele Schüler mit besonderem Förderbedarf und auch viel Betreuungsbedarf der Eltern zählt Nicole K. als ihre Belastungen auf. «Ein Drittklässler hat seit drei Wochen keine Hausaufgaben und statt neuer Hefte die Materialien des Vorjahres samt verschimmelter Brotdose im Ranzen.» Die Eltern waren trotz zahlreicher Versuche bisher nicht erreichbar. Aus vorherigen Gesprächen weiß sie, dass diese selbst keine Lust auf Schule hatten und haben. Demgegenüber steht eine Mutter, die die dreitägige Klassenfahrt ihrer Tochter mit mehrfachen Anrufen – auch am Wochenende – und vierseitiger «Bedienungsanleitung» vorbereitet. Der Drittklässler wird auf der Hauptschule landen, ist sich Nicole K. sicher: «Vom Potenzial her könnte er das Gymnasium schaffen, aber ohne Elternunterstützung geht das nicht.»

Eine Lösung für mehr Chancengleichheit und Entlastung ist aus Expertensicht der Ausbau echter Ganztagsschulen. Nur so könne man den «Faktor Glück» aus der Bildungskarriere eliminieren, sagt Ekinci: «Bildung ist Teil der Schule und nicht des Elternhauses. Wenn die Kinder nach Hause kommen, sollten sie überhaupt keine Ansprüche mehr haben müssen, irgendwas zu lernen.» Viele Ganztagsangebote in Hessen beschränkten sich am Nachmittag aber auf ein reines Betreuungs- und Spielangebot. «Wie Ganztagsschulen momentan umgesetzt werden, das ist nichts Halbes und nichts Ganzes», sagt die Landesschulsprecherin. Es brauche auch am Nachmittag ausgebildete Lehrkräfte, nur dann könne man mögliche Nachteile ausgleichen.

Farid, Jaron und Nele werden für ihre Bildungskarriere darauf hoffen müssen, dass ihre Eltern zuverlässig Materialien kaufen, sie fördern und nachmittags Hausaufgaben kontrollieren. Der GEW-Vorsitzenden Koch macht die schleppende Reform auch gesamtgesellschaftlich Sorgen: «Wir müssen etwas ändern, sonst werden immer mehr Familien einfach abgehängt – da kommt nichts Gutes bei raus.» dpa

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