BERLIN. Die Debatte um Alltagsrassismus auch in der Schule hat die Politik erreicht. Der Präsident der Kultusministerkonferenz (KMK), Helmut Holter, fordert ein größeres Fingerspitzengefühl von Lehrern gegenüber Schülern mit Migrationshintergrund. Der Deutsche Lehrerverband (DL) sieht in Deutschlands Schulen keine Anzeichen für eine systematische Diskriminierung von Migrantenkindern. Einzelfälle dagegen seien nicht auszuschließen. “Es gibt leider auch Vollidioten unter Lehrkräften”, sagte DL-Präsident Heinz-Peter Meidinger gegenüber der “Süddeutschen Zeitung”.
Hintergrund der Diskussion sind Schilderungen Tausender Menschen über Alltagsrassismus im Internet unter dem Hashtag «MeTwo». Auslöser war der Rücktritt von Fußballstar Mesut Özil aus der deutschen Nationalmannschaft. Etliche der Diskriminierungenerfahrungen, die unter «MeTwo» geschildert werden, sind in der Schule angesiedelt – News4teachers hat Dutzende davon dokumentiert. Häufig werden darin auch Lehrkräfte kritisiert. Die Palette reicht von Unsensibilitäten bis hin zu offen rassistischen Beleidigungen. Ein Punkt, der immer wieder auftaucht: die Empfehlung für die weiterführende Schule, die in der 4. Klasse gegeben wird. Geschildert werden augenscheinlich krasse Fälle, in denen das Potenzial von Migrantenkindern fehleingeschätzt wurde.
«In der Schule geht es vor allem um höchste Sensibilität in der Sprache. Man muss das Bewusstsein von Lehrkräften für ihre Wortwahl schärfen, damit nicht der Eindruck entsteht, sie sei rassistisch motiviert», sagte der KMK-Präsident Holter den Zeitungen der Funke-Mediengruppe. Spezielle Antirassismus-Trainings für Lehrer lehnt der Thüringer Bildungsminister allerdings ab. Die bisherigen Standards der Länder für die Lehrerbildung gingen bereits «deutlich weiter als Einzelmaßnahmen wie ein Antirassismus-Training», sagte er.
Der Migrationsforscher Mark Terkessidis beklagte, dass Kinder mit Migrationshintergrund oft zu Unrecht auf die Hauptschule geschickt würden. Verantwortlich sei oft ein fehlendes Bewusstsein der einstufenden Lehrer, sagte er der «Welt». Verbreitet sei bei ihnen die Einstellung, dass es für den Besuch eines Gymnasiums einer intakten akademisch gebildeten Familie bedürfe. «Das sehen sie in Familien von Migrantenkindern oft nicht», kritisierte Terkessidis. Er bedauerte deshalb, dass es «immer noch viel zu wenige Lehrer mit Migrationshintergrund» gebe.
“Anderer Weg zum Abitur”
Heinz-Peter Meidinger, Präsident des Deutschen Lehrerverbands – und selbst Leiter eines Gymnasiums in Bayern – sieht in der Tatsache, dass Kinder aus Einwandererfamilien an Gymnasien unterrepräsentiert sind, kein Anzeichen für eine systematische Diskriminierung. Dass Schüler mit Migrationshintergrund seltener eine entsprechende Empfehlung erhalten, liege nicht daran, dass die Lehrer rassistische Stereotype reproduzieren würden, sagte er gegenüber der „Huffington Post“. „Für Kinder mit Migrationshintergrund ist es wegen derer sprachlichen Defizite oft sinnvoller, nicht direkt auf ein Gymnasium zu wechseln, wo sie mit bis zu drei weiteren Fremdsprachen konfrontriert werden.“ Auf dem Gymnasium gebe es außerdem seltener zusätzliche Deutschkurse für Kinder mit Migrationshintergrund. Auch deswegen sei es für diese meist einfacher, zunächst nicht aufs Gymnasium zu gehen – und das Abitur über eine Gesamtschule oder eine Fachoberschule anzusteuern.
Meidinger erklärte laut Bericht: „Ich habe selbst schon mehrfach Kindern mit Migrationshintergrund und Sprachdefiziten empfohlen, einen anderen Weg zum Abitur zu wählen, auch wenn sie grundsätzlich die kognitiven Fähigkeiten für das Gymnasium mitbrachten. Dass das ein Zeichen von Rassismus sein solle, halte ich für falsch.“ Er räumte allerdings ein, dass es „natürlich in Einzelfällen“ dazu kommen könnte, dass Lehrer die Begabung ihrer Schüler aufgrund von sprachlichen Defiziten falsch einschätzten. Normalerweise aber würden die Lehrer ihre Schüler gerade an Grundschulen sehr gut kennen, somit könne man auf ihr Urteil in der Regel vertrauen.
Auch Fälle von Diskriminierung mochte Meidinger gegenüber der “Süddeutschen Zeitung” nicht ausschließen. Ein derartiges Verhalten sei kriminell, habe im Klassenzimmer nichts verloren und müsse sofort angezeigt und mit einem Disziplinarverfahren geahndet werden. “So ein Lehrer macht so etwas gewöhnlich nicht nur einmal, sondern häufiger.”
Meidinger appellierte daher an Betroffene, rassistische Ausfälle unverzüglich der Schulleitung zu melden – und an seine Kollegen, die Fälle streng zu verfolgen. “Natürlich gibt es Schulleitungen, die Probleme ein wenig unter den Teppich kehren wollen – beim Thema Rassismus aber darf keinesfalls jemand wegschauen.” News4teachers / mit Material der dpa
Hier geht es zu dem Bericht in der „Huffington Post“, in dem auch noch zwei andere Lehrer mit differenzierten Statements zu Wort kommen.
Hier geht es zu dem Bericht in der “Süddeutschen Zeitung”.
Gleiche Fehlerzahl – schlechtere Note: Migrationshintergrund macht offenbar den Unterschied