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Schadensersatz für Ex-Förderschüler Nenad – ein kleiner Erfolg, doch das System bleibt ein Problem

KÖLN. Im Prozess zwischen dem Ex-Förderschüler Nenad und dem Land Nordrhein-Westfalen hat das Land das Urteil des Landgerichts Köln auf Schadensersatz akzeptiert. Für unsere Gastautorin, Rechtsanwältin Sibylle Schwarz, ist der Fall damit aber noch lange nicht abgeschlossen.

Der heute 21-jährige Kläger Nenad ist der Ansicht, dass das beklagte Land Nordrhein-Westfalen ihm gegenüber bestehende Amtspflichten verletzt habe. Entgegen der gesetzlichen Vorgabe sei nicht jährlich überprüft worden, ob der Förderbedarf im Schwerpunkt Geistige Entwicklung bei ihm weiter bestanden habe. Dies sei nämlich nicht der Fall gewesen. Nenad verlangt Schmerzensgeld und Schadensersatz vom Land NRW.

Das Landgericht Köln hat Nenad in der 1. Instanz Schadensersatz zugesprochen. Screenshot aus der WDR-Reportage “Für dumm erklärt”.

Rückblick: Nenads bisherige Schullaufbahn
Der am 07.06.1996 geborene Kläger wurde im zweiten Halbjahr des Schuljahres 2003/2004 in die Grundschule „B-Straße“ in D (Bayern) eingeschult. Nachdem im Jahreszeugnis vom 30.07.2004 dringender sonderpädagogischer Förderbedarf festgestellt worden war, erstellte die N-Schule in C am 02.09.2004 ein sonderpädagogisches Gutachten, das auf einer Untersuchung des Klägers vom 24.07.2004 basierte und in dem die Ergebnisse wie folgt zusammengefasst wurden:

Mit einem K-ABC-Standardwert 60 liegt Q im Bereich der leichten geistigen Behinderung. Allerdings ist momentan nicht zu klären, ob es sich hier um eine genuine geistige Behinderung handelt bzw. wie stark deprivierende und somit entwicklungshemmende Faktoren (Familie) eine Rolle spielen. Fest steht allerdings, dass der Junge momentan nur auf dem Niveau der Geistigbehinderten-Pädagogik adäquat gefördert werden kann.
Entsprechend dem Vorschlag des Gutachtens wurde der Kläger in die N-Schule, Förderschwerpunkt Geistige Entwicklung eingeschult, die er bis zum Ende des Schuljahres 2007/2008 besuchte.
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Nach dem Umzug der Familie des Klägers nach Köln (NRW) besuchte er ab dem 26.01.2009 die Städtische Förderschule für geistige Entwicklung, P-Straße in Köln-R. Die Schule P-Straße erstellte jährliche Zeugnisse, in denen jeweils festgestellt wurde, dass „weiterhin sonderpädagogischer Förderbedarf im Förderschwerpunkt Geistige Entwicklung (§ 6 AOSF)“ bestand. Mit Schreiben vom 28.11.2014 beendete die Schule P-Straße das Schulverhältnis mit dem Kläger mit sofortiger Wirkung, da er das 18. Lebensjahr vollendet habe und die Schule trotz vieler Aufforderungen im letzten Schuljahr, wie in den Jahren zuvor, nur an wenigen Tagen besucht habe.

Urteilsbegründung
Die 5. Zivilkammer des Landgerichts Köln hat Nenads Klageantrag dem Grunde nach stattgegeben (wir berichteten). Dem Kläger stehe ein Anspruch auf Schadenersatz gegen das beklagte Land aus § 839 Absatz 1 Satz 1 i.V.m. Art. 34 GG zu.
Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) § 839 Haftung bei Amtspflichtverletzung: „(1) Verletzt ein Beamter vorsätzlich oder fahrlässig die ihm einem Dritten gegenüber obliegende Amtspflicht, so hat er dem Dritten den daraus entstehenden Schaden zu ersetzen.“

Das Landgericht Köln stellt der tiefergehenden Prüfung zwei Grundsätze voran:

Vor Gericht betonte die Sachverständige, dass eine erneute Überprüfung des sonderpädagogischen Förderbedarfs hätte stattfinden müssen. Foto: Shutterstock

Die Kammer steht auch auf dem Standpunkt, dass ab dem Zeitpunkt der Aufnahme des Klägers in eine nordrhein-westfälische Schule die einschlägigen Vorschriften über die Überprüfung der Fortdauer des Förderbedarfs und des Förderschwerpunktes zu beachten und gegebenenfalls entsprechend anzuwenden waren. Insofern bestimmt § 17 Absatz 1 AO-SF, dass die Klassenkonferenz bei Bedarf, mindestens einmal jährlich überprüft, ob der festgestellte Bedarf an sonderpädagogischer Unterstützung und der festgelegte Förderschwerpunkt weiterhin bestehen. Im Streitfall ist diese Vorschrift einschlägig: AO-SF (Ausbildungsordnung sonderpädagogische Förderung)

§ 17 Jährliche Überprüfung, Wechsel des Förderorts oder des Bildungsgangs
(1) Die Klassenkonferenz überprüft bei Bedarf, mindestens einmal jährlich, ob der festgestellte Bedarf an sonderpädagogischer Unterstützung und der festgelegte Förderschwerpunkt weiterhin bestehen.
(2) Ist nach Auffassung der Klassenkonferenz bei Fortbestand eines Bedarfs an sonderpädagogischer Unterstützung im bisherigen Förderschwerpunkt ein Wechsel des Förderorts oder des Bildungsgangs angebracht, lädt die Schulleiterin oder der Schulleiter die Eltern zu einem Gespräch ein und informiert die Schulaufsichtsbehörde so rechtzeitig, dass darüber vor Ablauf des Schuljahres gemäß § 16 Absatz 1 und 2 entschieden werden kann.
(3) Bei einem Wechsel des Förderorts gelten §§ 14 und 16 entsprechend. Die Schulaufsicht kann auch entscheiden, dass der Wechsel bis zu sechs Monate probeweise dauert. Diese Frist kann nicht verlängert werden.
(4) Die Vorschriften der §§ 11 und 13 der Verordnung über die Ausbildung und die Abschlussprüfungen in der Sekundarstufe I (APO-S I) über den Wechsel der Schulform in der Sekundarstufe I gelten 1. bei einem Wechsel des Förderorts nach den Absätzen 2 und 3, 2. beim Wechsel des Bildungsgangs innerhalb der besuchten Schule.
(5) Wird eine Schülerin oder ein Schüler in der Primarstufe sonderpädagogisch gefördert, entscheidet die Schulaufsichtsbehörde, ob sonderpädagogische Förderung in der Sekundarstufe I weiterhin notwendig ist. In diesem Fall schlägt sie den Eltern gemäß § 16 mindestens eine allgemeine Schule vor. Ein neues Gutachten im Sinne von § 13 Absatz 1 ist nur dann einzuholen, wenn es erforderlich ist.
(6) Wird eine Schülerin oder ein Schüler in der Primarstufe sonderpädagogisch gefördert, ohne dass ein förmliches Verfahren nach den §§ 11 bis 15 durchgeführt worden ist, empfiehlt die Schule den Eltern, bei der Anmeldung zur weiterführenden Schule den individuellen Förderplan (§ 21 Absatz 7 Satz 3) vorzulegen.

In Bezug auf das Zeugnis vom 29. Juni 2009 [näher ausgeführt in Rn 48] führt die Kammer in der Begründung aus: „Das Zeugnis zeichnet vielmehr das Bild eines unter anderem durch ungünstige familiäre Hintergrundbedingungen in seiner Bildungsentwicklung verzögerten, aber gleichwohl intellektuell zur Bewältigung der schulischen Anforderungen fähigen Kindes.“

Die 5. Zivilkammer des Landgerichts Köln urteilte zu Gunsten des Klägers. Foto: Thorben Wengert pixelio.de

In dieser Situation hätte es den zuständigen Bediensteten der Schule P-Straße sowie gegebenenfalls der Schulaufsichtsbehörde oblegen, den Fortbestand des sonderpädagogischen Förderbedarfs im Förderschwerpunkt Geistige Entwicklung bei dem Kläger in dem nach der AO-SF vorgeschriebenen Verfahren zu überprüfen. Dies gilt umso mehr in Ansehung der Tatsache, dass die letzte sonderpädagogische Begutachtung knapp fünf Jahre zurücklag und in ihr ausdrücklich festgehalten worden war, dass nicht zu klären war, ob es sich bei dem Kläger um eine genuine geistige Behinderung handelte, und dass eine adäquate Förderung momentan nur auf dem Niveau der Geistigbehinderten-Pädagogik erfolgen könne.

Darüber hinaus hat auch die Sachverständige Prof. Dr. T. es für unerlässlich erachtet, dass bei dem Kläger nach seinem Wechsel nach Nordrhein-Westfalen der sonderpädagogische Förderbedarf einer eingehenden Überprüfung hätte unterzogen werden müssen. Die Feststellungen der Gutachterin aus dem Jahr 2004 seien so vorsichtig formuliert gewesen, dass sie nicht mehr als Grundlage für die Fortschreibung des Förderbedarfs im Jahr 2009 dienen konnten, und die sonstigen Dokumentationen belegten diesen im Förderschwerpunkt Geistige Entwicklung gerade nicht.

Nach dem Ergebnis der durchgeführten Beweisaufnahme steht zur Überzeugung des Gerichts ebenfalls fest, dass die Entscheidung aus dem Jahr 2009, den Kläger weiterhin auf der Förderschule für geistige Entwicklung zu belassen, auf einer nicht vertretbaren Auslegung des § 5 AO-SF beruhte.

Dass bei der gebotenen Überprüfung im Jahr 2009 [Anm. d. Red.: der Schüler wechselte 2009 mit seiner Familie von Bayern nach NRW] mit Sicherheit festgestellt worden wäre, dass der Förderbedarf im Schwerpunkt Geistige Entwicklung nicht mehr bestand, hat die Sachverständige Prof. Dr. T überzeugend dargelegt. In diesem Fall hätte der Kläger zumindest auf eine Förderschule mit einem anderen Förderschwerpunkt wechseln müssen, auf welcher er – anders als im Schwerpunkt Geistige Entwicklung – einen Hauptschulabschluss hätte erwerben können. Auch hiervon geht das Gericht aufgrund des Ergebnisses der Begutachtung und insbesondere der mündlichen Ausführungen der Sachverständigen aus. Es sei „davon auszugehen, dass das intellektuelle Potenzial bei dem Kläger schon vorhanden war und es lediglich aufgrund der Fortschreibung des Förderbedarfs nicht zur Entfaltung gekommen ist“.

Persönliche Anmerkungen
Der mittlerweile 21-Jährige gibt einem Problem ein Gesicht. Nenads Fall zeigt die Fehler im System. Er ist nicht der bedauerliche Einzelfall.

Nachdem im Jahreszeugnis vom 30.07.2004 dringender sonderpädagogischer Förderbedarf festgestellt worden war, erstellte die N-Schule in C am 02.09.2004 ein sonderpädagogisches Gutachten, das auf einer Untersuchung des Klägers vom 24.07.2004 basierte.
In dieser Situation hätte es den zuständigen Bediensteten der Schule P-Straße (NRW) sowie gegebenenfalls der Schulaufsichtsbehörde (NRW) oblegen, den Fortbestand des sonderpädagogischen Förderbedarfs im Förderschwerpunkt Geistige Entwicklung bei dem Kläger in dem nach der AO-SF vorgeschriebenen Verfahren zu überprüfen.
Die Klassenkonferenz überprüft bei Bedarf, mindestens einmal jährlich, ob der festgestellte Bedarf an sonderpädagogischer Unterstützung und der festgelegte Förderschwerpunkt weiterhin bestehen. (§ 17 Absatz 1 AO-SF)

Wie geht es nach dem Urteil weiter?
Die Zivilkammer hat über eine Schadensersatzpflicht des Landes NRW dem Grunde nach entschieden. Zugleich hat sie einen Beweisbeschluss erlassen zu Fragen der Schadenshöhe. Eine Beweisaufnahme wird durchgeführt werden.

Sibylle Schwarz ist Rechtsanwältin bei else.schwarz, einer Kanzlei für Beamtenrecht und Bildungsrecht in Wiesbaden.

Der Fall Nenad zeigt auf: Das sonderpädagogische Verfahren bedarf einer echten Reform – ein Kommentar

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