Schadensersatz für Ex-Förderschüler Nenad – ein kleiner Erfolg, doch das System bleibt ein Problem

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KÖLN. Im Prozess zwischen dem Ex-Förderschüler Nenad und dem Land Nordrhein-Westfalen hat das Land das Urteil des Landgerichts Köln auf Schadensersatz akzeptiert. Für unsere Gastautorin, Rechtsanwältin Sibylle Schwarz, ist der Fall damit aber noch lange nicht abgeschlossen.

Der heute 21-jährige Kläger Nenad ist der Ansicht, dass das beklagte Land Nordrhein-Westfalen ihm gegenüber bestehende Amtspflichten verletzt habe. Entgegen der gesetzlichen Vorgabe sei nicht jährlich überprüft worden, ob der Förderbedarf im Schwerpunkt Geistige Entwicklung bei ihm weiter bestanden habe. Dies sei nämlich nicht der Fall gewesen. Nenad verlangt Schmerzensgeld und Schadensersatz vom Land NRW.

Der 19-jährige Nenad will das Land Nordrhein-Westfalen verklagen. Screenshot aus der WDR-Reportage "Für dumm erklärt".
Das Landgericht Köln hat Nenad in der 1. Instanz Schadensersatz zugesprochen. Screenshot aus der WDR-Reportage „Für dumm erklärt“.

Rückblick: Nenads bisherige Schullaufbahn
Der am 07.06.1996 geborene Kläger wurde im zweiten Halbjahr des Schuljahres 2003/2004 in die Grundschule „B-Straße“ in D (Bayern) eingeschult. Nachdem im Jahreszeugnis vom 30.07.2004 dringender sonderpädagogischer Förderbedarf festgestellt worden war, erstellte die N-Schule in C am 02.09.2004 ein sonderpädagogisches Gutachten, das auf einer Untersuchung des Klägers vom 24.07.2004 basierte und in dem die Ergebnisse wie folgt zusammengefasst wurden:

Mit einem K-ABC-Standardwert 60 liegt Q im Bereich der leichten geistigen Behinderung. Allerdings ist momentan nicht zu klären, ob es sich hier um eine genuine geistige Behinderung handelt bzw. wie stark deprivierende und somit entwicklungshemmende Faktoren (Familie) eine Rolle spielen. Fest steht allerdings, dass der Junge momentan nur auf dem Niveau der Geistigbehinderten-Pädagogik adäquat gefördert werden kann.
Entsprechend dem Vorschlag des Gutachtens wurde der Kläger in die N-Schule, Förderschwerpunkt Geistige Entwicklung eingeschult, die er bis zum Ende des Schuljahres 2007/2008 besuchte.

Nach dem Umzug der Familie des Klägers nach Köln (NRW) besuchte er ab dem 26.01.2009 die Städtische Förderschule für geistige Entwicklung, P-Straße in Köln-R. Die Schule P-Straße erstellte jährliche Zeugnisse, in denen jeweils festgestellt wurde, dass „weiterhin sonderpädagogischer Förderbedarf im Förderschwerpunkt Geistige Entwicklung (§ 6 AOSF)“ bestand. Mit Schreiben vom 28.11.2014 beendete die Schule P-Straße das Schulverhältnis mit dem Kläger mit sofortiger Wirkung, da er das 18. Lebensjahr vollendet habe und die Schule trotz vieler Aufforderungen im letzten Schuljahr, wie in den Jahren zuvor, nur an wenigen Tagen besucht habe.

Urteilsbegründung
Die 5. Zivilkammer des Landgerichts Köln hat Nenads Klageantrag dem Grunde nach stattgegeben (wir berichteten). Dem Kläger stehe ein Anspruch auf Schadenersatz gegen das beklagte Land aus § 839 Absatz 1 Satz 1 i.V.m. Art. 34 GG zu.
Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) § 839 Haftung bei Amtspflichtverletzung: „(1) Verletzt ein Beamter vorsätzlich oder fahrlässig die ihm einem Dritten gegenüber obliegende Amtspflicht, so hat er dem Dritten den daraus entstehenden Schaden zu ersetzen.“

  • Die Amtsträgereigenschaft der auf Seiten des beklagten Landes handelnden Personen stehe außer Zweifel.
  • Die Bestimmungen des Schulrechts dienen dazu, jedem die seinen Fähigkeiten entsprechende bestmögliche Bildung zukommen zu lassen […]. Schon daraus ergebe sich zweifelsfrei, dass die diesen Bildungsanspruch konkretisierenden Normen dem Schutz des einzelnen Schülers und nicht lediglich der Allgemeinheit zu dienen bestimmt sind.
  • Allen Behörden obliege die allgemeine Pflicht zur gesetzmäßigen Verwaltung.
  • Den Bediensteten des Landes falle auch zumindest ein Fahrlässigkeitsverschulden zur Last.
  • Die Amtspflichtverletzung sei auch ursächlich für den dem Kläger entstandenen Schaden gewesen.

Das Landgericht Köln stellt der tiefergehenden Prüfung zwei Grundsätze voran:

  • Den Sachverhalt im Rahmen des Zumutbaren zu erforschen: „Jeder Amtsträger hat die Pflicht, vor einer hoheitlichen Maßnahme, die geeignet ist, einen anderen in seinen Rechten zu beeinträchtigen, den Sachverhalt im Rahmen des Zumutbaren so umfassend zu erforschen, dass die Beurteilungs- und Entscheidungsgrundlage nicht in wesentlichen Punkten zum Nachteil des Betroffenen unvollständig bleibt.“ (Bundesgerichtshof, Urteil vom 19. Mai 1988 – III ZR 32/87)
  • Rechts- und Verwaltungskenntnisse zu besitzen: „Jeder Beamte muss die für sein Amt erforderlichen Rechts- und Verwaltungskenntnisse besitzen oder sich verschaffen.“ (Bundesgerichtshof, Urteil vom 20. Februar 1992 – III ZR 188/90)
Erziehungs- und Ordnungsmaßnahmen sind in den Schulgesetzen der Länder geregelt. Foto: Shutterstock
Vor Gericht betonte die Sachverständige, dass eine erneute Überprüfung des sonderpädagogischen Förderbedarfs hätte stattfinden müssen. Foto: Shutterstock

Die Kammer steht auch auf dem Standpunkt, dass ab dem Zeitpunkt der Aufnahme des Klägers in eine nordrhein-westfälische Schule die einschlägigen Vorschriften über die Überprüfung der Fortdauer des Förderbedarfs und des Förderschwerpunktes zu beachten und gegebenenfalls entsprechend anzuwenden waren. Insofern bestimmt § 17 Absatz 1 AO-SF, dass die Klassenkonferenz bei Bedarf, mindestens einmal jährlich überprüft, ob der festgestellte Bedarf an sonderpädagogischer Unterstützung und der festgelegte Förderschwerpunkt weiterhin bestehen. Im Streitfall ist diese Vorschrift einschlägig: AO-SF (Ausbildungsordnung sonderpädagogische Förderung)

§ 17 Jährliche Überprüfung, Wechsel des Förderorts oder des Bildungsgangs
(1) Die Klassenkonferenz überprüft bei Bedarf, mindestens einmal jährlich, ob der festgestellte Bedarf an sonderpädagogischer Unterstützung und der festgelegte Förderschwerpunkt weiterhin bestehen.
(2) Ist nach Auffassung der Klassenkonferenz bei Fortbestand eines Bedarfs an sonderpädagogischer Unterstützung im bisherigen Förderschwerpunkt ein Wechsel des Förderorts oder des Bildungsgangs angebracht, lädt die Schulleiterin oder der Schulleiter die Eltern zu einem Gespräch ein und informiert die Schulaufsichtsbehörde so rechtzeitig, dass darüber vor Ablauf des Schuljahres gemäß § 16 Absatz 1 und 2 entschieden werden kann.
(3) Bei einem Wechsel des Förderorts gelten §§ 14 und 16 entsprechend. Die Schulaufsicht kann auch entscheiden, dass der Wechsel bis zu sechs Monate probeweise dauert. Diese Frist kann nicht verlängert werden.
(4) Die Vorschriften der §§ 11 und 13 der Verordnung über die Ausbildung und die Abschlussprüfungen in der Sekundarstufe I (APO-S I) über den Wechsel der Schulform in der Sekundarstufe I gelten 1. bei einem Wechsel des Förderorts nach den Absätzen 2 und 3, 2. beim Wechsel des Bildungsgangs innerhalb der besuchten Schule.
(5) Wird eine Schülerin oder ein Schüler in der Primarstufe sonderpädagogisch gefördert, entscheidet die Schulaufsichtsbehörde, ob sonderpädagogische Förderung in der Sekundarstufe I weiterhin notwendig ist. In diesem Fall schlägt sie den Eltern gemäß § 16 mindestens eine allgemeine Schule vor. Ein neues Gutachten im Sinne von § 13 Absatz 1 ist nur dann einzuholen, wenn es erforderlich ist.
(6) Wird eine Schülerin oder ein Schüler in der Primarstufe sonderpädagogisch gefördert, ohne dass ein förmliches Verfahren nach den §§ 11 bis 15 durchgeführt worden ist, empfiehlt die Schule den Eltern, bei der Anmeldung zur weiterführenden Schule den individuellen Förderplan (§ 21 Absatz 7 Satz 3) vorzulegen.

In Bezug auf das Zeugnis vom 29. Juni 2009 [näher ausgeführt in Rn 48] führt die Kammer in der Begründung aus: „Das Zeugnis zeichnet vielmehr das Bild eines unter anderem durch ungünstige familiäre Hintergrundbedingungen in seiner Bildungsentwicklung verzögerten, aber gleichwohl intellektuell zur Bewältigung der schulischen Anforderungen fähigen Kindes.“

Justiz-Hammer
Die 5. Zivilkammer des Landgerichts Köln urteilte zu Gunsten des Klägers. Foto: Thorben Wengert pixelio.de

In dieser Situation hätte es den zuständigen Bediensteten der Schule P-Straße sowie gegebenenfalls der Schulaufsichtsbehörde oblegen, den Fortbestand des sonderpädagogischen Förderbedarfs im Förderschwerpunkt Geistige Entwicklung bei dem Kläger in dem nach der AO-SF vorgeschriebenen Verfahren zu überprüfen. Dies gilt umso mehr in Ansehung der Tatsache, dass die letzte sonderpädagogische Begutachtung knapp fünf Jahre zurücklag und in ihr ausdrücklich festgehalten worden war, dass nicht zu klären war, ob es sich bei dem Kläger um eine genuine geistige Behinderung handelte, und dass eine adäquate Förderung momentan nur auf dem Niveau der Geistigbehinderten-Pädagogik erfolgen könne.

Darüber hinaus hat auch die Sachverständige Prof. Dr. T. es für unerlässlich erachtet, dass bei dem Kläger nach seinem Wechsel nach Nordrhein-Westfalen der sonderpädagogische Förderbedarf einer eingehenden Überprüfung hätte unterzogen werden müssen. Die Feststellungen der Gutachterin aus dem Jahr 2004 seien so vorsichtig formuliert gewesen, dass sie nicht mehr als Grundlage für die Fortschreibung des Förderbedarfs im Jahr 2009 dienen konnten, und die sonstigen Dokumentationen belegten diesen im Förderschwerpunkt Geistige Entwicklung gerade nicht.

Nach dem Ergebnis der durchgeführten Beweisaufnahme steht zur Überzeugung des Gerichts ebenfalls fest, dass die Entscheidung aus dem Jahr 2009, den Kläger weiterhin auf der Förderschule für geistige Entwicklung zu belassen, auf einer nicht vertretbaren Auslegung des § 5 AO-SF beruhte.

Dass bei der gebotenen Überprüfung im Jahr 2009 [Anm. d. Red.: der Schüler wechselte 2009 mit seiner Familie von Bayern nach NRW] mit Sicherheit festgestellt worden wäre, dass der Förderbedarf im Schwerpunkt Geistige Entwicklung nicht mehr bestand, hat die Sachverständige Prof. Dr. T überzeugend dargelegt. In diesem Fall hätte der Kläger zumindest auf eine Förderschule mit einem anderen Förderschwerpunkt wechseln müssen, auf welcher er – anders als im Schwerpunkt Geistige Entwicklung – einen Hauptschulabschluss hätte erwerben können. Auch hiervon geht das Gericht aufgrund des Ergebnisses der Begutachtung und insbesondere der mündlichen Ausführungen der Sachverständigen aus. Es sei „davon auszugehen, dass das intellektuelle Potenzial bei dem Kläger schon vorhanden war und es lediglich aufgrund der Fortschreibung des Förderbedarfs nicht zur Entfaltung gekommen ist“.

Persönliche Anmerkungen
Der mittlerweile 21-Jährige gibt einem Problem ein Gesicht. Nenads Fall zeigt die Fehler im System. Er ist nicht der bedauerliche Einzelfall.

Nachdem im Jahreszeugnis vom 30.07.2004 dringender sonderpädagogischer Förderbedarf festgestellt worden war, erstellte die N-Schule in C am 02.09.2004 ein sonderpädagogisches Gutachten, das auf einer Untersuchung des Klägers vom 24.07.2004 basierte.
  • Nenad und seine Familie kommen aus Serbien. Seit wann oder ob Nenad schon immer in Deutschland lebt, kann der Gerichtsentscheidung nicht entnommen werden. Leider herrscht mancherorts die „Logik“, wer nicht perfekt hochdeutsch spreche, sei dumm. Mehr als einmal ist mir begegnet, dass fehlende Deutschkenntnisse mit fehlender Intelligenz gleichgesetzt werden.
  • Nach nur fünf Monaten in der Schule und gerade einmal acht Jahre alt wurde Nenad „untersucht“. Die folgenden Fragen dürfen gestellt werden: War der Junge zu jung und erst zu kurz in der Schule, als das von „Auffälligkeiten“ gesprochen werden durfte? Kürzlich ist mir die Situation begegnet, dass Lehrkräfte schon in der ersten (!) Unterrichtswoche „Auffälligkeiten“ beim Schüler bemerkt haben wollten und schon in der zweiten (!) Unterrichtswoche ein sonderpädagogisches Überprüfungsverfahren anstießen. (Die Akte habe ich gerade aus dem Archiv geholt und die Daten nachgeschaut – ein gesundes Kind übrigens.)
  • Sonderpädagogisches Gutachten – das sind Worte auf Papier von Personen, die Sonderpädagogik studiert haben. Neben einem solchen sonderpädagogischen Gutachten kommen andere Fachrichtungen wie Ärzte, Ärzte im Gesundheitsamt, Psychiater, Psychologen und sonstige medizinische Fachkräfte meist nicht zu Wort. Das Schulgesetz NRW sieht eine Beteiligung dieser Berufsträger nicht vor, nur „sofern erforderlich“, [vgl. § 19 Absatz 5 Schulgesetz NRW: „Vorher holt sie (die Schulaufsichtsbehörde; Anm. d. Red.) ein sonderpädagogisches Gutachten sowie, sofern erforderlich, ein medizinisches Gutachten der unteren Gesundheitsbehörde ein und beteiligt die Eltern.“] Es lässt sich der Gerichtsentscheidung nicht entnehmen, ob Nenad im Kontext Beschulung jemals von Ärzten, vom Gesundheitsamt, Psychiatern, Psychologen, Schulärzten oder Schulpsychologen oder sonstigen medizinischen Fachkräften untersucht worden ist. Die Einschätzung der geistigen Behinderung ist möglicherweise nur von einer einzigen Person – der Förderschullehrkraft – getroffen worden. Ein am 02.02.2016 bei dem Kläger durchgeführter Test ergab unter anderem einen durchschnittlichen Intelligenzquotienten von 90. Es ist nur Spekulation, aber wären im Sommer 2004 oder Anfang 2009 medizinische und psychologische Fachkräfte hinzugezogen worden, wäre die durchschnittliche Intelligenz schon früher aufgefallen. Hier ist mindestens das sagenumwobene „Vier-Augen-Prinzip“ zu fordern. Lehrkräfte können aufgrund täglicher Beobachtung Hinweise auf Defizite eines Schülers/einer Schülerin geben. Den Lehrkräften spreche ich aber die Kompetenz ab, Diagnosen zu stellen. Untersuchungen haben gelernte Mediziner durchzuführen.
  • Die N-Schule, deren Lehrkraft das sonderpädagogische Gutachten erstellte, ist die Schule, die Nenad nach Feststellung der geistigen Behinderung/des Förderschwerpunkts Geistige Entwicklung zu besuchen hatte. Sonderschulen und Sonderschullehrkräfte müssen sich dem Vorwurf stellen, dass mitunter sachfremde Erwägungen eine Rolle spielen, wenn sie Schülerinnen und Schüler sonderpädagogisch begutachten. Eine mit Sonderschülern gut gefüllte Sonderschule, die bis zum (Sonderschul-) Abschluss bleiben (müssen), sichert den Arbeitsplatz der Sonderschullehrkraft. Hier ist zu fordern, dass Gutachter und späterer Sonderschullehrer keinesfalls personenidentisch sein dürfen. Die Schule, die begutachtet, muss eine andere Schule sein als die, die später beschult.
In dieser Situation hätte es den zuständigen Bediensteten der Schule P-Straße (NRW) sowie gegebenenfalls der Schulaufsichtsbehörde (NRW) oblegen, den Fortbestand des sonderpädagogischen Förderbedarfs im Förderschwerpunkt Geistige Entwicklung bei dem Kläger in dem nach der AO-SF vorgeschriebenen Verfahren zu überprüfen.
Die Klassenkonferenz überprüft bei Bedarf, mindestens einmal jährlich, ob der festgestellte Bedarf an sonderpädagogischer Unterstützung und der festgelegte Förderschwerpunkt weiterhin bestehen. (§ 17 Absatz 1 AO-SF)
  • Die Klassenkonferenz an einer Sonderschule besteht aus Sonderschullehrkräften.
    Szenario:
    Die Sonderschullehrkraft begutachtet den Schüler,
    die gleiche Sonderschullehrkraft unterrichtet den Schüler, nachdem sie bei ihm einen Förderschwerpunkt festgestellt hat,
    die wiederum gleiche Sonderschullehrkraft ist Teil der Klassenkonferenz, die überprüft, ob der festgestellte Bedarf an sonderpädagogischer Unterstützung und der festgelegte Förderschwerpunkt weiterhin bestehen.
  • Die Verordnung ist an dieser Stelle völlig unzureichend und müsste um die zwingende Beteiligung medizinisch-psychologischen Fachpersonals ergänzt werden. Besonders bei einem Schüler mit Förderschwerpunkt Geistige Entwicklung, der auf der Sonderschule noch nicht einmal einen Hauptschulabschluss erreichen kann, müssen unterschiedliche Fachrichtungen zur Überprüfung des Fortbestands herangezogen werden.
  • Im Übrigen passen hier auch die oben gemachten Ausführungen.

Wie geht es nach dem Urteil weiter?
Die Zivilkammer hat über eine Schadensersatzpflicht des Landes NRW dem Grunde nach entschieden. Zugleich hat sie einen Beweisbeschluss erlassen zu Fragen der Schadenshöhe. Eine Beweisaufnahme wird durchgeführt werden.

Sibylle Schwarz ist Rechtsanwältin bei else.schwarz, einer Kanzlei für Beamtenrecht und Bildungsrecht in Wiesbaden.

Der Fall Nenad zeigt auf: Das sonderpädagogische Verfahren bedarf einer echten Reform – ein Kommentar

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Palim
5 Jahre zuvor

Das ist die Einschätzung einer Rechtsanwältin.
Sie fordert medizinische oder psychologische Gutachten und führt aus: „wären im Sommer 2004 oder Anfang 2009 medizinische und psychologische Fachkräfte hinzugezogen worden, wäre die durchschnittliche Intelligenz schon früher aufgefallen“.
Es steht doch aber im Text, dass ein K-ABC – ein Intelligenztest! – erfolgte, der nur von ausgebildeten Personen durchgeführt werden darf, und mit einem Wert von 60 abgeschlossen wurde. Unterdurchschnittlich wird für eine Spanne von 70-84 angesetzt, alles darunter gilt als „weit unterdurchschnittlich“.
Inzwischen – 14 Jahre später – sieht die Überprüfung eines nicht-deutschsprachigen Kindes sprachunabhängige Tests, die Einbeziehung eines Sprachmittlers uvm. vor – zumindest an unserer Schule.

Die zitierte AO-SF wurde 2016 geändert. Das geforderte 2-Augen-Prinzip ist enthalten, es schreiben mindestens 2 Lehrkräfte gemeinsam das Gutachten, amtsärztliche Untersuchungen sind zu berücksichtigen.
Warum bei Kindern, die einreisen, diese nicht generell erfolgen, ist nicht klar. An unserer Schule hat dies ein Mal stattgefunden – einschließlich entsprechender Sprachmittler, wurde aber bisher nicht zur Regel erhoben. In Erstaufnahmeeinrichtungen wird sicherlich der Gesundheitszustand erhoben, von dem die Schule aber nichts erfährt.

Wirklich ärgern kann ich mich aber über folgende Bemerkung:
„Kürzlich ist mir die Situation begegnet, dass Lehrkräfte schon in der ersten (!) Unterrichtswoche „Auffälligkeiten“ beim Schüler bemerkt haben wollten und schon in der zweiten (!) Unterrichtswoche ein sonderpädagogisches Überprüfungsverfahren anstießen. “
Es mag erschreckend sein mit dem Hintergrund, dass dieses Kind anscheinend gesund war.
Aber ebenso erschreckend ist es, dass diese Überprüfungen vor der Einschulung gar nicht durchgeführt werden sollen oder dürfen, selbst wenn ein Kind augenscheinlich beeinträchtig ist, so stark, dass dies bereits in den ersten Tagen deutlich auffällt.
Kinder, die zuvor in der Frühförderung waren oder nicht schulfähig sind, werden eingeschult und sollen von da an alles schaffen, was in der Schule gefordert wird. Allgemeine Förderung ist gestrichen und spezielle Förderung oder Ansprüche sind häufig an Gutachten geknüpft.
Während man bei einem blinden oder tauben Kind die Beeinträchtigung als solche anerkennen kann, geht man bei Lernen oder Geistiger Entwicklung davon aus, dass der Eintritt in die Grundschule die Beeinträchtigung aufhebt. Warum?
Ein Kind mit einem IQ von 60 ist nicht in der Lage, die regulären Anforderungen der Grundschule umzusetzen, es benötigt spezielle Förderung und spezielles Material.
Hier gibt es aber Menschen, die sagen, dieses Material dürfe es erst erhalten, wenn der Förderbedarf offiziell festgestellt wurde – also nach 1-2 Jahren.
Das würde bedeuten, dass die Lehrkraft dieses Kind tagtäglich vor die Materialien, die in der Grundschule gebräuchlich sind, setzen müsste und dokumentieren dürfte, dass das Kind nicht in der Lage ist, damit zu arbeiten. Oder die Lehrkraft darf „individuell Fördern“, soll aber dafür Sorge tragen, dass das Kind die Klassenziele erreicht – unabhängig vom Leistungsvermögen des Kindes.

Das Schwierige am System sind nicht mangelhafte Überprüfungen oder mangelnde Diagnosefähigkeit derjenigen, die täglich mit der Inklusion zu tun haben.
Die Gutachten sind dank der Juristen inzwischen so aufwändig und zeitraubend, dass sie wasserdicht sind, ansonsten nimmt die Landesschulbehörde, die letztlich die Entscheidung trifft, diese nicht an und es gibt keine Entscheidung – also auch keinen Förderbedarf.
Im Bericht des Landesrechnungshofes Nds. stand, dass der zeitliche Aufwand für EIN Gutachten 43 Stunden umfasst. Dort steht auch, dass die Landesschulbehörde, die nach Aktenlage prüft und entscheidet, zu 98% dem Votum der Förderkommissionen (Lehrkräfte des Gutachtens, SL, Eltern) folgte.

Das wirklich Schwierige ist, dass das System keinerlei immanente Förderung hat, sodass den Kindern gar nicht geholfen werden kann.
Dabei ist unerheblich, ob das Kind NACH der Überprüfung die Schule wechselt oder nicht: in den ersten Jahren sind diese Kinder für längere Zeit in der Grundschule, BIS die Überprüfung erfolgen konnte bzw. durfte. DORT braucht es Förderung, die nicht geleistet wird, denn die Grundversorgung, in Nds. 2 Std. pro Woche pro Klasse, reicht nicht aus UND wird nicht gewährleistet.

Eine regelmäßige, reguläre Prüfung des Förderbedarfs ist in Nds. inzwischen eingesetzt: Die Grundschullehrkraft schreibt in der Regel innerhalb der 4 Jahre 2 Gutachten pro Kind – also allein dafür 86 Stunden Bürokratie und unbezahlte Mehrarbeit für keinerlei Hilfe!