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Schluss mit dem Gleichschritt: Wie wir es Schülern ermöglichen können, in ihrem eigenen Tempo zu lernen

BERLIN. Jedes Jahr verlassen rund 50.000 Jugendliche die Schule ohne Abschluss – Tendenz steigend. Zwischen 15 und 20 Prozent der 15-jährigen Schüler, so wird Deutschland von jeder PISA-Studie seit dem Jahr 2000 attestiert, verfügen kaum über die Bildungsgrundlagen, die für eine soziale und wirtschaftliche Teilhabe in der Gesellschaft notwendig sind. Hochgerechnet ist es ein Millionenheer von Kindern und Jugendlichen, das den Ansprüchen des Schulsystems nicht genügt. Die zentrale Vorgabe lautet, zu einem festgelegten Zeitpunkt X eine definierte Leistung Y zu erbringen. Warum eigentlich? Wieso dürfen Kinder nicht schneller oder langsamer lernen? Würde endlich der Binsenweisheit entsprochen, dass jedes Kind am besten in seinem eigenen Tempo lernt, ließe sich viel Schulfrust vermeiden – meint unser Gastautor, der Bildungswissenschaftler Prof. em. Manfred Bönsch.

Je heterogener die Schülerschaft ist, desto eher stößt ein Lernen im Gleichschritt an Grenzen. Foto: Shutterstock

Die Flexibilisierung des Unterrichts zugunsten unterschiedlicher Lerntempi –          Möglichkeiten vertikaler Differenzierung

Ausgang

Dass Unterricht nur erfolgreich ist, wenn er Lernern eine optimale Nutzung ihrer (Lern-)Ressourcen ermöglicht, also differenzierte Lernangebote macht, braucht nicht noch einmal begründet und erläutert zu werden (Bönsch, 2013, 3. Aufl.). Aber wenn die Unterrichtsorganisation eng getaktet ist in einer quasi endlosen Reihe von 45-Minuten-Stunden, kommen Differenzierungsansätze schnell an ihre Grenzen. Während  die horizontale Differenzierung (äußere und innere Differenzierung) recht gut entwickelt ist, stellt sich die vertikale Differenzierung immer noch als ein Problem dar, weil die Curricula, Jahrespläne, Arbeitsbücher immer zu einem bestimmten Zeitpunkt durchgearbeitet sein sollen und Leistungskontrollen in fixen Abfolgen angesetzt werden. Wenn ein Schüler nicht mithalten kann, bekommt er das schnell quittiert, obwohl sein Lerntempo vielleicht schlicht etwas langsamer ist. Wenn die Jahrgangsziele nicht erreicht werden, bleibt er eben sitzen. Die festgelegten Leistungskontrollen und die Zeugnisse ebnen Differenzierungsbemühungen schnell ein. Sie enden an den für alle gleichen „Kontrollstellen“. Dies ist das Ausgangsproblem für die folgenden Ausführungen.

Der Autor

Unser Gastautor, Prof. em. Manfred Bönsch, ist der Verfasser zahlreicher Standardwerke zum Thema Differenzierung im Unterricht. Sein Credo (und gleichzeitig Titel einer Broschüre): “Heterogenität ist Alltag – Differenzierung die Antwort”.

In der Verlagsinformation zu dem Heft heißt es: “Schulen unternehmen große Anstrengungen zur Sicherung und steten Verbesserung der Schul- und Unterrichtsqualität. Die vorliegende Broschüre unterstützt sie darin. Zwei Fragen stehen dabei im Mittelpunkt:

  • Wie kann die Beziehung zwischen Lehrenden und Lernenden im alltäglichen Unterrichtsablauf positiv und gewinnbringend gestaltet werden?
  • Wie kann das Lernen selbst in heterogenen Lerngruppen weiterentwickelt werden?

Der Autor gibt einen weit gespannten Überblick über die Formen differenzierter Lernwege und deren Ausgestaltung, immer mit dem Ziel im Blick, für jede Schülerin und jeden Schüler den optimalen Lernerfolg zu erreichen. In diesem Rahmen wird die Binnendifferenzierung systematisch entwickelt.

Hier lässt sich die Broschüre bestellen oder herunterladen (kostenpflichtig).

Weitere Werke von Manfred Bönsch zum Thema:

  • Erfolgreicheres Lernen durch Differenzierung im Unterricht, Braunschweig, 2017, 4. Aufl.
  • Intelligente Unterrichtsstrukturen, Baltmannsweiler, 2011, 5. Aufl.
  • Heterogenität und Differenzierung, Baltmannsweiler, 2018, 4. Aufl.
  • Gemeinsam verschieden lernen, Berlin, 2012
  • Produktives Lernen mit differenzierenden Unterrichtsmethoden, Braunschweig, 2013
  • Heterogenität ist der Alltag – Differenzierung ist die Antwort, Stuttgart, 2014

Flexibilisierung in vertikaler Richtung muss bedacht werden

1.     Veränderungen in der Schulorganisation (Makroperspektive)

Die Frage ist,  ob der mitunter träge Tanker „Schule“ flexibler werden könnte, um das Lernen im Gleichschritt durch unterschiedliche Lerngeschwindigkeiten zu ersetzen. Gleich bleibende Lernziele, aber unterschiedlich lange Lernwege – das wäre das Motto für Veränderungen. Folgende Gedankenstränge mögen das konkretisieren.

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1.1.         Veränderte Stufenkonzepte vom 0. Bis 13. Schuljahr

Innovative Grundschularbeit hat sich schon früh um eine veränderte Schuleingangsstufe (0. bis 2. Schuljahr) gekümmert. Den Eintritt in die Schule  flexibel zu gestalten –  mitunter mit mehreren Schuleintrittsterminen -, ihn von der sog. Schulfähigkeit unabhängig zu machen und auf unterschiedliche Entwicklungsstände einzugehen, waren dafür immer die Intentionen. Unabdingbares Konstruktionselement ist dafür altersgemischtes Lernen (Laging, 2003, 2. Aufl.). Dazu später weitere Ausführungen. Der große Thüringern Schulversuch oder auch der früher begonnene in Baden-Württemberg sind Beispiele für umfangreiche Bemühungen (Carle/Berthold, 2004).Das Verbleiben in den jeweiligen Stufen kann unterschiedlich gehandhabt werden (statt 2 Jahre beispielsweise nur 1 Jahr oder eben auch 3 Jahre).Die Organisation des Unterrichts ist dafür gut entwickelt. Weniger geklärt war immer, wie der Lehrplan gestaltet werden soll. Der Gedanke des Spiralcurriculum oder auch ein fester Plan von Unterrichtsprojekten waren in der Regel bestimmend.

1.2            Die Orientierungsstufe als Gelenkstück

Wenn es keine sechsjährige Grundschule geben kann wie in Berlin und Brandenburg, war und ist die zweijährige Orientierungsstufe (Schuljahre 5 und 6) das Gelenkstück, das zweijähriges weiteres gemeinsames Lernen und eine ruhige individuelle Entwicklung sichern kann. Im Zuge der Entwicklung der neuen Sekundarschulen wird die Orientierungsstufe erneut ein wichtiges Konstruktionselement (Bönsch, 2015), das im Übrigen einen wichtigen Vorläufer im niedersächsischen  differenzierten Mittelbau hat (Schoel, 1998 ).

1.3 Flex-Klassen

Interessant sind die Versuche, durch Flexibilität am Ende der Sekundarstufe I mehr Schülern  und Schülerinnen die Chance zum Erlangen eines Schulabschlusses zu geben. Unter dem Motto „Keiner ohne Abschluss“ werden sog. Flex-Klassen eingerichtet (8. – 10. Schuljahr), mit denen es möglich wird, unterschiedliche Zeiten zu nutzen (1 Schuljahr oder mehrere), um die eigenen Lernressourcen zu optimieren oder aber auch einfach Zeit zu gewinnen. Das Lernen mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten, das aktuell z. B. in den verregelten Bachelor-Studiengängen aktuell wird, ist ein Grundansatz für größere Flexibilität in  Lernorganisationen.

1.3           Abitur im eigenen Takt

Längst ist auch die Diskussion im Gang, das Abitur im eigenen Takt zu ermöglichen (Stöffler/Förtsch, 2014). Gemeint ist damit die Möglichkeit, in einer dreijährigen Sekundarstufe II Spielräume für Schüler und Schülerinnen zu schaffen, die es erlauben, selbst zu entscheiden, wann man welche Lernmodule  für das Abitur erbringen möchte: in zwei, drei oder auch vier Jahren. Hingewiesen wird dabei auf das Beispiel Finnlands. Dort machen die meisten ihr Abitur nach 3 Jahren. Aber 15 – 20% der Schüler brauchen vier Schuljahre, entweder weil sie ein zeitintensives Hobby oder Lernschwierigkeiten in einem oder mehreren Fächern haben oder ein breites Spektrum an Fächern für die strengen Eingangsprüfungen an den Universitäten vorweisen wollen. Auch  eine kürzere Zeit als drei Jahre ist möglich, wenn die geforderten 75 Kurse absolviert sind. Da Lerner unterschiedlich lernen, wäre das ein Weg, um jedem die Möglichkeit zu geben, seine Bildungsbiografie nach den eigenen Intentionen zu verfolgen.

Zwischenbilanz

Wenn man die Differenzierung des Lernens in vertikaler Perspektive bedenken will, sind also schulorganisatorisch genug Ansätze vorhanden, um die Lernzeit flexibler (dehnbarer) zu gestalten. Die bisher häufig recht starre Unterrichtsorganisation, die ja kein „Urgesetz“ ist,  hat prinzipiell genug Möglichkeiten, verkürzende oder verlängerte Lernwege hin zu den angebotenen Abschlüssen anzubieten. Das würde vielen helfen,  besonders denen, die aus problematischen Lebensverhältnissen kommen oder zunächst einmal Schwierigkeiten mit der Unterrichtssprache „Deutsch“ haben, ihre Wege und ihre Zeit zu bekommen, zu den Abschlüssen hin zu lernen.

2.     Veränderungen in der Unterrichtsorganisation  (Mikroperspektive)

Wenn man jetzt die Perspektive wechselt, stellt sich die Frage, welche Flexibilisierungsmöglichkeiten die  je einzelne Schule hat,  um in eigener Verantwortung die Lernmöglichkeiten zu verbessern. Man kann  auf folgende Ansatzpunkte hinweisen.

2.1 Flexible Unterrichtszeiten

Am einfachsten und in der Verfügung jedes Kollegiums ist die Veränderung der Unterrichtszeiten. Inzwischen gibt es viele Beispiele. Von der einfachen Doppelung der Unterrichtsstunden (90-Minuten-Einheiten) bis zu sehr einfallsreicher Nutzung der Unterrichtszeit mit 6o-Minuten-, 80-Minuten-Stunden oder einer Mischung von 30- und 60-Minuten Stunden gibt es viele Arrangements. Ein  Beispiel sei vorgestellt:

Der Plan sieht vor, mit vier Lernblöcken am Tag zu arbeiten. Jeder hat einen Zeitrahmen von 80 Minuten. Als Besonderheit ist an jedem Tag eine 40-minütige Lern- und Übungszeit eingebaut. Solch ein Unterrichtsplan erlaubt eine recht umfangeiche Flexibilisierung. In den 80 Minuten können die Fächer Vermittlungs- wie Selbstlernphasen planen. Die an jedem Vormittag stattfindende Lern- und Übungszeit kann mit Wochenplänen „gespeist“ werden, in die die Fächer jeweils ihre Anteile einbringen. Ist das selbstständige Lernen gut entwickelt, können die Schüler diese Phasen auch selbstständig nutzen, etwa in der Art des Daltonplans. Wenn sie z. B. Logbücher  haben, die ihnen für eine Reihe von Fächern vorgeben, was zu lernen ist – man könnte auch an Tablets denken -, können sie flexibel mit diesen Lernzeiten umgehen, in der einen Woche mehr Mathematik, in einer anderen mehr Englisch usw. Wenn das Fachraum-Prinzip  praktiziert wird, würden sie dann zu den Fachlehrern und Fachräumen gehen, für  die der aktuelle Lernbedarf besteht, und dort Lernberatung wie Lernmaterialien vorfinden. Konsequent weiter bedacht, würde dann die Frage differenzierter Leistungskontrollen in Bezug auf Termine wie Anspruchsvarianten zu bedenken sein. Das kann hier nicht verfolgt werden.

2.2  Die Fachlehrerkette  als Mobilitätsinstrument für schnelles und langsameres Lernen

Wenn die großrahmige Veränderung der Unterrichtsorganisation (noch) nicht möglich erscheint, wäre die Fachlehrerkette vielleicht ein Ansatz, der verfolgt werden könnte. Die Grundidee dabei ist, für die  Leistungsfächer Deutsch, Englisch, Mathematik) im Stundenplan sog. Bänder zu  organisieren. Englisch ist für mehrere Schuljahre immer zur gleichen Zeit am Vormittag angesetzt. Die beteiligten Lehrer und Lehrerinnen stehen für den Stoff von Quartalen oder Halbjahren bereit. Sie bilden also die Fachlehrerkette, an der die Schüler nach ihrem Lerntempo und Lernvermögen entlang lernen. Der eine ist ein schneller und guter Lerner und kann schnell vorankommen, der andere ist ein langsamer Lerner und kann sich auch Zeit lassen. Immer steht das entsprechende Lehrerangebot zur Verfügung. Ein guter Mathematiklerner könnte den Stoff der Sekundarstufe I in drei bis  vier Jahren erledigt haben, und bekäme dann Zeit für andere Fächer frei. Ein Lerner, der es schwerer hat und im 9. Schulbesuchsjahr ist, könnte ohne größere Probleme den Stoff des 7. oder 8. Schuljahres bearbeiten. Akzeleration wie Entschleunigung bekämen ihre Chance. Der Heterogenität der Schülerschaft könnte besser entsprochen werden. Eine ganz ähnliche Konstruktion  könnten die Kooperativen Gesamtschulen praktizieren, wenn sie z. B. guten Englischlernern im Realschulzug die Möglichkeit der Teilnahme am Englischunterricht des Gymnasialzuges ermöglichen würden, auch wenn er im Übrigen weiterhin Mitglied seiner Klasse im Realschulzug bleibt. Voraussetzung wäre wieder die zeitliche Gleichschaltung des Englischunterrichts in den verschiedenen Zügen.

2.3 Jahrgangsgemischte Klassen

Eine größere Veränderung bedeutet es für eine Schule, wenn sie das Jahrgangsprinzip zugunsten jahrgangsgemischter Lerngruppen aufgibt. Aus reformpädagogischen Konzepten ist  die Jahrgangsmischung seit langem bekannt. Die Jenaplanschulen nach den Ideen Peter Petersens (Petersen, 1980) sehen bekanntlich folgende Gruppierung vor:

Maria Montessori hat die Idee der jahrgangsgemischten Gruppen ebenfalls verfolgt (Montessori, 1966; Helming, 1992). Reformerisch orientierte Schulen wie z. B. die Reformschule Kassel (Röhner/Skischus/Thies, 1998) oder auch die Laborschule in Bielefeld (Thurn/Tillmann, 1997) praktizieren sie ebenfalls. Grundschulen haben sie übernommen. Die Grundgedanken sind immer:

Aber klar ist auch, dass die Veränderungen in der Unterrichtsorganisation recht  umfangreich sind. Die Curricula für jahrgangsgemischte Gruppen müssen anders organisiert werden. Die individuellen Lernfortschritte müssen gut dokumentiert werden. Gemeinsamkeit und Unterschiedlichkeit müssen  gut austariert werden. Der frühe Wechsel zur nächsten Gruppe oder das längere Verbleiben in der aktuellen Gruppe sind altersunabhängig zu gestalten.

2.4 Jahrgangsspringer und Expressklassen

Hingewiesen sei auch auf immer schon praktizierte Angebote. Das Überspringen von Jahrgangsklassen ist eine Möglichkeit. Eine Schülerin mit hoher Leistungsfähigkeit in der Breite der Schulfächer springt am Ende des 8 Schuljahres gleich in die Klasse des 10.Schuljahres. Dies wird zwar erkauft mit dem Verlust der Beziehungen zu der bisherigen Klasse, ermöglicht aber eben das schnellere Durchlaufen der Schule. Auch die dreijährige Sekundarstufe II ermöglicht Verkürzungen, weniger Verlängerungen! Immer wieder gibt es auch die Einrichtung von Expressklassen (Eilzugklassen, Schnelllernerklassen). Wenn es die Schülerzahl erlaubt,  können sie realisiert werden. Die Curricula von zwei Schuljahren werden komprimiert auf die Zeit eines Schuljahres, weil die Lernkapazitäten der teilnehmenden Schüler dies erlauben.

Fazit

Damit ist eine Reihe von Möglichkeiten der Flexibilisierung von Schule und Unterricht aufgezeigt worden. Die Ausgangsidee war, das Lernen in einer oft verfestigten Schulorganisation flexibler und damit individuell angepasster zu gestalten. Aber das soll kein Plädoyer für eine totale Individualisierung des Lernens sein. Das soziale Lernen muss stark genug bleiben. „Gemeinsam verschieden lernen“, wäre vielleicht das Motto, um Balancen zwischen zwei Grundanliegen zu finden.

Der Autor
Manfred Bönsch. Foto: privat

Manfred Bönsch, Prof. em. Dr., geb. 1935, 6 Jahre Lehrer an Grund-, Haupt- und Realschulen. Zweiitstudium mit Abschluss zum Dr. phil. Professur für Schulpädagogik zunächst an der HU Berlin, dann bis heute an der Leibniz-Universität Hannover. Zwischenzeitlich Rufe an die Universität Wuppertal und an die Universität Tübingen.

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Literatur

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