DÜSSELDROF. Der Verband Bildung und Erziehung (VBE) und das Schreibmotorik Institut befragen derzeit Lehrkräfte in Deutschland, wie gut Schülerinnen und Schüler von Hand schreiben können. Im Interview mit News4teachers sprechen der VBE-Bundesvorsitzende Udo Beckmann und die Geschäftsführerin des Schreibmotorik Instituts Dr. Marianela Diaz Meyer über ihre Beweggründe, die Umfrage zu starten. Titel der Studie: STEP 2019 („Studie über die Entwicklung, Probleme und Interventionen zum Thema Handschreiben”).
Hier geht es zur Umfrage: https://media.4teachers.de/step2019/
Was macht aus Ihrer Sicht eine gute Handschrift aus?
Marianela Diaz Meyer: Wenn wir vom Handschreiben sprechen, denken wir zuerst an die Schrift selbst. Dabei sind die Bewegungen, die zur Schrift führen, das Entscheidende. Sie nennen wir Schreibmotorik. Diese handschriftlichen Bewegungen aktivieren bestimmte Hirnareale und unterstützen dadurch nachhaltig das Lesen- und Schreibenlernen. Handschreiben spielt also eine entscheidende Rolle für die Bildung. Es gibt grundsätzlich drei Aspekte, die eine gute Handschrift ausmachen: Das sind die Lesbarkeit, das Schreibtempo und die Ausdauer.
Lesbarkeit, Herr Beckmann, ist für Lehrer ein zentrales Kriterium oder?
Udo Beckmann: Ja, mit Sicherheit ist auch für Lehrkräfte die Leserlichkeit ein Aspekt, der eine gute Handschrift ausmacht. Zweitens ist es wichtig, dass sie dem Kind leicht von der Hand geht, es möglichst unverkrampft und ausdauernd schreiben kann.
Was war für Sie der Anlass, die Umfrage unter Lehrkräften zu starten?
Beckmann: Wir haben beobachtet, dass die Lesbarkeit der Handschrift bei Schülerinnen und Schülern immer schlechter geworden ist, dass auch die Ausdauer zurückgegangen ist und Kinder beim Schreiben schneller ermüden. Aber wir engagieren uns vor allem deshalb, weil wir wissen, welche positiven Auswirkungen das Handschreiben auf die gesamten Lernfähigkeiten eines Kindes hat.
Diaz Meyer: Bei uns klagen immer wieder Lehrer und Eltern über Probleme mit dem Handschreiben in der Schule. Ein großer Teil der Kinder in Deutschland erreicht am Ende der vierten Klasse nicht den von der Kultusministerkonferenz geforderten Kompetenzstandard einer lesbaren und flüssigen Handschrift. Bereits vor drei Jahren berichteten wir über das Ausmaß dieses Problems in den Grundschulen und weiterführenden Schulen, jetzt möchten wir den aktuellen Stand erheben.
Frau Diaz Meyer, Sie haben schon in Ihrer ersten Antwort anklingen lassen, dass es für Sie beim Handschreiben um mehr geht als um eine schöne Handschrift. Warum engagieren Sie sich für das Thema?
Diaz Meyer: Handschreiben ist ein ganzheitlicher Lernprozess. Deshalb setzen wir uns vom Schreibmotorik Institut seit sechs Jahren für eine verbesserte Förderung der Handschrift ein. Uns kontaktieren häufig Lehrkräfte, die berichten, dass sie sich unzureichend auf das Unterrichten des Handschreibens vorbereitet fühlen – insbesondere, wenn Probleme auftreten. Das möchten wir ändern, indem wir Erkenntnisse aus der Forschung zum Thema Handschreiben in die Praxis überführen, etwa in Form von europäischen Projekten, Materialien wie die SMI-KompetenzSpinne oder auch Praxisberichten. Denn die Wissenschaft hat mehrfach belegt, dass Handschreiben essenziell für das Lernen und damit die Bildung ist.
Herr Beckmann, sehen Sie Handschreiben auch als ganzheitlichen Lernprozess?
Beckmann: Ich kann das in der Form weitgehend bestätigen. Durch das Handschreiben, das zeigen Studien, werden motorische Fähigkeiten gut ausgebildet, die auch Spuren im Gehirn hinterlassen. Dadurch wird gewährleistet, dass man Sachverhalte besser abspeichern kann. Schreiben hilft somit auf zwei Arten: zum einen durch die motorische Bewegung, zum anderen durch die Verarbeitung im Gehirn. Das ist auch einer der Vorteile des Handschreibens gegenüber dem Schreiben am Computer. Darüber hinaus muss ich, wenn ich mit der Hand schreibe, genauer planen und mir überlegen, was ich schreiben will und wie ich es schreiben will. Dabei wird insbesondere das logische Denken stärker geschult. Beim Schreiben entwickeln sich auf diese Weise bessere Wahrnehmungs- und Denkformen, weil ich Texte, die ich mit der Hand schreibe, durchdenken muss.
Haben Schulen und Kitas denn genug Möglichkeiten, das Handschreiben zu fördern?
Beckmann: Unser Kernproblem ist wie bei vielen Dingen, dass die Zeitressourcen für das, was an Schulen und in Kitas alles geleistet werden muss, sehr eng gesteckt sind. Vielleicht muss das Thema Schreibmotorik beziehungsweise das Thema Schreiben stärker in den Bildungsplänen verankert werden. Wenn man aber will, dass Lehrerinnen und Lehrer mehr Zeit für diese originären Aufgaben aufbringen, muss man sie entlasten, zum Beispiel durch multiprofessionelle Teams. Wie gesagt: Über allem schweben die eng begrenzten Zeitressourcen. Wenn man zusätzlich noch den Lehrermangel bedenkt, der uns zurzeit bei allen Fragen umtreibt, ist die zur Verfügung stehende Zeit in den vergangenen Jahren noch knapper geworden.
Diaz Meyer: Ich stimme Herrn Beckmann zu, die Zeit ist entscheidend. Das zeigt eine Interventionsstudie unter Erstklässlern, die das Schreibmotorik Institut zusammen mit der Universität des Saarlandes durchgeführt hat. Demnach erzielt bereits eine Stunde gezielte schreibmotorische Förderung pro Woche eine positive Wirkung. Wenn wir diese einstündige, wöchentliche Förderung einführen könnten, ließe sich bereits viel erreichen.
Also, es braucht mehr Ressourcen, mehr Lehrerstellen, multiprofessionelle Teams – ist es das, was die Politik tun kann, um das Thema Handschreiben stärker zu fördern oder gibt es noch mehr, Herr Beckmann?
Beckmann: Einen Aspekt würde ich noch ergänzen: Auch in der Lehrerausbildung sollte das Bewusstsein für die Bedeutung des Handschreibens stärker in den Vordergrund gestellt werden – gerade im Hinblick auf die große Diskussion zur Digitalisierung. Der momentane Hype vermittelt schnell den Eindruck, dass die Einführung digitaler Medien an Schulen möglichst viele Probleme lösen kann. Doch dabei darf man nicht vergessen, dass es bestimmte analoge Tätigkeiten braucht, um motorische Fähigkeiten, aber auch die Denkfähigkeit zu schulen. Analoges und digitales Lernen stehen nicht im Widerspruch, sie ergänzen sich gegenseitig.
Diaz Meyer: Das ist sehr wichtig. Im Zuge der Digitalisierung stehen immer mehr Möglichkeiten zur schriftlichen Kommunikation zur Verfügung und innerhalb eines vergleichsweise kurzen Zeitraums verändern sich dadurch die individuellen Kommunikationsgewohnheiten. Wir schreiben nicht mehr wie Jahrhunderte lang zuvor ausschließlich mit dem Stift auf Papier. Doch die digitale Technik schließt das Handschreiben nicht aus. Im Gegenteil: Aktuelle technologische Entwicklungen zeigen, wie digitale Medien das Handschreiben integrieren. Da wäre zum Beispiel das interaktive Whiteboard, Augmented Paper, Tablet und Stylus Pen. Es ändert sich das Medium, aber die Handschrift wird immer noch gebraucht.
Wäre es aber nicht schlicht konsequent, auf das Handschreiben komplett zu verzichten, wenn Erwachsene jetzt schon mehr tippen als mit der Hand zu schreiben?
Diaz Meyer: Wie Herr Beckmann bereits erwähnt hat, gibt es viele wissenschaftliche Studien, die ganz eindeutig belegen, dass das Tippen am Computer das Schreiben von Hand beim Lernen nicht ersetzen kann. Von Hand zu schreiben bedeutet, dass wir charakteristische Buchstabenformen schreiben. Der damit verbundene Bewegungsablauf wird im Gehirn verarbeitet, was wiederum das Schreiben- und Lesenlernen unterstützt. Schreibanfänger können etwa Buchstaben, die sie mit der Hand zu schreiben gelernt haben, besser erkennen. Beim Tippen handelt es sich dagegen immer um die gleiche Bewegung, egal ob ich ein A, ein S oder ein B drücke.
Beckmann: In der Pädagogik gibt es den Spruch „Lernen mit Kopf, Herz und Hand“ – und das passiert beim Handschreiben. Der Kern der Sache ist zu erkennen, dass wir das Handschreiben erhalten müssen, weil damit der Erwerb bestimmter Fähigkeiten verbunden ist, die nicht verloren gehen dürfen.
Frau Diaz Meyer, woran können Eltern erkennen, ob ihr Kind vielleicht versteckte Schwierigkeiten mit dem Handschreiben hat, obwohl es doch eine schöne Schrift hervorbringt?
Diaz Meyer: Wichtig ist in erster Linie nicht eine schöne Schrift, sondern dass ein Kind flüssig und lesbar schreiben kann. Eltern können dies in der Schule oder auch schon im Kindergarten mit der SMI-KompetenzSpinne überprüfen lassen, dem ganzheitlichen Beobachtungsinstrument, das das Schreibmotorik Institut entwickelt hat. Zu den Aspekten, die dabei beobachtet werden, gehören zum Beispiel die Bewegungen, die die Finger und das Handgelenk beim Schreiben machen, ob sie etwa verkrampfen, die Hand-Augen-Koordination, die Konzentration und Motivation des Kindes. Mit diesen Informationen können pädagogische Fachkräfte Probleme beim Handschreiben entdecken, auf die Ursachen dieser schließen und gemeinsam mit den Eltern durch gezielte Übungen Verbesserungen herbeiführen.
Zu den Ursachen der Probleme beim Handschreiben, Herr Beckmann: Ist es nicht auch so, dass heutzutage mehr Kinder mit motorischen Defiziten in die Grundschulen kommen als früher?
Beckmann: Das beobachten wir tatsächlich. Neben den motorischen Defiziten beobachten wir aber auch zunehmend Aufmerksamkeitsdefizite. Hier geht es darum, die Kinder zu motivieren, ihnen deutlich zu machen, dass es sich lohnt und dass auf sie ein Erfolgserlebnis wartet, wenn sie sich auch den Aufgaben stellen, die ihnen zunächst schwer fallen.
Diaz Meyer: Diese Probleme mit dem Handschreiben – das will ich noch abschließend anmerken – gibt es nicht nur in Deutschland, sondern auch in anderen europäischen Ländern. Denn trotz flächendeckender Schulpflicht verfügen 20 Prozent der Jugendlichen und etwa 75 Millionen Erwachsene in Europa nur über unzureichende Lese- und Schreibfertigkeiten. Deshalb fordert die Europäische Kommission einzelne Länder dringend zum Handeln auf.
Udo Beckmann und Dr. Marianela Diaz Meyer appellieren an Lehrkräfte aller Schulformen, sich an der Online-Umfrage (Zeitaufwand: 15 Minuten) zu beteiligen, um mögliche Probleme öffentlich zu machen. Die Studie trägt den Titel STEP 2019 („Studie über die Entwicklung, Probleme und Interventionen zum Thema Handschreiben”). Grundschullehrkräfte und Lehrkräfte aus weiterführenden Schulen bekommen dabei verschiedene Fragen vorgelegt, um die unterschiedlichen Entwicklungsstände ihrer Schülerinnen und Schüler zu berücksichtigen. Die Ergebnisse sollen im Frühjahr 2019 veröffentlicht werden.
Hier geht es zur Umfrage: https://media.4teachers.de/step2019/