Website-Icon News4teachers

Demokratie braucht Regeln, und die müssen junge Menschen lernen – auch Schüler, die während der Unterrichtszeit demonstrieren. Ein Kommentar

Anzeige

DÜSSELDORF. Was haben eine alarmierende Umfrage zur Demokratie in Ostdeutschland und die Freitagsdemonstrationen von Schülerinnen und Schülern für eine bessere Klimapolitik miteinander zu tun? Eine Menge, meint News4teachers-Herausgeber Andrej Priboschek. Es geht darum, die Grundprinzipien der Demokratie zu lernen.

Freitags demonstrieren Tausende von Schülern für eine schärfere Klimapolitik – wundervoll. Foto: Leonhard Lenz / Wikimedia Commons (CC0 1.0)

Eine verstörende Studie machte in der vergangenen Woche die Runde. Danach gaben lediglich 42 Prozent der Befragten in Ostdeutschland bei einer repräsentativen Umfrage des Instituts für Demoskopie Allensbach im Auftrag der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ an, dass die in Deutschland gelebte Demokratie die beste Staatsform sei. In Westdeutschland meinten dies hingegen 77 Prozent der Befragten. Auch glauben nur 50 Prozent der Ostdeutschen, aber immerhin zwei Drittel der Westdeutschen, dass Grundrechte wie die Meinungsfreiheit wirksam geschützt werden. Heißt kurzgefasst: Die meisten Menschen in Ostdeutschland misstrauen, anders als die große Mehrheit in Westdeutschland, unserem politischen System.

Wie kann das sein? Ostdeutsche haben in direkter Abfolge zwei Diktaturen zu spüren bekommen, erst die nationalsozialistische Tyrannei, dann den real existierenden Sozialismus. Wer Meinungsfreiheit im Nazi-Staat für sich reklamierte, landete in einem Schauprozess vor Freislers Gerichtshof und anschließend am Galgen. Wer in der DDR die Regierung kritisierte, fand sich zunächst in den Akten der Stasi und dann nicht selten im Gefängnis wieder. Die Zahl der in der DDR politisch Inhaftierten wird alles in allem auf rund 200.000 bis 250.000 geschätzt. Davon mal abgesehen: Wofür steht ein Staat, der seine Bevölkerung einmauert und auf Flüchtlinge schießt? Für Freiheit ja wohl kaum.

Anzeige

An den Grenzen der Bundesrepublik gibt es keine Mauer und keinen Schießbefehl – und wer seine Meinung äußert, landet im Internet, und zwar aus eigenem Antrieb, nicht vor Gericht. Das Netz ist voll von Meinungen, millionenfach, jeder gibt seinen Senf ab zu allem und jedem und keiner davon kommt ins Gefängnis. Wie kann also ein Großteil der Bevölkerung in Ostdeutschland ernsthaft meinen, dass die Meinungsfreiheit in Deutschland nicht geschützt würde? Offenbar fehlt es Menschen an politischer Bildung. Zu viele wissen schlicht nicht, was Meinungsfreiheit überhaupt bedeutet. Sie kennen die Grundprinzipien und Institutionen nicht, die die parlamentarische Demokratie in Deutschland heute ausmachen.

Was Meinungsfreiheit bedeutet – und was nicht

Meinungsfreiheit, um es mal konkret zu machen, bedeutet ja nicht, dass ich öffentlich sagen darf, was ich will, ohne dass dies Konsequenzen hätte. Zunächst mal gilt: Meine Meinungsfreiheit endet dort, wo die Würde des Gegenübers beginnt. Ich darf also niemanden beleidigen. Auch über jemanden falsche Vorwürfe zu verbreiten, ist nicht von der Meinungsfreiheit gedeckt. Ich darf zwar meinen, dass beispielsweise die Brötchen vom Bäcker XY schlecht schmecken. Auch öffentlich. Viele Menschen bewerten Produkte ja in Internet-Foren. Ich darf aber nicht ohne Beleg behaupten, dass Bäcker XY vergammeltes Mehl verarbeitet – eine solche unbewiesene „Tatsachenbehauptung“ (man könnte auch sagen: Lüge) würde mir höchstwahrscheinlich eine saftige Schadenersatzforderung einbringen.

Der Bildungsjournalist Andrej Priboschek. Foto: Tina Umlauf

Zur Meinungsfreiheit gehört darüber hinaus auch, dass nicht nur ich sie habe. Kritik an meiner Meinung ist keine Einschränkung der Meinungsfreiheit – auch das verstehen viele offenbar nicht. Wie absurd die Debatte mitunter gerät, machte unlängst der ehemalige Handballer Stefan Kretzschmar deutlich, der scheinbar in den Chor der „Es-gibt-keine-Meinungsfreiheit-in-diesem-Land“-Kritiker einstimmte und dafür viel Beifall von rechts erhielt. Er bezog sich dabei allerdings auf Profi-Sportler, denen Öffentlichkeit und Werbepartner Druck machen würden. Genau hier beginnt das Missverständnis: Wer sich (freiwillig!) zur Image-Figur eines Unternehmens machen lässt und dafür Geld bekommt, muss eben seiner Rolle entsprechen, sonst gibt’s, klar, Ärger mit dem Auftraggeber. Das gilt übrigens ähnlich auch für Beamte, die den Staat repräsentieren. Und: Wer sich öffentlich äußert, muss stets auch mit Gegenrede rechnen. Das ist eben die Meinungsfreiheit der anderen.

Zur Freiheit, das ist nunmal ein wesentlicher Punkt in der rechtsstaatlichen Demokratie, gehört immer auch die Verantwortung. Nichts was ich tue, ist folgenlos. Das müssen vor allem junge Menschen lernen. Demokratie ist komplex und vermittelt sich nicht von selbst. Vieles erschließt sich erst im praktischen Tun – und hierbei gibt es in den Schulen Defizite, im Osten offenbar mehr als im Westen. Woran das liegt, ist augenfällig: Politische Bildung wurde in der ehemaligen DDR allzu oft mit politischer Indoktrination von früher gleichgesetzt. Übervolle Lehrpläne und eine allzu starke Ausrichtung der Inhalte an ökonomisch Verwertbarem machen es Lehrern und Schülern zudem schwer, sich in Mitbestimmung und Meinungsfreiheit zu üben. Demokratisches Verständnis ist eben keine PISA-Kategorie.

Endlich melden sich mal wieder Schüler zu Wort

Umso erfreulicher, dass sich seit einigen Wochen endlich mal wieder Schüler lautstark zu Wort melden und freitags bundesweit in Demonstrationen gegen eine ihrer Meinung nach zu lasche Klimapolitik aufmarschieren. Das tun sie allerdings während der Unterrichtszeit, weil sich ein „Streik“ medial besser vermitteln lässt. Nun ist ein Streit darüber ausgebrochen, ob die Jugendlichen dafür sanktioniert werden sollen. Meine Meinung dazu: Natürlich sollten sie das! Sie nutzen ihr Recht auf Meinungsfreiheit (bravo!), verstoßen aber gegen die Schulpflicht. Das muss eben Folgen haben. Dabei sollen die Schulleitungen ja nicht gleich mit der dicken Keule kommen. Nochmal: Zur Freiheit gehört immer auch die Verantwortung, für das eigene Tun einzustehen. Das müssen Schüler lernen und deshalb auch die Konsequenzen fürs Schwänzen tragen.

Die beste Idee, die mir dazu unterkommen ist, stammt von Heinz-Peter Meidinger, dem Präsidenten des Deutschen Lehrerverbands – und selbst Leiter eines bayerischen Gymnasiums. Er lässt betroffene Schüler „nachsitzen“, genauer: Er lässt sie nachmittags eine Diskussionsrunde zur Klimapolitik organisieren. Genau so lernen Jugendliche Demokratie.

Der Beitrag wird auch auf der Facebook-Seite von News4teachers diskutiert.

Das Thema Demokratie kommt in den Schulen zu kurz – aber (Überraschung!) an der Überlastung der Lehrer liegt das nicht

 

Anzeige
Die mobile Version verlassen