MÜNCHEN. Mit Blick auf die Halbjahreszeugnisse hat der Bayerische Elternverband „ein großes Fragezeichen hinter das Bewertungssystem mit Noten“ gesetzt – und eine Debatte um die Aussagekraft von Zensuren losgetreten. Diese lieferten nur ein höchst unvollständiges Bild, hätten aber unverhältnismäßige Auswirkungen, vor allem auf den Übergang zur weiterführenden Schule. Zugleich würden sie von nicht messbaren und schwer steuerbaren Faktoren wie etwa der Beziehung zwischen Lehrkraft und Schüler massiv beeinflusst. Der Bayerische Lehrer-und Lehrerinnenverband (BLLV) sieht Noten mit gemischten Gefühlen – die praktizierte Alternative aber auch.
„Eltern messen den Noten oft eine zu große Aussagekraft bei“, bedauert Martin Löwe, Landesvorsitzender des Bayerischen Elternverbands. “Noten sagen z. B. nichts darüber aus, ob ein Kind den Inhalt des mit der Note „eins“ bestandenen Tests überhaupt noch weiß oder ob es den Stoff einer mit „sechs“ bewerteten „Ex“ vielleicht erst kurz nach dem Test verstanden hat.” Daher sollten Eltern in jedem Fall gelassen bleiben.
Löwe betont: „Kein Kind möchte schlecht in der Schule sein.“ Er rät Eltern deshalb: „Eine ruhige Durchsicht des Zeugnisses sollte erst einige Tage später erfolgen, und bei Problemen sollte man nie das Kind herabwürdigen, sondern gemeinsam mit dem Kind und der Lehrkraft einen Plan zur Verbesserung aufstellen.“
Doch nicht jedes Kind geht in Bayern mit einem Zeugnis nach Hause. Seit 2015 dürfen Grundschulen in den Jahrgangsstufen eins bis drei alternativ sogenannte Lernentwicklungsgespräche abhalten. Bei einem Lernentwicklungsgespräch tauschen sich Kind und Lehrer in Anwesenheit der Eltern über Stärken und Schwächen aus und vereinbaren Ziele. Der Lehrer dokumentiert auf einem Formular, wie gut und eigenständig das Kind verschiedene Tätigkeiten ausübt. Laut Kultusministerium haben 85 Prozent der Grundschulen im Freistaat Zwischenzeugnisse durch die Gespräche ersetzt (Stand 2017/18). Der Bayerische Elternverband hält diese Bewertungsform für gerechter. „Es wäre sinnvoll, sie auf andere Schulformen zu erweitern“, sagt die stellvertretende Landesvorsitzende Henrike Paede.
“Exzellentes Instrument” – eigentlich
Der BLLV sieht Zensuren zwar ebenfalls kritisch, ist aber auch vom Format der „Lernentwicklugnsgespräche“ nur bedingt begeistert. Noten lösten Druck und Ängste aus und würden Kompetenz nur bedingt messen, sagt auch Präsidentin Simone Fleischmann. Zwischenzeugnisse seien „ein Ritual, das überholt und fragwürdig geworden ist“. Lerngespräche hält Fleischmann für ein „exzellentes Instrument“ – eigentlich. Doch Lehrer und Schüler bräuchten mehr Zeit als die in Bayern dafür vorgesehenen maximal 30 Minuten. Dass mit den Dokumentationsbögen weiter eine Einordnung stattfindet, ist für Fleischmann ein Kompromiss. „In einem leistungsorientierten Land wie Bayern können wir den Blick nicht von heute auf morgen ändern“, sagt sie.
Die Gefahr ungerechter Bewertung verhinderten die Gespräche aber auch nicht, sagt der Würzburger Pädagogikprofessor Johannes Jung. Er hält die Gespräche verglichen mit Zeugnissen zwar für differenzierter. „Dass alles gut ist, wenn man Noten abschafft, ist aber zu kurz gedacht“, sagt er. Die Gespräche ordneten Schüler weiter in einem Raster ein. Besonders dass Kinder unterschiedliche Voraussetzungen haben – angefangen bei der Intelligenz, über den sozialen Hintergrund bis zur Atmosphäre in der Klasse – sei schwer zu berücksichtigen. „Das sorgt für permanente und nicht vermeidbare Verzerrung“, erklärt Jung. Ganz ohne Einordnung kämen Schulen nicht aus. „Unsere Gesellschaft ist auf Normierung aufgebaut“, sagt Jung. Individualität stoße zwangsläufig schnell an Grenzen.
Das Bayerische Kultusministerium will an Noten festhalten: «Lernentwicklungsgespräche können Noten nicht ersetzen. Beide Formen der Rückmeldung über den Leistungsstand sind wichtig und ergänzen sich», erklärt Minister Michael Piazolo (Freie Wähler). News4teachers / mit Material der dpa
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